§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GGNotwendiges Vorwissen:allgemeine Grundrechtslehren;VereinigungsfreiheitLernziel:Koalitionsfreiheit in den Kontext der Wirtschaftsgrundrechte einordnenFür dieses Kapitel gibt es frei zugängliche interaktive Übungen. Halte ein-fach deine Smartphone-Kamera vor den Kasten mit den Punkten (QR-Code).Die Koalitionsfreiheit in Art.9 III GG ist ein Sonderfall derallgemeinen Vereini-gungsfreiheit (Art.9 I GG). Sie gewährt das Recht, zur Wahrung und Förderungder Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Art.9 III GGist eine spezielle Ausprägung des kollektiven Grundrechtsschutzes und von gro-ßer Bedeutung für das Wirtschaftsleben. Das Grundrecht führt zu einer Rücknah-me staatlicher Regelung wirtschaftlicher Verhältnisse zugunsten der Koalitionen,die diese im Rahmen der Tarifautonomie ausfüllen.3KlausurtaktikZwar ist die Koalitionsfreiheit insbesondere in den Anfänger:innenklausuren wohl selten Prü-fungsgegenstand, sie ist jedoch mit einigen grundrechtsdogmatischen Besonderheiten verbun-den und hat prägende Bedeutung für weite Teile des Arbeitsrechts.A. SchutzbereichI. Sachlicher SchutzbereichIn seinerkollektiven Dimensionschützt Art.9 III GG eine besondere Form vonVereinigungen, die allgemein als„Koalitionen“bezeichnet werden.1Vereinigun-gen im Sinne des Art.9 III GG gleichen im Ausgangspunkt dem Vereinigungs-1So etwaBVerfG, Beschl. v.14.11.1995, Az.: 1 BvR 601/92, Rn.19 = BVerfGE 93, 352 (357f.)–Mit-gliederwerbung II; ausführlich zur Bedeutung dieser Terminologie Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG-Kommentar, 95. EL Juli 2021, Art.9 Rn.193.Open Access. © 2022 Luca Knuth, published von De Gruyter.Dieses Werk ist lizenziert untereiner Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.https://doi.org/10.1515/9783110765533-036
begriff des Art.9 I GG.2Zusätzlich müssen sie einen besonderen Zweck verfolgen:die„Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“.3Ausdieser Formulierung folgt, dass Art.9 III GG gegenüber Art.9 I GG lex specialis ist.Arbeitsbedingungensind dabei solche, die konkrete Arbeitsverhältnisse betref-fen (z.B. Lohn und Arbeitszeiten), wohingegenWirtschaftsbedingungenall-gemeinere Fragen von wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Natur sind (zumBeispiel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit).4Beispiel:Gewerkschaften und die Verbände der Arbeitgeber:innen, sowie deren Dachverbände;demgegenüber verfolgen beispielsweise Verbraucherschutzorganisationen ausschließlich einesder Ziele und sind daher keine Koalitionen.5Über den Wortlaut hinaus folgen aus dem Sinn und Zweck des Grundrechts wei-tergehende Anforderungen an Vereinigungen im Sinne des Art.9 III GG. Eine Ko-alition kann ihre grundgesetzlich vorgesehene Funktion–die Interessenvertre-tung und -durchsetzung zugunsten von Arbeitnehmer:innen oder Arbeitgeber:innen–nur dann effektiv ausfüllen, wenn sie die Gegensätzlichkeit von Arbeit-nehmer:innen- und Arbeitgeber:innenseite widerspiegelt. Dies wird durch die Kri-terien der Gegnerfreiheit6und der Gegnerunabhängigkeit7gewährleistet. Wäh-rend die Gegnerfreiheit auf personelle Überschneidungslosigkeit zielt, also ineinem Arbeitnehmer:innenverband nicht zugleich Arbeitgeber:innen Mitgliedsein können und umgekehrt, setzt die Gegnerunabhängigkeit voraus, dass derVerband einer Seite keinem beherrschenden Einfluss der anderen Seite ausgesetztist, wie es etwa der Fall wäre, wenn eine Gewerkschaft durch die Arbeitgeber:in-nenseite finanziert würde. Ein Indiz