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Aufarbeitung, Erinnerung, Gedenken: Die NS-Vergangenheit und die deutsche Gesellschaft

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[Band 1] Die Zukunft der Erinnerung
Ein Kapitel aus dem Buch [Band 1] Die Zukunft der Erinnerung
Tobias FreimüllerAufarbeitung, Erinnerung, Gedenken:Die NS-Vergangenheit und die deutscheGesellschaftDie Frage nach derZukunft der Erinnerungan den Nationalsozialismus wirdin den letzten Jahren immer häufiger gestellt. Die Sorge, die dabei meist mit-schwingt, richtet sich auf den endgültigen Abschied von denZeitzeugen, aufden immer weiter wachsenden zeitlichen Abstand zum historischen Gesche-henund sie wird befördert durch aktuelle politische und gesellschaftlicheEntwicklungen. Eine rechtspopulistische Partei sitzt nicht nur in allen Landes-parlamenten, sondern auch im Bundestag, selbsternanntePatriotische Europä-erdemonstrieren in vielen deutschen Städten regelmäßig gegen eine angeblichdrohendeIslamisierung des Abendlandes(Pegida) und eine ganze Reiherassistisch und antisemitisch motivierter Mordanschläge offenbaren eine neueQualität des Rechtsradikalismus in Deutschland. Vor diesem Hintergrund sindsorgenvolle Fragen nicht überraschend. Steht die deutsche Gesellschaft an einererinnerungs- und vergangenheitspolitischen Schwelle? Ist dieErinnerungskul-turbedroht und entschwindet die Geschichte von Nationalsozialismus und Ho-locaust aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein?Implizit oder explizit liegt solchen Fragen oft die Annahme zugrunde, dassdie Deutschen nach 1945 zwar nicht sofort, aber immerhin nach einiger Zeit ei-nen Weg derAufarbeitungundBewältigungder NS-Vergangenheit be-schritten haben, der allen Problemen und Defiziten ungeachtet am Ende dochals Erfolgsgeschichte anzusehen sei. Kein Volk der Welt, so heißt es oft, habesich derart intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt wie dieDeutschen. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus sei zum festen Bestand-teil deutschen Selbstverständnisses geworden, das Bewusstsein für die histori-sche Verpflichtung drückt sich nicht nur in der nicht abreißenden öffentlichenund wissenschaftlichen Diskussion über die NS-Vergangenheit aus, sondernauch in zahllosen Museen, Mahnmalen und Gedenkstätten. Diese Präsenz derGeschichte desDritten Reicheserscheint rückblickend oftmals als ein Nor-malzustand kritischerErinnerungskultur, der seit den 1960er-Jahren, seitAchtundsechzig, seit den 1980er-Jahrenjedenfalls seit Jahrzehnten erreichtworden sei und der nun bedroht sei.Blickt man allerdings genauer auf die verschiedenen Phasen des Umgangsmit der NS-Vergangenheit seit 1945, dann fällt es schwer, eine solche Erfolgsge-https://doi.org/10.1515/9783110710601-003
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Tobias FreimüllerAufarbeitung, Erinnerung, Gedenken:Die NS-Vergangenheit und die deutscheGesellschaftDie Frage nach derZukunft der Erinnerungan den Nationalsozialismus wirdin den letzten Jahren immer häufiger gestellt. Die Sorge, die dabei meist mit-schwingt, richtet sich auf den endgültigen Abschied von denZeitzeugen, aufden immer weiter wachsenden zeitlichen Abstand zum historischen Gesche-henund sie wird befördert durch aktuelle politische und gesellschaftlicheEntwicklungen. Eine rechtspopulistische Partei sitzt nicht nur in allen Landes-parlamenten, sondern auch im Bundestag, selbsternanntePatriotische Europä-erdemonstrieren in vielen deutschen Städten regelmäßig gegen eine angeblichdrohendeIslamisierung des Abendlandes(Pegida) und eine ganze Reiherassistisch und antisemitisch motivierter Mordanschläge offenbaren eine neueQualität des Rechtsradikalismus in Deutschland. Vor diesem Hintergrund sindsorgenvolle Fragen nicht überraschend. Steht die deutsche Gesellschaft an einererinnerungs- und vergangenheitspolitischen Schwelle? Ist dieErinnerungskul-turbedroht und entschwindet die Geschichte von Nationalsozialismus und Ho-locaust aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein?Implizit oder explizit liegt solchen Fragen oft die Annahme zugrunde, dassdie Deutschen nach 1945 zwar nicht sofort, aber immerhin nach einiger Zeit ei-nen Weg derAufarbeitungundBewältigungder NS-Vergangenheit be-schritten haben, der allen Problemen und Defiziten ungeachtet am Ende dochals Erfolgsgeschichte anzusehen sei. Kein Volk der Welt, so heißt es oft, habesich derart intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt wie dieDeutschen. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus sei zum festen Bestand-teil deutschen Selbstverständnisses geworden, das Bewusstsein für die histori-sche Verpflichtung drückt sich nicht nur in der nicht abreißenden öffentlichenund wissenschaftlichen Diskussion über die NS-Vergangenheit aus, sondernauch in zahllosen Museen, Mahnmalen und Gedenkstätten. Diese Präsenz derGeschichte desDritten Reicheserscheint rückblickend oftmals als ein Nor-malzustand kritischerErinnerungskultur, der seit den 1960er-Jahren, seitAchtundsechzig, seit den 1980er-Jahrenjedenfalls seit Jahrzehnten erreichtworden sei und der nun bedroht sei.Blickt man allerdings genauer auf die verschiedenen Phasen des Umgangsmit der NS-Vergangenheit seit 1945, dann fällt es schwer, eine solche Erfolgsge-https://doi.org/10.1515/9783110710601-003
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