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2 (Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski)

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Das deutschsprachige Bildgedicht
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https://doi.org/10.1515/9783110700732-0172(Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski) Wer sich nach 1945 literarisch mit Rembrandt auseinandersetzte oder Gedichte über den Künstler schrieb, ging in gewisser Hinsicht ein Wagnis ein. Denn Rem-brandt war nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch belastet. Das lag natürlich nicht am Künstler, seinem Leben oder Werk selbst, sondern an der vor allem mit dem Namen Julius Langbehn verbundenen völkisch-nationalistischen, in späte-ren Auflagen seines Bestsellers Rembrandt als Erzieher (1890) auch von rassi-schen Tönen geprägten Vereinnahmung des Niederländers auf breiter Front. Da-bei erfuhr der Leser über Rembrandt in Langbehns Buch nur relativ wenig und fast gar nichts über einzelne Werke, sondern sah sich mit einem massenhaft ge-lesenen und rezipierten Buch konfrontiert, das wilhelminisch-nationalistischen Genie- und Personenkult, ästhetisches Sendungsbewusstsein und germanisch-rassisches Künstlerideal an dem niederländischen Künstler durchexerzierte.55 Es scheint kein Zufall zu sein, dass gleich mehrere Autoren wie Gottfried Benn und Johannes Bobrowski sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit dem alten Rembrandt und seinem Werk ab 1650 auseinandersetzten: War doch gerade das Spätwerk des niederländischen Künstlers von der bildkünstlerischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert oft genug als Vorreiter und prophetischer Stichwort-geber einer neuen Ästhetik gedeutet worden, das aufgrund der pastosen, der Farbe ihr Eigenrecht einräumenden Malweise und experimentellen, unkonventi-onellen Maltechniken Identifikationsmöglichkeiten sowohl mit der expressionis-tischen Malerei als auch den Abstraktionstendenzen bot, wie sie die Bildende || 55 Vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München u.a. 1996, S. 94–113, hier S. 102–110; Stefan Breuer: Konservatismus oder Existentialis-mus? Anmerkungen zu Rembrandt als Erzieher. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Kon-servatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann Frankfurt am Main 2007, S. 127–147; Johannes G. Pankau: Wege zurück. Zur Entwicklungsgeschichte res-taurativen Denkens im Kaiserreich. Eine Untersuchung kulturkritischer und deutschkundlicher Ideologiebildung. Frankfurt am Main, Bern, New York 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 717), hier S. 106–194; Johannes Stückelberger: Rem-brandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. München 1996, S. 47–53.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

https://doi.org/10.1515/9783110700732-0172(Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski) Wer sich nach 1945 literarisch mit Rembrandt auseinandersetzte oder Gedichte über den Künstler schrieb, ging in gewisser Hinsicht ein Wagnis ein. Denn Rem-brandt war nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch belastet. Das lag natürlich nicht am Künstler, seinem Leben oder Werk selbst, sondern an der vor allem mit dem Namen Julius Langbehn verbundenen völkisch-nationalistischen, in späte-ren Auflagen seines Bestsellers Rembrandt als Erzieher (1890) auch von rassi-schen Tönen geprägten Vereinnahmung des Niederländers auf breiter Front. Da-bei erfuhr der Leser über Rembrandt in Langbehns Buch nur relativ wenig und fast gar nichts über einzelne Werke, sondern sah sich mit einem massenhaft ge-lesenen und rezipierten Buch konfrontiert, das wilhelminisch-nationalistischen Genie- und Personenkult, ästhetisches Sendungsbewusstsein und germanisch-rassisches Künstlerideal an dem niederländischen Künstler durchexerzierte.55 Es scheint kein Zufall zu sein, dass gleich mehrere Autoren wie Gottfried Benn und Johannes Bobrowski sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit dem alten Rembrandt und seinem Werk ab 1650 auseinandersetzten: War doch gerade das Spätwerk des niederländischen Künstlers von der bildkünstlerischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert oft genug als Vorreiter und prophetischer Stichwort-geber einer neuen Ästhetik gedeutet worden, das aufgrund der pastosen, der Farbe ihr Eigenrecht einräumenden Malweise und experimentellen, unkonventi-onellen Maltechniken Identifikationsmöglichkeiten sowohl mit der expressionis-tischen Malerei als auch den Abstraktionstendenzen bot, wie sie die Bildende || 55 Vgl. Bernd Behrendt: August Julius Langbehn, der „Rembrandtdeutsche“. In: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Hg. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. München u.a. 1996, S. 94–113, hier S. 102–110; Stefan Breuer: Konservatismus oder Existentialis-mus? Anmerkungen zu Rembrandt als Erzieher. In: „Nichts als die Schönheit“. Ästhetischer Kon-servatismus um 1900. Hg. von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann Frankfurt am Main 2007, S. 127–147; Johannes G. Pankau: Wege zurück. Zur Entwicklungsgeschichte res-taurativen Denkens im Kaiserreich. Eine Untersuchung kulturkritischer und deutschkundlicher Ideologiebildung. Frankfurt am Main, Bern, New York 1983 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 717), hier S. 106–194; Johannes Stückelberger: Rem-brandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900. München 1996, S. 47–53.
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Chapters in this book