hierfür–und keine eigenständige Vorausset-zung–bildet die Überbetrieblichkeit eines Arbeitnehmer:innenverbandes.2Zum Vereinigungsbegriff vgl. das Kapitel zurallgemeinen Vereinigungsfreiheit Knuth, §20.4,in diesem Lehrbuch.3BVerfG, Beschl. v.26.6.1991, Az.: 1 BvR 779/85, Rn.32 = BVerfGE 84, 212 (223)–Aussperrung.4Ausführlich zu diesem Begriffspaar Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, 16.Aufl. 2020, Art.9Rn.34 m.w.N.5So Kingreen/Poscher, Grundrechte, 36. Auflage 2020, Rn.853.6BVerfG, Beschl. v.24.2.1999, Az.: 1 BvR 123/93, Rn.29 = BVerfGE 100, 214 (223)–Gewerk-schaftsausschluss:„Gegnerfreiheit gehört zum Wesen der durch Art.9 Abs.3 GG geschützten Ko-alitionen“.7BVerfG, Urt. v.6.5.1964, Az.: 1 BvR 79/62, Rn.31 = BVerfGE 18, 18 (28);BVerfG, Urt. v.1.3.1979,Az.: 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, Rn.206 = BVerfGE 50, 290 (373)–Mit-bestimmungsgesetz.Luca Knuth§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GG443
1Weiterführendes WissenDer einfachgesetzliche Begriff der Gewerkschaften in §2 TVG stellt zusätzlich auch auf die Tarif-fähigkeit des Arbeitnehmer:innenverbandes ab. Denn das Mittel des Tarifvertragsabschlussesbedarf einer gewissen„sozialen Mächtigkeit“des Verbandes, um die Interessen der Mitgliedergegenüber den jeweiligen Arbeitgeber:innenverbänden auch durchsetzen zu können. Daran kannes insbesondere bei geringen Mitgliederzahlen fehlen. Damit verbunden werden verschiedent-lich auch weitergehende Anforderungen an das Vorliegen einer tariffähigen Gewerkschaft ge-stellt, die sämtlich auf die Bereitschaft und Fähigkeit zur Wahrnehmung der gewerkschaftlichenAufgaben zielen. Zu nennen sind etwa die Bereitschaft zum Tarifvertragsabschluss (Tarifwillig-keit), die Fähigkeit und Bereitschaft zum Arbeitskampf und die Anerkennung der für das Verfah-ren des Tarifvertragsabschluss und den Arbeitskampf relevanten Norm.8Hierbei handelt es sichaber nicht um Anforderungen des Art.9 III GG für das Vorliegen einer Koalition. Damit ist der ein-fachrechtliche Gewerkschaftsbegriff erheblich enger gefasst. Auch ein tarifunfähiger Arbeitneh-mer:innenverband kann also Koalition im verfassungsrechtlichen Sinne sein.AlsIndividualgrundrechtder Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innenschützt die Koalitionsfreiheit dieGründungund denBeitrittzu einer Koalitionsowie diekoalitionsmäßige Betätigung. Alsnegative Koalitionsfreiheitschützt sie zugleich das Fernbleiben von und den Austritt aus einer Koalition.9Die kollektive Dimension der Koalitionsfreiheit schützt primär denBestandderKoalitionen selbst. Ein bloßer Bestandsschutz bliebe aber im Hinblick auf die inArt.9 III GG vorgesehene Funktion der Wahrung und Förderung der Arbeits- undWirtschaftsbedingungen defizitär. Geschützt sind daher grundsätzlich auch allekoalitionsspezifischen Verhaltensweisen.10Im Zentrum steht dabei die Aus-füllung des Koalitionszwecks im Rahmen derTarifautonomie, also die Herbei-führung einer konsensualen Regelung durch die sich antagonistisch gegenüber-stehenden Koalitionen.8Ausführlich zu den einfachrechtlichen Anforderungen an den Gewerkschaftsbegriff des§2TVG BAG, Beschl. v.28.3.2006, Az.: 1 ABR 58/04 = NZA 2006, 1112 (1114).9BVerfG, Urt. v.1.3.1979, Az.: 1 BvR 532/77 u.a., Rn.205 = BVerfGE 50, 290 (367)–Mitbestim-mungsgesetz; hinsichtlich der negativen Freiheit noch offenlassend BVerfG,Beschl. v.24.5.1977,Az.: 2 BvL 11/74, Rn.86 = BVerfGE 44, 322 (352)–Allgemeinverbindlicherklärung I; insofern an-nehmend aberBVerfG, Beschl. v.11.7.2006, Az.: 1 BvL 4/00, Rn.66 = BVerfGE 116, 202 (218).10BVerfG, Urt. v.11.7.2017, Az.: 1 BvR 1571/15, 132f. = BVerfGE 146, 71 (115f.)–Tarifeinheit; EineBeschränkung auf den„Kernbereich“koalitionsmäßiger Betätigungen, wie sie das BVerfG in frü-herer Rechtsprechung vertreten hat, hat es ausdrücklich aufgegeben:BVerfG, Beschl.v.14.11.1995, Az.: 1 BvR 601/92, Rn.21ff. = BVerfGE 93, 352 (359f.)–Mitgliederwerbung II.Luca Knuth444Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
