Home Galanterie und Kolonialismus im Zeitalter Watteaus
Article Open Access

Galanterie und Kolonialismus im Zeitalter Watteaus

  • Marlen Schneider

    Marlen Schneider ist Maître de Conférences für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der Université Grenoble Alpes und Wissenschaftlerin im Laboratoire de Recherche Historique Rhône-Alpes. Zu ihren Publikationen zählen u. a. Bildnis – Maske – Galanterie: Das portrait historié zwischen Grand Siècle und Zeitalter der Aufklärung, Berlin/München 2018 (in französischer Übersetzung 2020 in Paris erschienen als »Belle comme Vénus«: Le portrait historié entre Grand Siècle et Lumières), sowie gemeinsam mit Thomas Kirchner und Sophie Raux L’art de l’Ancien Régime: Sortir du rang!, Heidelberg 2022.

    EMAIL logo
Published/Copyright: August 30, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Reviewed Publication:

Guichard Charlotte, Watteau – kolonial: Herrschaft, Handel und Galanterie im Frankreich der Régence / Colonial Watteau: Empire, Commerce and Galanterie in Regency France Hg. vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag, 2023, 128 Seiten, 35 Farbabbildungen, € 16,90, ISBN: 978-3-422–99046-3


Kaum ein anderes Gemälde des 18. Jahrhunderts hat mehr Autoren beschäftigt als Antoine Watteaus Pilgerfahrt zur Insel Kythera. 1717 als Aufnahmestück für die Pariser Académie royale de peinture et de sculpture geschaffen, gilt es als Prototyp der fête galante und hatte einen solchen Erfolg, dass Watteau es in einer leicht erweiterten Fassung noch einmal für den Kunstsammler Jean de Jullienne malte, die nach mehreren Stationen schließlich für Friedrich II. von Preußen erworben wurde und sich noch heute im Berliner Schloss Charlottenburg befindet. Norbert Elias bezeichnete dieses Gemälde als »Utopie nach dem Geschmack eines vorwiegend höfischaristokratischen Publikums« und zeigte auf, wie das Bild auch für Generationen lange nach seiner Entstehung zur Projektionsfläche für »gesellschaftliche Wunschträume« werden konnte.[1] Ob auf einer melancholischen Grundstimmung insistierend oder sinnliche, mitunter erotische Dimensionen aufspürend – alle Autoren, von Michael Levey über Jutta Held bis hin zu Kirsten Dickhaut und Etienne Jollet, um nur einige wenige zu zitieren, sind sich darin einig, dass es sich bei Watteaus Auseinandersetzung mit Kythera um Darstellungen unterschiedlichster Vorstellungen von Liebe handelt.[2]

Nun hat sich auch Charlotte Guichard in ihrem jüngsten, auf Deutsch und Englisch publizierten Buch mit dem Gemälde und seinem Entstehungskontext auseinandergesetzt. Im Rahmen einer Panofsky-Professur am Zentralinstitut für Kunstgeschichte hatte sie Gelegenheit, bislang vernachlässigte Aspekte von Watteaus Schaffen zu erforschen und der umfangreichen Forschungsliteratur zum Trotz überraschend neue Lesarten eines seiner Hauptwerke aufzuzeigen. Aufbauend auf ihrer umfassenden Kenntnis des Pariser Kunstmarkts des 18. Jahrhunderts,[3] zeichnet Guichard die Verbindungslinien von Watteau und dessen Umkreis, insbesondere seiner Sammler und Händler, zur Wirtschafts- und Kolonialgeschichte der Zeit nach. Statt der seit den Brüdern Goncourt weit verbreiteten schwärmerischen Rhetorik zu folgen, die Watteau und seinem Œuvre eine entrückende, oft sogar zeitlose Ästhetik attestiert, erhalten der Künstler und seine Pilgerfahrt bei Guichard ganz präzise, im historischen Geschehen der 1710er Jahre verankerte Konturen, die zugleich den auf Paris zentrierten Blick bisheriger Interpretationen hinter sich lassen. Wie der Untertitel des Bandes ankündigt, zeigt die Autorin das Spannungsfeld zwischen Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaftsstrukturen auf, das in seinem Gemälde widerhallt und in dem er selbst aktiv war. Anhand meist übersehener Bilddokumente von und um Watteau sowie einer aufmerksamen Analyse seines Netzwerks wird sein Interesse an aktuellen sozialen und politischen Fragen herausgearbeitet, die sich im Zuge der noch jungen Kolonialisierung Nordamerikas durch die französische Krone und der neu entwickelten transatlantischen Handels-beziehungen stellten. So war Watteau Aktionär und Investor der Mississippi-Kompanie und kannte deren Direktor John Law persönlich – Umstände, die Guichard für ein besseres Verständnis seines künstlerischen Schaffens ins Auge fasst.

