I. Thema und Forschungsgegenstand
Zwischen 1941 und 1944 stellten verfolgte Juden im Ghetto Łódź heimlich eine Chronik zusammen, in der tausende von Einträgen über Alltagserfahrungen, Lebensverhältnisse und Hoffnungen der anfangs rund 160.000 Frauen, Männer und Kinder berichteten, die dort gefangen saßen.[1] Damit widersetzten sie sich der deutschen Besatzungsmacht, die nicht nur die jüdische Bevölkerung, sondern auch sämtliche Erinnerung an sie erklärtermaßen „auslöschen“ wollte. Diese Chronik enthält die besonders interessante Kolumne „Man hört, man spricht“. Den wild kursierenden Gerüchten gewidmet, die im Ghetto zirkulierten, fasste die Kolumne die unzähligen informellen Informationen, Vermutungen und (Falsch-)Nachrichten zusammen, auf die die jüdische Gemeinde angewiesen war.[2] Gewaltsam aus ihrem gewohnten kommunikativen Umfeld gerissen und von offiziellen, nachprüfbaren Informationen abgeschnitten, war sie nun auf Gerüchte angewiesen, um sich über neue Gesetze, die Verfügbarkeit von Lebensmitteln oder das Schicksal der Deportierten zu informieren.
Die Chronik des Ghettos Łódź ist in vieler Hinsicht so einzigartig wie es die Erfahrungen der Menschen sind, die hier leben mussten, aber sie gibt Zeugnis von einer Situation, die sich in diesen Jahren unzählige Male wiederholte, als sich geschätzt 200 Millionen Menschen unter deutscher Besatzung befanden.[3] In eine Situation gezwungen, in der Gewalt, Zensur und Propaganda vorherige mediale Öffentlichkeiten zerstörten, in der das vertraute soziale Umfeld zusammenbrach und gewohnte Kommunikationskanäle versiegten, kam es darauf an, alternative Informationsquellen zu suchen. Nicht selten griffen die Menschen dabei auf das „älteste Massenmedium der Welt“ zurück: das Gerücht.[4]
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des seit Juni 2019 am Institut für Zeitgeschichte München‒Berlin (IfZ) durchgeführten Forschungsprojekts „‚Man hört, man spricht‘: Informal Communication and Information ‚From Below‘ in Nazi Europe“ (INFOCOM) untersuchen die Interaktion zwischen offizieller, staatlich-gelenkter Kommunikation „von oben“ und der Produktion, Verarbeitung und Interpretation informeller Informationen „von unten“ im Deutschen Reich und in den von Deutschland besetzten Gebieten Europas.[5]
Inspiriert von kulturgeschichtlichen Ansätzen, den Medienwissenschaften und historisch-anthropologischen Perspektiven auf Phänomene wie Gewalt und Krieg geht es in diesem Projekt darum, Kommunikationsräume und -praktiken „von unten“ zu erforschen wie zum Beispiel Gerüchte. Damit stehen innovative Fragen und das Ziel im Mittelpunkt, eine moderne, transnationale Geschichte der Kommunikation in der NS-Zeit zu etablieren. Wie konstruierten Menschen zwischen 1933 und 1945 Wissen, „Wahrheit“ und „Realität“ in einem diskursiven Umfeld, das von Zensur, staatlicher Propaganda und autoritärer Rhetorik geprägt war? Was sagen uns informelle Informationen über Praktiken der Inklusion und Exklusion, Geschlechterbeziehungen, ethnische Kategorisierungen oder über Zuweisung und Ausübung von Macht in einer Gesellschaft? Wie eruieren wir das Zusammenspiel von Gesellschaft und Subjektivität, von konstruierten Wirklichkeiten und individuellem oder kollektivem Handlungsvermögen?