3ExamenswissenArt.9 III GG nimmt die staatliche Regelungskompetenz für den Bereich der Arbeits- und Wirt-schaftsbedingungen zugunsten der Koalitionen zurück.11Mit anderen Worten: Die Tarifauto-nomie begründet einen vom Schutzbereich des Art.9 III GG statuierten Bereich kollektiver Privat-autonomie12, der auch eine Reaktion auf die strukturelle Ungleichheit zwischen Arbeitgeber:innen- und Arbeitnehmer:innenseite in Arbeitsverhältnissen ist und dazu dient, dieses sozialeSpannungsverhältnis zu befrieden.13Daher fällt nicht nur das Verfahren des Zustandekommensvon Tarifverträgen als das zentrale Instrument zur Erfüllung dieser Koalitionsaufgabe in denSchutzbereich des Art.9 III GG, sondern auch der Bestand und die Anwendung bereits abge-schlossener Tarifverträge.14Geschützt sind grundsätzlich auch die Mittel des Arbeitskampfes.15Beispiel:auf Seiten der Arbeitnehmer:innen der Streik16; auf Seiten der Arbeitgeber:innen dieAussperrung17II. Personeller SchutzbereichDie Koalitionsfreiheit ist in personeller Hinsicht gleichermaßen„Doppelgrund-recht“wie dieVereinigungsfreiheit in Art.9 I GG. Grundrechtsberechtigt sind alsonicht nur Individuen, sondern auch die Koalitionen selbst.18Hinsichtlich der indi-viduellen Dimension ergibt sich jedoch gegenüber der allgemeinen Vereinigungs-freiheit, die als Bürger:innengrundrecht ausgestaltet ist, eine Besonderheit: Wäh-11BVerfG, Beschl. v.24.5.1977, Az.: 2 BvL 11/74, Rn.57f. = BVerfGE 44, 322 (340f.)–Allgemein-verbindlicherklärung I.12Dazu ausführlich und m.w.N. Linsenmaier, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht,21.Aufl. 2021, Rn.55f.13BAG, Urt. v. 16.3.1994, Az.: 5 AZR 339/92 = BAG, NZA 1994, 937 (939); dazu auch knapp Picker,RdA 2014, 25.14BVerfG, Urt. v.11.7.2017, Az.: 1 BvR 1571/15, 131f. = BVerfGE 146, 71 (114f.)–Tarifeinheit.15BVerfG, Beschl. v.26.6.1991, Az.: 1 BvR 779/85, Rn.34f. = BVerfGE 84, 212 (225)–Aussper-rung.16BVerfG, Beschl. v.2.3.1993, Az.: 1 BvR 1213/85, Rn.43 = BVerfGE 88, 103 (114)–Streikeinsatzvon Beamten.17BVerfG, Beschl. v.26.6.1991, Az.: 1 BvR 779/85, Rn.35f. = BVerfGE 84, 212 (224f.)–Aussper-rung.18BVerfG, Beschl. v.26.6.1991, Az.: 1 BvR 779/85, Rn.33 = BVerfGE 84, 212 (224)–Aussperrung;für eine Herleitung der kollektiven Grundrechtsberechtigung über Art.19 III GG auch hinsichtlichder Koalitionsfreiheit Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9.Aufl. 2021, Art.9 Rn.69f.Luca Knuth§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GG445
rend Art.9 I GG ein sogenanntes„Deutschengrundrecht“ist, gewährleistetArt.9 III GG ein„Jedermanngrundrecht“. Eine gewisse Einschränkung folgt je-doch aus der in der Koalitionsfreiheit angelegten Differenzierung zwischen Ar-beitgeber:innen- und Arbeitnehmer:innenseite. Träger:innen des Grundrechtssind folglichalle Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innensämtlicher Beru-fe, einschließlich der Beamt:innen.19B. EingriffStaatliche Eingriffe in die Koalitionsfreiheit können sich aus Beeinträchtigungender koalitionsmäßigen Betätigungsfreiheit ergeben, zum Beispiel in Form eines–für verschiedene berufliche