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Angenommene, vorgetäuschte und eigentliche Normenkonflikte bei der Waldnutzung im 19. Jahrhundert

  • Jonathan Sperber
Published/Copyright: June 7, 2010
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Historische Zeitschrift
From the journal Volume 290 Issue 03

Zusammenfassung

Die Waldnutzung war eine bedeutende Quelle sozialen Konflikts während des 19. Jahrhunderts im ländlichen Deutschland. Auseinandersetzungen zwischen Bauern, Waldeigentümern und der Staatsbehörde erreichten einen Höhepunkt im Vormärz und in der Revolution 1848, setzten sich jedoch bis zum Ersten Weltkrieg fort. Sowohl Zeitgenossen als auch Historiker haben solche Konflikte als Ergebnis normativer Modernisierung verstanden: aus der Durchführung neuer, kapitalistischer Rechtsnormen gegen ein bäuerliches, vorkapitalistisches Eigentumsverständnis beziehungsweise aus der Einführung einer auf Nachhaltigkeit gebauten wissenschaftlichen Forstwirtschaft bei traditionellen, aber ökologisch fragwürdigen bäuerlichen Einstellungen zur Waldnutzung. Die Untersuchung einer großen Auseinandersetzung um Waldbenutzung und Waldbesitz in der Rheinpfalz auf der Grundlage zivilgerichtlicher Akten ergibt, daß die Deutung der Waldnutzungskonflikte als Ergebnis normativer Modernisierung unzureichend ist. Die Zeitgenossen haben zwar die Waldkonflikte als Auseinandersetzung zwischen modernen und traditionellen Normen dargestellt. Eine nähere Untersuchung zeigt jedoch, daß „traditionelle“ Waldnutzungsnormen das Ergebnis der neuen Theorien der Historischen Rechtsschule waren; daß Bauern vorkapitalistische Waldnutzungsberechtigungen für einen großangelegten kapitalistischen Holzverkauf ausbeuteten; daß wissenschaftliche Förster „traditionelle“ Waldnutzungspraktiken befürworteten, um eine wissenschaftliche Forstwirtschaft durchzuführen. Die Konflikte um die Nutzung der Wälder erscheinen daher nicht so sehr als Auseinandersetzung zwischen Anhängern alter und neuer Normen, sondern als Gelegenheit, den normativen Wandel kreativ zu inszenieren, um die eigenen Interessen zu bewahren und durchzusetzen.

Abstract

Forest use was a major source of social conflict in rural Germany during the nineteenth century. Clashes between peasants, forest owners and government officials, reached a high point before and during the revolution of 1848, but continued until the First World War. Such conflicts are often understood as a result of normative modernization, typically either as the imposition of new capitalist, legal norms on peasants′ pre-capitalist understandings of property, or the implementation of scientific forestry, with its norm of sustainable forest use, against peasants′ traditional but environmentally questionable attitudes. In an empirical study of a large-scale forest conflict in the nineteenth century Palatinate, based on extensive civil court records, this essay argues that neither interpretation is entirely correct. While contemporaries often represented forest conflict as a clash between modern and traditional norms, a closer examination shows that “traditional” forest use customs were the result of new theories of the Historical School of Law; that peasants used their pre-capitalist forest usage rights for the eminently capitalist, large-scale sale of wood and other forest resources; and that scientific foresters endorsed traditional customs to implement their principles of forest use. Rather than a clash between adherents of modern and traditional norms, forest use conflict appears as an occasion in which different parties could use creatively their representations of normative change to advance their own interests, a conclusion with, potentially broader application to the study of the structures of nineteenth century German society and contemporaries′ representations of the normative content of these structures.

Published Online: 2010-06-07
Published in Print: 2010-06

© by Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, Germany

Downloaded on 6.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1524/hzhz.2010.0023/pdf
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