Diese Fragen verfolgt das auf fünf Jahre angelegte und von Caroline Mezger (IfZ) geleitete Projekt, das die Leibniz-Gemeinschaft im Rahmen des Programms „Leibniz Beste Köpfe – Junior Research Groups“ fördert. Das Projekt ist multidisziplinär, transnational sowie vergleichend angelegt und beruht auf der Überzeugung, dass Forschungen über informelle Formen der Kommunikation zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zu Information und Wissen in spezifischen sozialen Umständen und Ausnahmesituationen führen. Darüber hinaus ermöglichen sie neue Einblicke in das Zusammenspiel von offizieller und inoffizieller Kommunikation unter den Bedingungen von Diktatur, Krieg und Besatzungsherrschaft.
II. Historiografischer Hintergrund und Erkenntnisinteresse
Dabei baut das Projekt auf verschiedenen historiografischen Traditionen und Forschungsfeldern auf. Seit gut einem Jahrhundert beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dezidiert mit Kommunikationsformen wie dem Gerücht, Klatsch und Tratsch oder Hörensagen. Die einschlägigen Studien befassen sich überwiegend mit der informellen Kommunikation als Spiegelbild sozialer Verhältnisse, Mentalitäten und Verhaltensmuster. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive nahm die Erforschung von Kommunikationsformen wie dem Gerücht 1921 mit einem Aufsatz Marc Blochs ihren Anfang. Von seinen eigenen Erfahrungen als Offizier im Ersten Weltkrieg inspiriert beschrieb Bloch, wie in Situationen der Gewalt, Unsicherheit und Erschöpfung Falschnachrichten und Gerüchte grassierten. Diese seien keine einfachen, individuellen Missverständnisse, sondern ein kollektives Phänomen, das immer schon vorhandenen „kollektiven Vorstellungen“ (répresentations collectives) entspringe.[6] Wie andere französische Historiker aus der Tradition der Annales[7] sah Bloch daher das Gerücht als Spiegel kollektiver Interaktionen, Weltvorstellungen und Wahrheitskonstruktionen.
Trotz dieser frühen Blüte geschichtswissenschaftlicher Studien zu Gerüchten wurde dieses Thema in den folgenden Jahrzehnten vor allem von Soziologen, Politologen und Psychologen behandelt – und das vor allem während des Zweiten Weltkriegs. Ob das nationalsozialistische Deutschland, die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten oder Großbritannien – überall etablierten Staaten und Behörden Überwachungsmechanismen, um Informationen über die moralische Verfassung der Bevölkerung zu gewinnen und um Gerüchten nachzuspüren, deren subversives Potenzial es einzudämmen und zu lenken galt. In den USA entsprangen aus diesen kriegsbedingten Analysen, die sowohl vom Office of War Information als auch von privaten Rumor Clinics durchgeführt wurden, bald Studien zum Gerücht, die noch jahrzehntelang die Basis weiterer Forschungen bilden sollten.[8] So publizierten Wissenschaftler wie Robert H. Knapp, Gordon W. Allport und Leo Postman ab Mitte der 1940er Jahre psychologische Studien zu Gerüchten und deren Verwandten wie Mythen, Legenden, Klatsch und Humor und hoben ihre besondere Bedeutung in Kriegs- und Krisensituationen hervor.[9] Neben Informationen zu den Hintergründen von Gerüchten und anderen Varianten informeller Kommunikation enthielten diese Studien Ratschläge zu ihrer Bekämpfung und Analysen über ihre Charakteristika. Kriegsbedingungen seien ein besonders fruchtbarer Nährboden für Gerüchte. Einerseits förderten staatliche Zensur und Propaganda ein Informationsbedürfnis, das scheinbar nur durch informelle Kanäle gestillt werden konnte, andererseits schufen soziale Umwälzungen und Krisensituationen eine Gefühlslage, in der Falschnachrichten und Gerüchte wichtige emotionale Bedürfnisse zu befriedigen schienen.[10] Dennoch hielt man Klatsch und Gerüchte für nicht ungefährlich: So erkannten schon Allport und Postmann, dass Gerüchte „das Virus von Feindseligkeiten und Hass gegenüber Subgruppen einer Nation“ streuen könnten.[11]