Tätigkeiten bestehenden–Streikverbots20oder einerBeschränkung der gewerkschaftlichen Wahlwerbung vor Personalratswahlen.21Keinen Eingriff stellt aber die Beschränkung gewerkschaftlicherWerbungvor all-gemeinen politischen Wahlen dar.22In die negative Koalitionsfreiheit wird beispielsweise auch bei einerVer-pflichtung zur Mitgliedschaftin Verbänden eingegriffen. Keinen Eingriff stelltaber der durch eine Ungleichbehandlung organisierter und nicht organisierter Ar-beitnehmer:innen erzeugte bloßfaktische Druckdar, solange er nicht so erheb-lich wird, dass er dem Zwang gleich kommt, sich einer Gewerkschaft anzuschlie-ßen.2319BVerfG, Beschl. v.26.6.1991, Az.: 1 BvR 779/85, Rn.32 = BVerfGE 84, 212 (224)–Aussperrung;BVerfG, Urt. v.12.6.2018, Az.: 2 BvR 1738/12 u.a., Rn.113 = BVerfGE 148, 296 (343)–Streikverbotfür Beamte; Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG-Kommentar, 95. EL Juli 2021, Art.9 Rn.157, derinsofern auch von einem„Menschenrecht mit besonderem sozialen Qualifikationsmerkmal“spricht (Rn.174); für ein Verständnis der Koalitionsfreiheit als Ausdruck des Sozialstaatsprinzipsvgl. Kittner, in: Denninger (Hrsg.), AK-GG, Bd.I, 3.Aufl. 2001, Art.9 Rn.26.20So etwa für Vertragsärzt:innen BSG, Urt. v. 30.11.2016, Az.: B 6 KA 38/15 R = BSG, NZS 2017,539ff.; für Lokführer:innen LAG Sachsen, Urt. v. 2.11.2007, Az.: 7 SaGa 19/07 = LAG Sachsen NZA2008, 59; für Beamt:innenBVerfG, Urt. v.12.6.2018, Az.: 2 BvR 1738/12, Rn.121 = BVerfGE 148, 296(341f.)–Streikverbot für Beamte.21BVerfG, Beschl. v.30.11.1965, Az.: 2 BvR 54/62, Rn.35 = BVerfGE 19, 303 (321)–DortmunderHauptbahnhof.22BVerfG, Beschl. v.28.4.1976, Az.: 1 BvR 71/73, Rn.19ff. = BVerfGE 42, 133 (138f.)–Wahlwer-bung.23BVerfG, Beschl. v.19.10.1966, Az.: 1 BvL 24/65, Rn.32f. = BVerfGE 20, 312 (321f.)–Tariffähig-keit von Innungen.Luca Knuth446Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
I. Staatliche Regelung im Bereich der TarifautonomieAuch in die Tarifautonomie der Koalitionen kann durch staatliche Regelungeneingegriffen werden. Die Tarifautonomie als Ausfluss der Gewährleistungen desArt.9 III GG gibt den Koalitionen zwar grundsätzlich eine Kompetenz zur Norm-setzung, schließt aber eine staatliche Regelung des Arbeitsrechts nicht pauschalaus.24Staatliche Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts greifen aber dannin die von Art.9 III GG gewährleistete Tarifautonomie ein, wenn hierdurch denKoalitionen einetarifvertragliche Regelungsmöglichkeit entzogenoder beste-hendetarifvertragliche Regelungen ausgehebeltwerden.25Beispiel:Zum Jahr 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt.26Nach§1 MiLoG gilt ei-ne gesetzliche Lohnuntergrenze, die nach §3 MiLoG nicht durch tarifvertragliche Vereinbarun-gen unterschritten werden kann. Die von Art.9 III GG gewährleistete Tarifautonomie umfasst alskollektives Grundrecht die tarifvertragliche Normsetzungskompetenz der Koalitionen. Im Zen-trum tarifvertraglicher Bestimmungen steht regelmäßig der Arbeitslohn. Indem dieser eine ge-setzliche, nicht tarifdispositive–also nicht durch die Koalitionen veränderbare–Regelung er-fährt, wird den Koalitionen die Möglichkeit der Vereinbarung eines niedrigeren Arbeitslohnesgenommen. Zudem werden bestehende Tarifverträge, die einen niedrigeren Arbeitslohn als dengesetzlichen Mindestlohn vorsehen, unwirksam. Daher greift die gesetzliche Vorgabe eines Min-destlohnes in die Koalitionsfreiheit ein.3ExamenswissenWeitere Beispiele für derartige Eingriffe in die von Art.9 III GG gewährleistete Tarifautonomie bil-den etwa die