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Kofman über E. T. A. Hoffmann

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Handbuch Literatur & Philosophie
Ein Kapitel aus dem Buch Handbuch Literatur & Philosophie
Kofman über E. T. A. HoffmannJudith KasperDie französische Philosophin und Schriftstellerin Sarah Kofman entwickelt das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur als Doppelung: Wiederholung, Spiegelung und Doppelgängertum. Weder die Philosophie noch die Literatur können von sich behaupten, zuerst dagewesen zu sein. Es gibt keine Rangfolge, keine Unter- oder Überordnung. Für Kofman sind beide ineinander und jede für sich verstrickt in einen radikal mimetischen Prozess: Abbildungsvorgänge und Ähnlichkeitsverhältnisse stehen im Zeichen der unaufhebbaren, unheimlichen Verwechslung zwischen ‚Originalʻ und ‚Abbildʻ. In dieser unheimlichen Nähe, in der Philosophie und Literatur zueinander stehen, wird die philosophisch-kritische Annäherung an Literatur zu einer Art Mimikry. Kofman reflektiert dies und führt es zugleich vor. Das Motiv des Doppelgängers, das für Hoffmanns Werk so wichtig ist, bleibt mithin in Kofmans Lektüren nicht auf dieses beschränkt, sondern wandert als Dynamik in ihr Verhältnis zu Hoffmann selbst sowie in das-jenige zwischen ihr und Nietzsche, Freud und Derrida ein.Während sie sich an Freud und Nietzsche mimetisch anschmiegt, um sich umso dezidierter an diesen Vaterfiguren abzuarbeiten, ist ihr Verhältnis zu dem nur vier Jahre älteren Derrida seit Ende der 1960er Jahre gekennzeichnet durch eine stimulierend-unbequeme Nähe. In Derrida lesen bezeichnet sie Derridaals „unheimliche[n]“ Philosophen (Kofman 2000, 9)  – das Attribut schreibt ihn explizit in die Hoffmann’sche Erzählwelt ein, aus der für Freud und Kofman das ‚Unheimlicheʻ generiert wird. Benannt ist damit das unheimliche Spiegelungs-verhältnis, in dem Kofman selbst in Bezug auf Derrida befangen ist. Schon früh nimmt sie Konzepte wie greffe (Derrida 1995), itération (Derrida 1988) und phar-makon (Derrida 1995) auf (→ II.4 Geisenhanslüke). Sie benennen jeweils eine Übertragung, die sich im Zusammenspiel von Wiederholung und Ansteckung vollzieht. Wenn die Schreibweise genau dies ausagiert, wird Kofman gleichsam zur Wiedergängerin Derridas.Auch Hoffmann ist kein Autor unter anderen, über den Kofman schreibt, sondern eher eine Maske: Seine Figuren und Textstrategien (die Herausgeberfik-tionen, das Rhapsodische, das Unheimliche der Verdoppelung) werden für sie zu Denkfiguren, die ihr Werk über die Beschäftigung mit Hoffmann hinaus prägen und mit denen indirekt die traumatische Geschichte des eigenen Überlebens umkreist wird. Vor dem Hintergrund, dass ihr Vater deportiert und in Auschwitz getötet wurde, dass sie selbst um den Preis der Entfremdung von der Mutter und den jüdischen Bräuchen überlebte, mag die Spiegelung des Familiennamens Kofman mit Hoffmann besonders unheimlich erscheinen. Der „entsetzliche[  ] https://doi.org/10.1515/9783110484823-051