Es war nicht zuletzt Tamotsu Shibutani, der diese Charakteristika des Gerüchts Jahre später zusammenfassend analysierte. Seine eigenen Erfahrungen der Internierung von Menschen japanischer Herkunft in den USA während des Zweiten Weltkriegs inspirierten den Soziologen 1966 zu seinem Buch „Improvised News. A Sociological Study of Rumor“. Shibutani definierte Gerüchte als „eine wiederkehrende Form der Kommunikation durch welche Menschen, die zusammen in einer mehrdeutigen Situation gefangen sind, ihre intellektuellen Ressourcen bündeln, um eine bedeutsame Interpretation davon zu konstruieren“. Gerüchte seien also eine „kollektive Transaktion“, eine „Form von kollektiver Problemlösung“ und eine Art der Kommunikation, die durch einen „tiefen Grad der Formalisierung“ geprägt sei. Des Weiteren entstünden Gerüchte und Falschnachrichten „von unten“ vor allem unter krisenhaften Bedingungen, in denen eine Diskrepanz herrsche zwischen den Informationen, die Menschen begehrten oder benötigten, und den Informationen, die durch formale Kanäle „von oben“ erhältlich seien.[12]
Vor allem seit den 1990er Jahren entdeckte die Geschichtswissenschaft das Gerücht und verwandte Phänomene wie Klatsch, Falschnachrichten, Mythen und Legenden als Forschungsfeld aufs Neue. Dabei widmeten sich vor allem Historikerinnen und Historiker dieser Thematik, die sich mit der Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit befassten und vorwiegend aus dem französisch- und englischsprachigen Raum stammten.[13] Auf der Basis der sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätze von Marc Bloch, Georges Lefèbvre, Jean-Noël Kapferer oder Joachim Neubauer beschäftigten sich diese Autorinnen und Autoren verstärkt mit dem Gerücht als Spiegelbild sozialer Verhältnisse.[14] Sich das Recht zu nehmen, etwas Bestimmtes über eine andere Person zu sagen und dabei eine interessierte Zuhörerschaft zu erreichen, so suggerieren diese Werke, sagt einiges aus über Machtverhältnisse, Mechanismen der Inklusion und Exklusion sowie über Stereotype, die in einer Gesellschaft verbreitet sind. In diesem Zusammenhang wurde nicht zuletzt der Antisemitismus – laut Theodor Adorno „das Gerücht über die Juden“ – verschiedentlich behandelt, wobei die wiederkehrende Anklage des Ritualmords von besonderer Bedeutung war.[15]
Der Zusammenhang von Gerüchten und Gewalt rückte seit der Jahrtausendwende wieder verstärkt in den Fokus historischer Studien. So widmeten sich John Horne und Alan Kramer sowie Florian Altenhöner der Entstehung von Gerüchten und Mythen im Kontext des Ersten Weltkriegs. Anders als Bloch untersuchten sie diese jedoch mit dezidiertem Blick auf die neu entwickelten Massenmedien und Öffentlichkeiten, die im 20. Jahrhundert entstanden waren.[16] Jörg Baberowski und Timothy Johnston analysierten dagegen den Zusammenhang zwischen Gerücht, Gewalt und Identität in der Sowjetunion.[17] Auch der koloniale Kontext blieb nicht unberücksichtigt: So erforschte die Anthropologin Luise White die Formierung von Gerüchten in Ost- und Zentralafrika, um auf dieser Grundlage zu neuen Einsichten in die von Gewalt geprägten Beziehungen zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten zu gelangen.[18]