Aushebelung der tarifvertraglichen Kündigung27oder von tarifvertraglichen Vor-gaben abweichende gesetzliche Regelungen der Urlaubsanrechnung.2824BVerfG, Beschl. v.3.4.2001, Az.: 1 BvL 32/97, Rn.49 = BVerfGE 103, 293 (306)–Urlaubs-anrechnung.25Winkler, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar 7.Aufl. 2021, Art.9 Rn.172 m.w.N.26BGBl. I 2014, 1348ff.27Vgl.BVerfG, Beschl. v.21.5.1999, Az.: 1 BvL 22/98, Rn.28 = NZI 1999, 359 (Rn.18ff.).28BVerfG, Beschl. v.3.4.2001, Az.: 1 BvL 32/97, Rn.44 = BVerfGE 103, 293 (305)–Urlaubs-anrechnung.Luca Knuth§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GG447
II. AusgestaltungenDie Koalitionsfreiheit ist–wie Art.9 I GG oder Art.14 I GG–ein normgeprägtesGrundrecht. Dem Gesetzgeber kommt daher eine Ausgestaltungsbefugnis zu. EineSchwierigkeit besteht darin, im Einzelfall zwischen einfachgesetzlichen Aus-gestaltungen der Koalitionsfreiheit und Eingriffen abzugrenzen. BloßeAus-gestaltungen und damit keine Eingriffein die Koalitionsfreiheit liegen grund-sätzlich dann vor, wenn die betreffende Regelung erst die Voraussetzungendafür schafft, dass die Koalitionsfreiheit wahrgenommen werden kann.29Gleichwohl ist die gesetzgeberische Ausgestaltungsbefugnis kein Gestal-tungsraum bar jeder verfassungsrechtlichen Kontrolle. Für derartige Ausgestal-tungen besteht ein geminderter Rechtfertigungsmaßstab: Namentlich kommt esauf die Vereinbarkeit der Regelung mit dem Schutzzweck des Grundrechts unddie Verhältnismäßigkeit an.30III. DrittwirkungIn Formmittelbarer Drittwirkung erlangt Art.9 III GG insbesondere in arbeits-rechtlichen Verfahren Bedeutung.31Eine darüber hinausgehende grundrechts-dogmatische Besonderheit enthält Art.9 III 2 GG. Die Vorschrift statuiert aus-drücklich eineunmittelbareDrittwirkung, indem sie festlegt, dass Abreden, diedie Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen, nichtig, und hie-rauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig sind.3229BVerfG, Beschl. v.24.4.1996, Az.: 1 BvR 712/86, Rn.106 = BVerfGE 94, 268 (284).30Vgl.BVerfG, Urt. v.1.3.1979, Az.: 1 BvR 532/77, Rn.208 = BVerfGE 50, 290 (355); hierzu auchBauer, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3.Aufl. 2013, Art.9 Rn.52f.31Hierzu ausf. Winkler, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar 7.Aufl. 2021, Art.9,Rn.176ff. m.w.N.; grundlegend zur mittelbaren Drittwirkung Wienfort, §9, in diesem Lehrbuch.32BAG, Beschl. v. 20.4.1999, Az.: 1 ABR 72/98 = BAG, NZA 1999, 887 (890f.); BAG, NJW 2005,3019 (3021); BAG, Beschl. v. 19.9.2006, Az.: 1 ABR 2/06 BAG, NJW 2007, 622 (623); ausführlichKock, Soziales Recht 2020, 17 (24).Luca Knuth448Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
C. RechtfertigungI. EinschränkbarkeitArt.9 III GG selbst enthält keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt. Die An-wendbarkeit der Schrankenregelung des Vereinigungsverbotes aus Art.9IIGGauf die Koalitionsfreiheit ist umstritten.3ExamenswissenGegen eine Anwendung spricht insbesondere die Systematik des Art.9 GG.33Hier ist die Koaliti-onsfreiheit dem Schrankenvorbehalt des Vereinigungsverbotes nachgelagert. In der vergleich-baren Konstellation des Art.5 GG, in der die Wissenschafts- und Kunstfreiheit des Art.5 III GG aufdie Schrankentrias des Art.5 II GG systematisch nachfolgt, lehnt das BVerfG deren Anwendungab.34Demgegenüber wird für eine Anwendung der inhaltliche Zusammenhang von Vereinigungs-und Koalitionsfreiheit angeführt.35Eingriffe in die Koalitionsfreiheit können aber dann gerechtfertigt sein, wenn siedem Schutz von