Das entscheidende Argument des Bandes liegt darin, diese Auseinandersetzung Watteaus mit dem Kolonialismus unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Ideals der Galanterie zu verstehen. Dies eröffnet verschiedene Deutungsmöglichkeiten: Zum einen wird durch den Galanterie-Begriff der imaginäre Charakter der kolonialen Vorstellungen im Frankreich Watteaus greifbar. Weder der Künstler noch seine Förderer und Kollegen waren jemals in die Kolonien gereist, vielmehr zirkulierten »Fantasien von Reisen und kolonialen Eroberungen«, die sich in Form von Kunstwerken wie der Pilgerfahrt »visuell materialisierte[n]« (22). Was laut Guichard bei Watteau – und anderen Künstlern – zu sehen ist, sind die tatsächlich erlebbaren Momente der kolonialen Beziehungen, vor Anker gehende Schiffe und an- oder abfahrende Reisende mitunter exotischer Herkunft, verbunden mit Anhaltspunkten des eigenen kulturellen Horizonts und phantastischen Elementen. Hier knüpft die Autorin an Mary D. Sheriffs Überlegungen zur Omnipräsenz von Enchanted Islands in der französischen Kunst, Literatur und Gesellschaft des 18. Jahrhunderts an,[4] die anhand des Insel-Topos die Verhandlung grundsätzlicher Dichotomien der Zeit analysiert, solche geschlechtlicher (Maskulinität – Femininität), identitärer (französisch – fremd) oder moralischer (Pflicht – lasterhaftes Vergnügen) Natur.

Zum anderen geht Guichards Diskussion der Galanterie als kulturelles Phänomen über den von Sheriff behandelten Rahmen hinaus, denn sie fragt »nach der Rolle einer Ästhetik der Galanterie und des Handels in der kolonialen Imagination« (32). Diese Annäherung des Galanteriekonzepts an historische Auffassungen von Handel ist zentral und lässt sich aus zeitgenössischen Quellen ableiten, die beide Begriffe als Kommunikationsmodelle definieren. Während die Galanterie in erster Linie geschlechtsspezifische Verhaltens- und Kommunikationsformen umfasst, bezieht sich der commerce auf geschäftliche, aber eben auch im weiteren Sinne auf gesellschaftliche Beziehungen. Galante Kommunikation – commerce de galanterie –, so zeigt die Autorin, war ein für das Verständnis geschlechtlicher, aber auch interkultureller Begegnungen grundlegendes Denkmodell, wodurch die heute befremdlich erscheinende starke Präsenz galanter Ästhetik in Darstellungen der französischen Kolonien zu erklären ist. Das bisherige, häufig wenig scharf umrissene Verständnis von Galanterie zur Zeit Watteaus erfährt bei Guichard in Anlehnung an Alain Viala eine entscheidende Präzision und Erweiterung,[5] indem sie galante Kultur als strukturierendes Prinzip der Gesellschaft im frühen 18. Jahrhundert begreift.

Es handelt sich also bei weitem nicht nur um ein Buch über Watteaus Pilgerfahrt, sondern ebenso über den zeitgeschichtlichen kolonialen Kontext, in dem das Gemälde entstanden ist. Die Verbindung von Galanterie und Kolonialismus wird sowohl in Werken der bildenden Kunst als auch in Theaterstücken wie Arlequin sauvage, Opernballetten wie Les Indes galantes oder auch in der erzählenden Literatur ausgemacht. Insbesondere in diesem Punkt auf Sheriffs Analysen aufbauend, die bereits die Rolle des Insel-Topos – und insbesondere der Liebesinsel Cythère – für die rhetorische Legitimation kolonialistischer Ansprüche Frankreichs unterstrich,[6] erläutert Guichard eingehend die Nutzbarmachung galanter Diskurse für die Visualisierung der Autorität des Königs und der politischen sowie kulturellen Ambitionen Frankreichs in Übersee. Anhand verschiedener Bildquellen wird die politische Nutzbarmachung des harmonischfriedlichen Grundtons aufgezeigt, der durch die Visualisierung galant-höflicher Verhaltenscodes im kolonialen Setting erreicht wird, aber auch das – wenngleich verhaltene – gesellschaftskritische Potential solcher Bilder. Während auf der einen Seite das »Kolonialprojekt« Frankreichs durch die Darstellung freundschaftlicher, ja mitunter liebevoller Interaktionen von Kolonisten und Kolonisierten positiv beworben werden konnte (38), klingen in manchen von Guichard diskutierten Beispielen auch die Schattenseiten der Reisen gen Übersee an, so etwa die Zwangsauswanderung von Frauen nach Amerika, die seit den 1660er Jahren praktiziert wurde.