In den letzten Jahren erschienen darüber hinaus verschiedene historische Studien zu Gerüchten und damit verwandten Phänomenen informeller Kommunikation während des Zweiten Weltkriegs. Jo Fox leitet zurzeit ein Forschungsprojekt, das sich mit Gerüchten in Großbritannien beschäftigt.[19] Die Historikerinnen Maude Williams und Ariane Mak untersuchten dagegen die Bedeutung von Gerüchten in den französisch-deutschen Grenzgebieten und an der britischen Heimatfront,[20] während sich Amos Goldberg und Maria Ferenc mit Rumor Cultures und der Verbreitung informeller Informationen in Warschau – und hier insbesondere im Ghetto – befassten.[21] Trotz dieses neuen Interesses an informeller Kommunikation sind Studien Mangelware, die den Nationalsozialismus thematisieren. Auch wenn der Kommunikationswissenschaftler Franz Dröge schon 1970 eine einschlägige Studie vorlegte,[22] dauerte es gut 30 Jahre, bis der Linguist Christoph Roland dieses Problem erneut aufgriff.[23] Diese aus den Medien- beziehungsweise Sprachwissenschaften stammenden Qualifikationsarbeiten beschränkten sich jedoch überwiegend auf die Analyse von Kommunikationskanälen und des Wahrheitsgehalts individueller „Falschnachrichten“, ohne einen Blick auf die größeren sozialen Zusammenhänge zu werfen, die solche Kommunikationsformen hervorbrachten. Zugleich fehlte der vergleichende Blick über das Deutsche Reich hinaus ebenso wie die Analyse der Kommunikation von Menschen, die aus der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen waren.
Darüber hinaus sind im deutschsprachigen Raum eher populärwissenschaftliche Studien zu Gerüchten und „Falschnachrichten“ erschienen wie die Bücher von Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff zu Mythen, Legenden und Gerüchten in der deutschen Geschichte.[24] Aus ihrer medienwissenschaftlichen Perspektive verstehen sie Gerüchte als „sachlich falsche Nachrichten über politische Zusammenhänge gleich welchen Ursprungs“, übersehen dabei aber die Anstrengungen der Geschichts- und Sozialwissenschaft sowie der Anthropologie, sich ernsthaft mit den „Wahrheiten“ des Gerüchts auseinanderzusetzen. Denn ein Gerücht kann Informationen beinhalten, die faktisch wahr oder falsch sein können. Ihr empirischer Wahrheitsgehalt ist jedoch nicht das Wesentliche, denn in ihrer Formation, Verbreitung, Rezeption und Transformation reflektieren informelle Kommunikationsformen vielmehr gewisse gesellschaftliche Realitäten.
Das hier vorgestellte Projekt bietet einen innovativen Zugriff auf zwei spezifische Forschungsfelder: Zum einen zielt es auf die Entwicklung einer modernen Kommunikationsgeschichte, die über die klassische Analyse von Formen und Inhalten offizieller Kommunikation hinausreicht (beispielsweise staatliche Propaganda und Massenmedien), wobei es insbesondere darum geht, das Verhältnis zu weniger formalisierten, oft spontanen Formen der Kommunikation „von unten“ zu untersuchen. Zu diesem Zweck gilt es, etwa Erkenntnisse von Historikerinnen und Historikern aus der Geschichte der Frühen Neuzeit zu informellen, oft oralen Kommunikationsformen für die Analyse der spezifischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts fruchtbar zu machen; dazu zählen moderne Medienlandschaften, eine zumeist hohe Alphabetisierungsrate, die Zensur- und Propagandaapparate von Diktaturen sowie die Massengewalt im Zeitalter der Weltkriege. Die Erforschung des Zusammenspiels von offizieller Kommunikation „von oben“ und informeller Kommunikation „von unten“ verspricht vertiefte Einblicke in die interpersonellen Dynamiken, kollektiven Mentalitäten und individuellen Subjektivitäten moderner Kriegsgesellschaften.