Grundrechten Dritter oder sonstiger Verfassungsgüter dienen.36Insofern unterliegt Art.9 III GG alsoverfassungsimmanenten Schranken. Dieswird zum Beispiel relevant im Falle von Binnenkonflikten zwischen Grundrechts-berechtigten der Koalitionsfreiheit. Besondere Bedeutung bei staatlichen Rege-lungen der Arbeitsverhältnisse kommt dabei dem in Art.20 I GG enthaltenenSo-zialstaatsprinzipsals Schranke der Koalitionsfreiheit zu.Beispiel:Voraussetzung einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs in die vonArt.9 III GG geschützte Tarifautonomie ist also zunächst, dass die Einführung eines Mindest-lohns ihrerseits Grundrechten Dritter oder sonstigen Verfassungsgütern dient. Zwar ließe sich in-sofern an das inArt.1 I GG verankerte Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum den-ken, die Festlegung einer Lohnuntergrenze dürfte den Bereich der Existenzsicherung aberüberschreiten.37Auch die bezweckte Verringerung sozialer Unterschiede und die Sicherung derfinanziellen Stabilität der sozialen Sicherungssysteme bilden jedoch mit Blick auf das Sozial-33So etwa Jarass, in: ders./Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, 16.Aufl. 2020, Art.9, Rn.52.34Vgl.BVerfG, Beschl. v.24.2.1971, Az.: 1 BvR 435/68, Rn.53f. = BVerfGE 30, 173 (193).35So Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 95. EL Juli 2021, Art.9Rn.336f. m.w.N. zum Meinungsstand.36St.Rspr.BVerfG, Beschl. v.27.4.1999, Az.: 1 BvR 2203/93, Rn.55f. = BVerfGE 100, 271.37Barczak, RdA 2014, 290 (296); Picker, RdA 2014, 24 (28 f.).Luca Knuth§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GG449
staatsprinzip des Art.20 I GG Verfassungsgüter.38Das Sozialstaatsprinzip bildet insofern alsoeine verfassungsimmanente Schranke des Art.9 III GG.393ExamenswissenEine verfassungsimmanente Schranke hat das BVerfG hinsichtlich des Streikverbots für Beamt:innen auch aus der institutionellen Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamten-tums des Art.33 V GG abgeleitet.40Zwar nahm es–wie regelmäßig bei verfassungsimmanentenEinschränkungsermächtigungen–insofern einen Gesetzesvorbehalt hinsichtlich des mit demStreikverbot verbundenen Eingriffs in die Koalitionsfreiheit der Beamt:innen an, jedoch ließ eseine Herleitung aus den einfachgesetzlichen Normen der §§33ff. BeamtStG insofern genügen.II. Grenzen der EinschränkbarkeitAuch die Einschränkbarkeit des Art.9 III GG unterliegt Grenzen. Zentrale Bedeu-tung kommt dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu. Im Hinblick aufdie Verhältnismäßigkeitsprüfung hat das BVerfG bei Eingriffen in die Tarifauto-nomie eine gewisseAbstufung des Schutzniveausvorgenommen. Besondershohe Anforderungen gelten an Eingriffe durch Regelungen, die regelmäßig durchdie Tarifparteien getroffen werden, also insbesondere hinsichtlich des Arbeitsent-gelts oder der sonstigen materiellen Arbeitsbedingungen.41Niedrigere Anfor-derungen hat es hingegen etwa hinsichtlich der zeitlichen Befristung von Arbeits-verhältnissen aufgestellt.42Beispiel:Auch hinsichtlich des Mindestlohnes kommt es also darauf an, ob die Regelung demGrundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Mit dem Arbeitslohn ist zwar ein typischer und zen-traler Regelungsgegenstand von Tarifverträgen betroffen. Der Eingriff ist jedoch auf die Fest-legung einer Lohnuntergrenze beschränkt. Die Regelung betrifft damit faktisch vor allem denNiedriglohnsektor, also einen Wirtschaftsbereich mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisati-38Vgl. auchBVerfG, Beschl. v.27.4.1999 = BVerfGE 100, 271 (284)–Lohnabstandsklauseln;BVerfG, Beschl. v.3.4.2001, Az.: 1 BvL 32/97, Rn.51 = BVerfGE 103, 293 (306f.)