Von Watteaus Beschäftigung mit dem Thema ausgehend, interessiert sich die Autorin für die Genese der bildlichen Darstellungen der Kolonien sowie für die Gründe und Funktionen der jeweils gewählten Bildrhetorik. Watteaus Werke werden in diesen Kontext eingebettet, auf den sie sich ikonografisch und formell beziehen, und bilden zugleich den strukturellen Rahmen des Bandes. Seine Faszination für das Sujet der Schiffsreise und die häufig in der älteren Literatur als rêveriebezeichnete formelle und inhaltliche Unbestimmtheit in seinen Bildern werden nachvollziehbar, evozieren sie doch, so Guichard, die imaginierten, aber nicht durch eigene Anschauung bekannten fernen Kolonien. Sie geraten zur Projektionsfläche kolonialer Fantasien, zum »Gegenort« im Sinne eines Foucaultschen espace autre (60).

Neben den vier im Zusammenhang mit der Pilgerfahrt entstandenen »maritimen fêtes galantes« (20) werden auch zwei Stiche nach Watteau für die Argumentation herangezogen, Bon voyage und Abreise zur Insel Kythera. Die verschiedenen Versionen von Watteaus Gemälde, darunter eine neu entdeckte und bei Guichard erstmals publizierte Fassung mit dezidiert orientalistischen Elementen, bezeugen »eine Entwicklung und Bestätigung der kolonialen Imagination« (58). Diese zeige sich zunächst in der frühesten Fassung in europäisch-antiken Traditionen wurzelnd, dann in der neu entdeckten Version in die fernöstliche Fremde ausweichend, um schließlich in jener vollendeten Vision einer aufbruchsbereiten Expedition in die Kolonien zu kulminieren, die sich für Guichard in der Berliner Fassung des Gemäldes manifestiert. Auch wenn die Lektüre dieser Bilder vor dem kolonialen Hintergrund sehr überzeugend und erhellend ist, scheint es sinnvoll, diese sehr zugespitzte Darstellung ihrer Genese angesichts der gut belegten Vorliebe Watteaus für Variationen zu nuancieren. Nicht nur das Thema der Einoder Ausschiffung, sondern auch viele andere gesellschaftlich relevante Topoi und Praktiken wurden von Watteau immer wieder durchdekliniert und in unterschiedlichsten Kombinationen neu vor Augen geführt. Der Vorschlag einer thematischen Hierarchisierung der Watteauschen Auseinandersetzung mit kolonialen Bildwelten verliert gerade durch eines der Hauptargumente von Guichards Buch an Überzeugungskraft: Das entscheidende Charakteristikum und das Potential der Pilgerfahrt liegen in ihrer ästhetischen und geografischen Indeterminiertheit, die Watteau durch die verschiedenen Versionen mit ihren sich wandelnden kulturellen Referenzen und abgestuften Konkretisierungen unterstreicht.