  1. Frontmatter I
  2. Vorwort V
  3. Inhalt VII
  4. Teil I: Einleitung
  5. 1 Konkurrenzen und Allianzen: Text-Bild- Beziehungen in literaturgeschichtlicher Sicht 1
  6. 2 Historische Theorie des Bildgedichts und Forschungsstand 11
  7. 3 (Kunst-)Wissen, Bildwahrnehmung und Intermedialität 22
  8. 4 Vorgehensweise und Quellenauswahl 37
  9. Teil II: Zwischen Künstlerkult und Antikebegeisterung im späten 19. Jahrhundert
  10. 1 Geschmacksideale und imaginäre Museen. Ein Querschnitt 47
  11. 2 „Allerdeutschester Künstler der Vergangenheit“. Dürerkult, Nationalismus und Regionalismus zwischen Kulturnation und Machtstaat: Hermann Lingg, Martin Greif und Heinrich Vierordt 62
  12. 3 „Allerdeutschester Künstler der Gegenwart“: Theodor Fontane, Adolph von Menzel und die preußische Geschichte 94
  13. 4 Neue Zeit und alte Götter. Antike Skulpturen in Gedichten des späten 19. Jahrhunderts: Martin Greif, Heinrich Vierordt, Emanuel Geibel, Gottfried Keller, Paul Heyse, Adolf Pichler, Hermann Lingg und Conrad Ferdinand Meyer 117
  14. 5 Heroenkult und künstlerische Selbstvergewisserung. Michelangelo, Raffael und die italienische Renaissance im Gedicht: Julius Hübner und Conrad Ferdinand Meyer 174
  15. Teil III: Vom Künstlerheros zum Einzelkunstwerk. Individualisierung des Kunstgeschmacks und ästhetische Standortbestimmung um 1900
  16. 1 Kontinuität und Wandel: Literarischer Böcklin-Kult um 1900 und der ‚Fall Böcklin‘ 209
  17. 2 Vom Kunstwerk zur Dichtkunst. Poetische Standortbestimmungen zwischen Ästhetizismus und Expressionismus (1895–1913) 298
  18. Teil IV: Pluralisierung der Kunstbetrachtung zwischen Nationalismus und Distanz: Kunst für das Volk, religiöse Emphase, Parodie und Kritik (1914–1945)
  19. 1 Propaganda, Trost und Warnung: Kriegsdeutung, Kriegsbewältigung, ideologische Aufrüstung und Sinnstiftung durch die Kunst (1914–1945) 395
  20. 2 Religiöse Besinnung, kontemplativer Rückzug und politische Bilanz nach den Kriegen: Lyrische Deutung von christlicher Malerei (1918–1945) 463
  21. 3 Parodie, Sachlichkeit und Künstler-Kritik: Bildgedichte zur Zeit der Weimarer Republik (Robert Walser, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht) 538
  22. 4 Die Rückkehr der Heroen und künstlerischer Führer-Dienst? Michelangelo und Rembrandt im Dienste der Ideologie (Josef Weinheber, Hans Friedrich Blunck, Agnes Miegel) 588
  23. Teil V: Das geteilte Bewusstsein: Geistige Neuorientierung, humanistisches Erbe und politische Aktualisierung. Bildgedichte nach 1945 in Ost und West
  24. 1 Alte Künstler, neue Republiken und vergessene Avantgarde: Tendenzen in Gedichten zu Künstlern und Kunstwerken nach 1945 621
  25. 2 (Neu-)Ordnung und späte Leiden: Rembrandt im Gedicht nach 1945 (Gottfried Benn und Johannes Bobrowski) 645
  26. 3 Antifaschismus, Neubeginn und Gesellschaftskritik in der DDR 665
  27. Teil VI: Ausblick
  28. Intermediale Allianzen nach 1968 705
  29. Literaturverzeichnis 713
  30. Bildquellennachweis 773
  31. Personenregister 781
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