–Urlaubsanrech-nung; vgl. auch für die weitergehend vom Gesetzgeber angeführten RegelungszweckeBT-Drs.18/1558, 27ff.39Vgl. hierzu die ausführlichen Darstellungen von Picker, RdA 2014, 24; Zeising/Weigert, NZA2015, 15.40BVerfG, Urt. v.12.6.2018, Az.: 2 BvR 1738/12, Rn.117ff. = BVerfGE 148, 296 (344).41BVerfG, Beschl. v.3.4.2001, Az.: 1 BvL 32/97, Rn.56 = BVerfGE 103, 293 (308)–Urlaubs-anrechnung.42BVerfG, Beschl. v.24.4.1996, Az.: 1 BvR 712/86, Rn.114 = BVerfGE 94, 268 (287)–Wissen-schaftliches Personal.Luca Knuth450Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
onsgrad, in dem die kollektive Durchsetzung von Tariflöhnen deutlich geschwächt ist.43DiesemEingriff steht insbesondere das Sozialstaatsprinzip, welches einen gesetzgeberischen Gestal-tungsauftrag zum Ausgleich sozialer Ungleichheit enthält, als Verfassungsgut von hoher Bedeu-tung entgegen.44Damit ist die Regelung des Mindestlohnes verhältnismäßig.45D. Europäische und internationale BezügeDie Koalitionsfreiheit ist auch in der GRCh und der EMRK geschützt. Art.12 I GRChgewährleistet neben der Versammlungs- auch die Vereinigungsfreiheit. Der dieserzugrundeliegende weite Vereinigungsbegriff ist weitgehend parallel zu dem desArt.9 I GG zu verstehen und erfasst damit auch die Koalitionen. Besonders her-vorgehoben werden dabei die ausdrücklich genannten Gewerkschaften. Auchwenn sie nicht ausdrücklich als Koalitionsfreiheit bezeichnet wird, umfasst dieVereinigungsfreiheit des Art.12 I GRCh damit funktional auch Elemente der Koali-tionsfreiheit. Entgegen dem Anschein des Wortlautes ist nicht allein die Grün-dung von Koalitionen und der Beitritt zu ihnen, sondern ebenfalls das Fernblei-ben als negative Wirkrichtung46gewährleistet. Daneben garantiert Art.28 GRChden Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen sowie ihren jeweiligen Organisa-tionen auch ein Grundrecht auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen. Alsletztere wird insbesondere der Streik durch ausdrückliche Nennung hervorgeho-ben.3KlausurtaktikNach Art.51 GRCh gilt die Charta für die Mitgliedsstaaten ausschließlich im Anwendungsbereichdes Unionsrechts.47Da es der Union nach Art.153 V AEUV an einer Kompetenz für die Regelungdes Koalitionsrechts und damit zusammenhängender Sachmaterien mangelt, ist Art.28 GRChbislang nur geringe praktische Bedeutung zugekommen.4843Vgl. Picker, RdA 2014, 25 (27), von einem„strukturellen Versagen“der Tarifautonomie spre-chend.44BVerfG, Beschl. v.27.4.1999, Az.: 1 BvR 2203/93 u.a., Rn.59 = BVerfGE 100, 271 (284)–Lohn-abstandsklauseln.45So im Ergebnis auch Barczak, RdA 2014, 290 (298); Zeising/Weigert, NZA 2015, 15 (18); andereAnsicht Henssler, RdA 2015, 43 (46).46EuGH, Urt. v. 9.3.2006, Az.: C-499/04, Rn. 34–Werhof = Slg. 2006, 2397..47EuGH, Urt. v. 26.2.2013, Az.: C-617/10 = NJW 2013, 1415–Åkerberg Fransson.48Hierzu ausführlich Löwisch/Rieble, Grundlagen, in dies. (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 4.Aufl.2017, Rn.288ff.Luca Knuth§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GG451