Zum anderen leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Nationalsozialismus. Zahlreiche Studien befassten sich in den letzten Jahrzehnten mit der deutschen Kriegspropaganda und den Versuchen des nationalsozialistischen Regimes, den informellen Informationsmarkt zu infiltrieren sowie Kommunikation und „Stimmung“ der Bevölkerung zu überwachen.[25] Diese Arbeiten vermitteln jedoch ein eher fragmentarisches Bild der Informationsbeschaffung, Wahrheitskonstruktion und der übergeordneten sozialen Verhältnisse unter den Bedingungen von Krieg und Besatzungsherrschaft. Inspiriert von Genderperspektiven haben Historikerinnen und Historiker überdies wieder verstärkt ihr Augenmerk auf Denunziation als Spiegel der Machtverhältnisse in der NS-Zeit gerichtet; der Kontext von Kommunikation, staatlicher Propaganda und Krieg bleibt allerdings zumeist unberücksichtigt.[26] Zudem haben einflussreiche Studien ein neues Licht auf die Alltagsgeschichte, den sozialen Nahbereich und das „Private“ geworfen.[27] Fragen der (informellen) Kommunikation und des sozialen Kontexts, in dem sie sich vollzog, werden aber auch hier weitgehend ausgeblendet. Das hier vorgestellte Projekt kombiniert dagegen die verschiedenen analytischen Ebenen und fragt dezidiert nach der Beschaffung, Interpretation und Verbreitung informeller Informationen. Im Mittelpunkt steht dabei das Zusammenspiel von unterschiedlichen Kommunikationsformen, sozialer Agency und der Konstruktion von „Wahrheit“ unter den Bedingungen von nationalsozialistischer (Besatzungs-)Herrschaft und Krieg.
III. Projektstruktur und Teilprojekte
Kommunikation, Information, soziale Verhältnisse, Selbstverständnis und individuelles Handeln wurden zwar von Totalitarismus, Gewalt und Krieg geprägt, aber sie wirkten auch auf diesen sozio-politischen Kontext zurück. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projekts untersuchen diese Interaktionen über Ländergrenzen oder Erfahrungsgruppen hinweg und erforschen so informelle Kommunikation und Information „von unten“ im Deutschen Reich sowie im okkupierten West-, Mittel- und Osteuropa. Dabei nehmen sie Frauen, Kinder und Männer in den Blick, die als „Volksgenossen“ galten, als Feinde der „Volksgemeinschaft“ verfolgt wurden oder die sich nicht eindeutig zuordnen ließen. In den besetzten Gebieten gilt ihr Augenmerk den Menschen, die unter deutscher Herrschaft leben mussten, dabei die Bedrohung sowie die zerstörerische Realität der nationalsozialistischen „Neuen Ordnung“ immer wieder erfuhren und die Konsequenzen noch lange spüren sollten. Damit leisten die Teilprojekte nicht nur einen Beitrag zu einer modernen Kommunikationsgeschichte, sondern eröffnen zudem neue Einblicke in Themen wie die sozialen Dynamiken und den Alltag von Gesellschaften unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung, die Überschneidungen von „öffentlichem“ und „privatem“ Leben im Nationalsozialismus, Handeln und Wissen im Holocaust sowie transnationale Erfahrungen der (Zwangs-)Migration während des Zweiten Weltkriegs.