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Kofman über E. T. A. HoffmannJudith KasperDie französische Philosophin und Schriftstellerin Sarah Kofman entwickelt das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur als Doppelung: Wiederholung, Spiegelung und Doppelgängertum. Weder die Philosophie noch die Literatur können von sich behaupten, zuerst dagewesen zu sein. Es gibt keine Rangfolge, keine Unter- oder Überordnung. Für Kofman sind beide ineinander und jede für sich verstrickt in einen radikal mimetischen Prozess: Abbildungsvorgänge und Ähnlichkeitsverhältnisse stehen im Zeichen der unaufhebbaren, unheimlichen Verwechslung zwischen ‚Originalʻ und ‚Abbildʻ. In dieser unheimlichen Nähe, in der Philosophie und Literatur zueinander stehen, wird die philosophisch-kritische Annäherung an Literatur zu einer Art Mimikry. Kofman reflektiert dies und führt es zugleich vor. Das Motiv des Doppelgängers, das für Hoffmanns Werk so wichtig ist, bleibt mithin in Kofmans Lektüren nicht auf dieses beschränkt, sondern wandert als Dynamik in ihr Verhältnis zu Hoffmann selbst sowie in das-jenige zwischen ihr und Nietzsche, Freud und Derrida ein.Während sie sich an Freud und Nietzsche mimetisch anschmiegt, um sich umso dezidierter an diesen Vaterfiguren abzuarbeiten, ist ihr Verhältnis zu dem nur vier Jahre älteren Derrida seit Ende der 1960er Jahre gekennzeichnet durch eine stimulierend-unbequeme Nähe. In Derrida lesen bezeichnet sie Derridaals „unheimliche[n]“ Philosophen (Kofman 2000, 9)  – das Attribut schreibt ihn explizit in die Hoffmann’sche Erzählwelt ein, aus der für Freud und Kofman das ‚Unheimlicheʻ generiert wird. Benannt ist damit das unheimliche Spiegelungs-verhältnis, in dem Kofman selbst in Bezug auf Derrida befangen ist. Schon früh nimmt sie Konzepte wie greffe (Derrida 1995), itération (Derrida 1988) und phar-makon (Derrida 1995) auf (→ II.4 Geisenhanslüke). Sie benennen jeweils eine Übertragung, die sich im Zusammenspiel von Wiederholung und Ansteckung vollzieht. Wenn die Schreibweise genau dies ausagiert, wird Kofman gleichsam zur Wiedergängerin Derridas.Auch Hoffmann ist kein Autor unter anderen, über den Kofman schreibt, sondern eher eine Maske: Seine Figuren und Textstrategien (die Herausgeberfik-tionen, das Rhapsodische, das Unheimliche der Verdoppelung) werden für sie zu Denkfiguren, die ihr Werk über die Beschäftigung mit Hoffmann hinaus prägen und mit denen indirekt die traumatische Geschichte des eigenen Überlebens umkreist wird. Vor dem Hintergrund, dass ihr Vater deportiert und in Auschwitz getötet wurde, dass sie selbst um den Preis der Entfremdung von der Mutter und den jüdischen Bräuchen überlebte, mag die Spiegelung des Familiennamens Kofman mit Hoffmann besonders unheimlich erscheinen. Der „entsetzliche[  ] https://doi.org/10.1515/9783110484823-051
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Kapitel in diesem Buch

  1. Frontmatter I
  2. Inhaltsverzeichnis V
  3. I Einleitung
  4. I.1 Vorbemerkung 1
  5. I.2 Literatur und Philosophie: Urszenen, Konstellationen, Anekdoten und Bilder 7
  6. I.3 Grenzräume – Grenzverhandlungen. Überlegungen zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Literatur 24
  7. II Philosophie der Literatur
  8. II.1 Affektivität und sinnliche Erkenntnis
  9. Einleitung 41
  10. Psyche und Wahrheit 44
  11. Das neue Verhältnis von Vernunft und Sinnen: Ästhetik 54
  12. Die Literatur und die Lüste: Phänomenologie der Sinne und die Frage nach der Erkenntnisfunktion von Lachen, Komik, Lust und Begehren 63
  13. II.2 Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit, Fiktion
  14. Einleitung 72
  15. Konzepte dichterischen Erfindens 75