Sprachlich ähnlich wie Art.12 GRCh ist auch Art.11 EMRK formuliert, wonach je-de Person das Recht hat„sich frei mit anderen zusammenzuschließen“. Auch in-sofern wird keine eigenständige Koalitionsfreiheit proklamiert, die Gewerkschaf-ten werden jedoch explizit hervorgehoben und die Koalitionsfreiheit damitebenfalls funktional von der Vereinigungsfreiheit umfasst. Eine ausdrücklicheGewährleistung der koalitionsspezifischen Tätigkeiten enthält die EMRK jedochnicht.3ExamenswissenDass das Zusammenwirken der verschiedenen Grundrechte im Mehrebenensystem des europäi-schen Grundrechtsschutzes nicht immer frei von Spannungen ist, illustriert das folgende Bei-spiel.Beispiel:Das aus Art.33 V GG abgeleitete Streikverbot für Beamte:innen hat das BVerfG unteranderem deshalb für am Maßstab des Grundgesetzes für gerechtfertigt angesehen, weil es derFunktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen und dem staatlichen Bildungs- und Er-ziehungsauftrag aus Art.7 I GG diene sowie den Gewerkschaften der Beamt:innen Beteiligungs-rechte an der gesetzlichen Regelung der Alimentation zustünden.49Problematisch ist aber, obsich dies mit der Rechtsprechung des EGMR vereinbaren lässt. Art.11 EMRK sieht dem Wortlautnach zwar nicht ausdrücklich einen Schutz des Arbeitskampfes vor, der EGMR hat einen solchenjedoch abgeleitet und auch auf Beamt:innen erstreckt.50Zwar ist Art.11 EMRK nicht vorbehaltlosgewährleistet und kann insbesondere bei Angehörigen des öffentlichen Dienstes und Beamt:in-nen durchaus eingeschränkt werden, vgl. Art.11 II EMRK. Aber ein absolutes, unterschiedslosesStreikverbot für alle Staatsbediensteten ohne Rücksicht auf darauf, ob die Betroffenen überwie-gend hoheitliche Tätigkeiten ausüben, hat der EGMR jedenfalls als unverhältnismäßig angese-hen.51Gleichwohl hat das BVerfG eine Rückwirkung im Wege der völkerrechtskonformen Aus-legung abgelehnt52und angedeutet, dass es–im Falle einer konfligierenden künftigenEntscheidung des EGMR–für eine sodann in Rede stehende völkerrechtsfreundliche Auslegungwohl keinen Raum sehe.5349BVerfG, Urt. v.12.6.2018, Az.: 2 BvR 1738/12, Rn.166ff.50Zunächst hat der EGMR in der RechtssacheDemir und Baykaradie Tarifverhandlungen als ge-schützt angesehen, EGMR, Urt. v. 12.11.2008, Az.: 34503/97 Rn.153, 157–Demir and Baykara/Tür-kei, und diesen später auch auf den Streik erstreckt: EGMR, 21.4.2009, Az.: 68959/01, Rn.24 =NZA 2010, 1423 (1424)–Enerji Yap-Yol Sen/Türkei.51EGMR, Urt. v. 21.4.2009, Az.: 68959/01, Rn.32 = NZA 2010, 1423 (1424f.) Enerji Yap-Yol Sen/Türkei.52BVerfG, Urt. v.12.6.2018, Az.: 2 BvR 1738/12, Rn.172 ff.; ganz anders noch die VorinstanzBVerwG, Urt. v. 27.2.2014, Az.: 2 C 1.13, Rn.47ff.; ausfürlich und kritisch zur Entscheidung desBVerfG: Hering, ZaöRV 2019, 241 (247ff.).53BVerfG, Urt. v.12.6.2018, Az.: 2 BvR 1738/12, Rn.172.Luca Knuth452Abschnitt 6 Einzelgrundrechte des Grundgesetzes
Zusammenfassung: Die wichtigsten Punkte–Die Koalitionsfreiheit ist, wie auch Art.9 I GG, Doppelgrundrecht.–Koalitionen heben sich durch ihren spezifischen Zweck der„Wahrung und Förderung derArbeits- und Wirtschaftsbedingungen“von sonstigen Vereinigungen ab.–Die Tarifautonomie ist von Art.9 III GG gewährleistet.–Bedeutung für ihre Einschränkbarkeit kommt insbesondere verfassungsimmanentenSchranken zu.Weiterführende Studienliteratur–Wolfgang Kluth, Die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit gem. Art.9 GG, Jura 2019,S.719–726–Ulrich Preis/Alberto Povedano Peramato, Das Arbeitskampfrecht im Überblick, Ad Legen-dum 2018, S.157–163Dieses Kapitel darf gerne kommentiert, verändert und beliebig genutzt wer-den. Jeder Link in der PDF-Version des Textes führt zur Überarbeitungsmög-lichkeit bei der Plattform Wikibooks. Eine konkrete Anleitung zur Mitarbeit& Weiternutzung findet sichauf unserer Homepage | ebenfalls über den ab-gebildeten QR-Code mit der Smartphone-Kamera erreichbar.Luca Knuth§ 21.3 Koalitionsfreiheit–Art.9 III GG453