Auch andere Hauptwerke der Régence und Aspekte der Kolonialgeschichte Frankreichs werden von Guichard in den Blick genommen. So ist ein ganzer Abschnitt dem kolonialen Handel gewidmet, der eine eindringliche Visualisierung in Form eines allegorischen Deckengemäldes in der Banque royale erhalten hat. Auch hier spielte galante Ästhetik eine wesentliche Rolle, wenn die dargestellte freundschaftliche Umarmung von Seine und Mississippi von spielenden Kindern, aber auch von Venus und Neptun flankiert wird (68), zugleich galant und maritim konnotierten Gottheiten. Guichards detaillierte Analyse der Ikonografie und der Bildsprache des von Giovanni Pellegrini entworfenen Deckengemäldes und ähnlicher Projekte, die den Betrachter durch visuelles Vergnügen positiv gegenüber den kolonialen Handel stimmen sollten, führt eindrucksvoll vor Augen, wie das im 18. Jahrhundert verbreitete wirtschaftstheoretische Prinzip des doux commerce künstlerisch umgesetzt wurde. Galante Ästhetik, so lässt sich resümieren, trug in verschiedensten Bildmedien wesentlich zur Rechtfertigungsrhetorik für die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien und den Herrschaftsanspruch der Kolonisten bei. Darstellungen von Frieden, freundschaftlichen Interaktionen und zivilisatorischem Fortschritt, die dem Publikum zu Hause präsentiert wurden, verharmlosten, ja leugneten die von Gewalt und Unterdrückung geprägten Übergriffe der Europäer auf den weit entlegenen Kontinenten. Insofern füllten die idealisierten, in galante mythologische oder allegorische Sphären entrückten künstlerischen Darstellungen des frühen 18. Jahrhunderts eine durch Unkenntnis der tatsächlichen Topografie und Lebenswirklichkeit der Kolonien bedingte visuelle Leerstelle, trugen aber gleichzeitig zur Propaganda für das wirtschaftliche und politische Projekt der Kolonialmacht Frankreich bei. Bezeichnenderweise ist das einzige, ausdrücklich koloniekritische Bildbeispiel, das von Guichard besprochen wird, ein in Amsterdam – und nicht in Paris – verlegter Kupferstich, der weit entfernt von galanten Codes die Brutalität der französischen Kolonisten sowie menschliche Ausbeutung zum Thema hat (82).

Durch die Unterscheidung von offiziellen Werken, die von der Regierung bzw. für öffentliche Kontexte angeregt wurden, und Gemälden für private Sammler und kunstimmanente Zwecke, wie Watteaus morceau de réception, gelingt es Guichard verschiedene Ebenen der Visualisierung und Auseinandersetzung mit Frankreichs Kolonialpolitik zu identifizieren. Ein großes Verdienst des Buches ist beispielsweise, auf die kolonialen Verflechtungen des Kunstmarktes und seiner Akteure während der Régence aufmerksam zu machen, stark geprägt durch eine neue Elite, »die ihre soziale Macht durch Investitionen in den Fernhandel und die Kolonien erwarb« (72). Auf diese Weise trägt die Autorin entscheidend zu einer Neubewertung der politischen und wirtschaftlichen Spannungsfelder französischer Kunst des langen 18. Jahrhunderts bei, wie sie ähnlich auch in den jüngsten Publikationen von Philippe Bordes oder Meredith Martin und Gillian Weiss unternommen wurde.[7] Aber auch das bereits viel besprochene Meisterwerk Watteaus gewinnt durch die Annäherung an koloniale Zusammenhänge eine weitere Dimension, die zu seiner Komplexität beiträgt und ihm angesichts historischer wie aktueller gesellschaftlicher Debatten neue Bedeutung verleiht. Eine wesentliche Leistung des Bandes ist es schließlich – und gerade in diesem Punkt bieten sich viele Anknüpfungsmöglichkeiten für weitere kunsthistorische Forschungen –, den Galanteriebegriff des frühen 18. Jahrhunderts nicht auf gesellschaftliche Diskurse über höfische Liebe zu reduzieren, sondern ihn mit grundlegenden Mechanismen zwischenmenschlicher Kommunikation und Kulturtechniken zu verbinden und im Kontext politischer Legitimierungsstrategien zu verstehen.

About the author

Marlen Schneider

Marlen Schneider ist Maître de Conférences für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der Université Grenoble Alpes und Wissenschaftlerin im Laboratoire de Recherche Historique Rhône-Alpes. Zu ihren Publikationen zählen u. a. Bildnis – Maske – Galanterie: Das portrait historié zwischen Grand Siècle und Zeitalter der Aufklärung, Berlin/München 2018 (in französischer Übersetzung 2020 in Paris erschienen als »Belle comme Vénus«: Le portrait historié entre Grand Siècle et Lumières), sowie gemeinsam mit Thomas Kirchner und Sophie Raux L’art de l’Ancien Régime: Sortir du rang!, Heidelberg 2022.

Published Online: 2024-08-30
Published in Print: 2024-09-25

© 2024 Marlen Schneider, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Downloaded on 9.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2024-3007/html
Scroll to top button