  16. Fiktion und hypothetisches Sprechen. Im Modus des Als-ob 84
  17. Imagination und Imaginäres 93
  18. II.3 Rhetorik und Poetik
  19. Einleitung 103
  20. Kunstlehren des Sprechens und Denkens – Aristoteles, Cicero, Quintilian 106
  21. Regelpoetik oder Genie 115
  22. Metapher, Metaphorizität, Figurativität 125
  23. Rhetorik als literarische und kulturelle Praxis 137
  24. II.4 Literatur und Vernunftkritik
  25. Einleitung 146
  26. Philosophische Kritik und literarische Performanz 149
  27. Sprachphilosophie und Ontologie: Heidegger 160
  28. Arbeit am Begriff und begriffslose Synthesis: Kritische Theorie 166
  29. Literatur als Gegendiskurs 171
  30. II.5 Literatur und Wissen
  31. Einleitung 180
  32. Literatur im System der Künste und Wissenschaften 183
  33. Naturphilosophie, Wissenspoetik und Literatur um 1800 194
  34. Hermeneutik der Literatur – literarische Hermeneutik 203
  35. Der Erkenntniswert der Literatur 209
  36. II.6 Literatur und Ethik
  37. Einleitung 218
  38. Reinigung der Affekte: Katharsiskonzepte der Literatur 221
  39. Ethik und Autonomieästhetik 229
  40. Literatur und Ethik 238
  41. II.7 Literatur und gesellschaftliche Praxis
  42. Einleitung 248
  43. Literatur als Spiegel der Gesellschaft? Marxistische Positionen der Literaturtheorie 251
  44. Politik der Literatur und ihre politische Ohnmacht: Herbert Marcuse 261
  45. Literatur als gesellschaftliches Teilsystem und literarisches Feld 269
  46. Ökologische Philosophie und Literatur 279
  47. III Literarische Formen der Philosophie
  48. III.1 Dialog 291
  49. III.2 Brief 305
  50. III.3 Autobiographie 320
  51. III.4 Roman 334
  52. III.5 Essay 349
  53. III.6 Utopie und das Utopische 363
  54. III.7 Tragödie und das Tragische 376
  55. III.8 Aphorismus 389
  56. III.9 Denkbild 401
  57. IV Konstellationen
  58. IV.1 Philosophie über Literatur
  59. Aristoteles über Sophokles 417
  60. Hegel über Goethe 423
  61. Heidegger über Hölderlin 428
  62. Szondi über Celan 433
  63. Foucault über Roussel 438
  64. Derrida über Kafka 443
  65. Kofman über E. T. A. Hoffmann 448
  66. Nussbaum über Henry James 453
  67. IV.2 Philosophie als Literatur – Literatur als Philosophie
  68. Konfuzius: Gespräche 458
  69. Epikur: Briefe 463
  70. Montaigne: Les Essais 468
  71. Descartes: Meditationen 474
  72. Nietzsche: Aphorismen 479
  73. Amīn ar-Rīḥānī: Romane 486
  74. Wittgenstein: Tractatus 492
  75. María Zambrano: Dichtungen 497
  76. IV.3 Philosophie in der Literatur
  77. Dante: Divina Commedia (Göttliche Komödie) 502
  78. Cervantes: Don Quijote 507
  79. Shakespeare: Hamlet 512
  80. Calderón: La vida es sueño (Das Leben ist Traum) 517
  81. Milton: Paradise Lost (Das verlorene Paradies) 524
  82. Kleist: Michael Kohlhaas 529
  83. Dostoevskij: Prestuplenie i nakazanie (Schuld und Sühne) 535
  84. Proust: À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) 540
  85. Beckett: Fin de partie (Endspiel) 545
  86. Sartre: La Nausée (Der Ekel) 550
  87. Primo Levi: I sommersi e i salvati (Die Untergegangenen und die Geretteten) 555
  88. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands 561
  89. W. G. Sebald: Austerlitz 566
  90. V Auswahlbibliographie 571
  91. VI Register 593
  92. VII Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 611
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