Das hier vorgestellte Projekt umfasst vier Studien, von denen die erste unter dem Arbeitstitel „Rumor and Displacement: A History of Forced Migration under the Third Reich, 1938–1948“ als Habilitationsschrift von Caroline Mezger geplant ist. Ziel der Untersuchung ist es, anhand einer Analyse von Phänomenen informeller Kommunikation eine transnationale Geschichte der (Zwangs-)Migration während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach zu schreiben. Gerüchte hatten im Zusammenhang mit gewaltsam erzwungener Umsiedlung, Vertreibung, Flucht oder Deportation eine essenzielle Bedeutung. Sie wurden von Amtsträgern und Behörden gestreut, um Menschen zum Gehen oder Bleiben zu bewegen; sie entwickelten sich zum zentralen Kommunikationsmittel für Frauen, Männer und auch Kinder, die aus ihrem regulären Umfeld gerissen wurden. Gerüchte konnten vorgeben, welchen Weg man nahm, falls man eine Wahl hatte. Sie prägten Perzeption und Aktion auf der Flucht; sie beeinflussten, wie Menschen ihre Chancen einschätzten, wie sie ihr Umfeld wahrnahmen und ihre Mitmenschen beurteilten – und wie sie in der Nachkriegszeit über ihre Erfahrungen reflektierten. Quer durch Europa formten Gerüchte die Dynamiken von Flucht und (Zwangs-)Migration; davon blieben auch historiografische Darstellungen und persönliche Schilderungen nicht unberührt. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der informellen Kommunikation verspricht neue Einblicke in das Wechselspiel zwischen (Migrations-)Dynamiken „von unten“ und „von oben“ – eine Perspektive, die eine sorgfältigere und transnationalere Auseinandersetzung mit Fragen von Wissen und Agency unter Migrantinnen und Migranten zulässt, als sie bisher möglich war. Erarbeitet werden dabei drei Fallstudien: die 1939 beschlossene „Option“ in Südtirol, die Flucht und Deportation der jüdischen Gemeinde in Wien unmittelbar vor und nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 sowie die Evakuierung und Flucht der deutschsprachigen Minderheit aus der Vojvodina zwischen Ende 1944 und 1948.
Die drei weiteren Teilprojekte sind monografisch angelegte Dissertationsvorhaben. Felix Berge wendet sich der deutschen Kriegsgesellschaft zu und erforscht „Gerüchte im Nationalsozialismus zwischen staatlicher Kontrolle und Kommunikation ‚von unten‘“, wobei es ihm vor allem um die Bedeutung von informeller Kommunikation für die „Volksgemeinschaft“ sowie um den staatlichen Umgang mit diesen Praktiken zwischen 1939 und 1945 geht. Manuel Mork untersucht in seiner Studie „Der Kampf ums Geplauder: Politische Gerüchte im besetzten Frankreich (1940–44) zwischen staatlicher Kontrolle und politischer Subversion“ den Zugriff politischer Akteure auf die Sphäre der alltäglichen Kommunikation. Izabela Paszko analysiert in ihrem Teilprojekt unter der Überschrift „Humour, Rumours and other Indirect Informal Ways of Communication during the Holocaust in Poland“ schließlich anhand von Gerüchten, Witzen und anderen informellen Kommunikationsformen, wie sich interethnische Beziehungen und Judenverfolgung in der Grenzregion Zagłebie Dabrowskie zueinander verhielten. Alle vier Studien beruhen auf einer breiten Quellenbasis: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werten staatliche und behördliche Archivquellen, die zeitgenössische Presse sowie Egodokumente wie Briefe, Tagebücher, Memoiren und Zeitzeugeninterviews aus, um ein umfassendes Bild der informellen Kommunikation auf verschiedenen analytischen Ebenen zu gewinnen.
Das hier vorgestellte Projekt wird von einem internationalen Netzwerk von Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern unterstützt. Beteiligt sind Ulf Brunnbauer (Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg), Jan Grabowski (Polish Center for Holocaust Research), Stefan Martens (Deutsches Historisches Institut Paris), Jochen Oltmer (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien in Osnabrück), Roberta Pergher (Indiana University), Miloš Řezník (Deutsches Historisches Institut Warschau), Marsha Siefert (Central European University), Oswald Überegger (Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen) und Yfaat Weiss (Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow). Begleitet wird das Projekt von mehreren Workshops, um theoretische Konzepte und historiografische Ansätze sowie die Forschungsergebnisse zu diskutieren. Ein erster Workshop fand im Januar 2020 am IfZ in München statt; weitere Workshops folgen an der Central European University und am Deutschen Historischen Institut in Paris. Darüber hinaus ist eine internationale Tagung geplant, aus der ein Sammelband zur informellen Kommunikation während des Zweiten Weltkriegs entstehen soll.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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