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Entscheidungsanmerkung zu EuGH v. 14.9.2023 – C-27/22, ECLI:EU:C:2023:663 – Volkswagen Group Italia SpA u.a. ./. Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato

Published/Copyright: June 15, 2024

Wirtschafts- und GesellschaftsrechtProf. Dr. Bernhard KreßeEntscheidungsanmerkung zu EuGH v. 14.9.2023C-27/22, ECLI:EU:C:2023:663Volkswagen Group ItaliaSpA u.a. ./. Autorità Garante della Concorrenza e delMercatoGPR0067482Leitsätze11. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Unionist dahin auszulegen, dass eine in den nationalen Rechtsvor-schriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der fürden Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegeneine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken ver-hängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Be-stimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvor-schriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sieeine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schwere-grad aufweist.22. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der EuropäischenUnion verankerte Grundsatzne bis in idemist dahin auszule-gen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es er-laubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Ge-schäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Naturaufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat ineinem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt wordenist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Ent-scheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist,aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichenRechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteiltworden ist.33. Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der EuropäischenUnion ist dahin auszulegen, dass er eine Einschränkung derAnwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzesne bis in idemzulässt, um eine Kumulierung von Verfahrenoder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, soferndie in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzun-gen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden,erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keineübermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt,zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand derensich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlas-sungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dassdie betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weiseund in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wur-den.Sachverhaltsschilderung4Im Jahr 2016 verhängte die italienische Wettbewerbs- undMarktaufsichtsbehörde Autorità Garante della Concorrenza edel Mercato (AGCM) gegen die Volkswagen Group Italia SpA(VWGI) und die Volkswagen AG (VWAG) eine gesamtschuld-nerische Geldbuße i.H.v. 5 Mio. EUR wegen des Inverkehrbrin-gens von Dieselfahrzeugen mit unzulässiger Schadstoffsoftwarein Italien sowie wegen der Verbreitung von Werbung, in derdie emissionsrechtliche Unbedenklichkeit der betroffenenFahrzeuge betont wurde. Beide Gesellschaften erhoben gegendie Entscheidung der AGCM Klage beim zuständigen italie-nischen VG.5Während diese Klage noch anhängig war, verhängte die Staats-anwaltschaft Braunschweig im Jahr 2018 gegen die VWAGeine Geldbuße i.H.v. 1 Mrd. EUR wegen des weltweiten Inver-kehrbringens von Fahrzeugen mit unzulässiger Schadstoffsoft-ware sowie wegen der Verbreitung von Werbung, in der wahr-heitswidrig behauptet wurde, dass diese Fahrzeuge besondersumweltfreundlich seien. Von dieser Geldbuße waren 5 Mio.EUR zur Ahndung des Verhaltens bestimmt; der restliche Be-trag diente der Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils ausdem Einbau der genannten Software. Die VWAG zahlte dieGeldbuße und erklärte Rechtsbehelfsverzicht, so dass die Ent-scheidung der Staatsanwaltschaft rechtskräftig wurde.6Unter Hinweis auf die rechtskräftige Entscheidung der Staats-anwaltschaft Braunschweig beriefen sich die VWGI und dieVWGA sodann in dem italienischen verwaltungsgerichtlichenVerfahren auf den in Art. 50 EuGRCh niedergelegten Grund-satzne bis in idem. Nach Abweisung der Klage legten beide Ge-sellschaften Rechtsmittel beim italienischen Staatsrat, demobersten VG, ein, der im Hinblick aufne bis in idemein Vor-abentscheidungsersuchen stellte. Der EuGH führte aus, dassauch nach nationalem Recht als Verwaltungssanktion einge-stufte Entscheidungen strafrechtlicher Natur i.S.d. Art. 50EuGRCh sein können und dass sich die Frage, welche vonmehreren Entscheidungen i.S.v.ne bis in idemdie frühere ist,nach dem Zeitpunkt des Rechtskrafteintritts beurteilt. Fernerkonkretisierte der EuGH die Kriterien zur Beurteilung der Ver-hältnismäßigkeit, die er im Rahmen der Auslegung des Aus-nahmetatbestandes des Art. 52 Abs. 1 S. 2 EuGRCh entwickelthat.120ServiceWirtschafts- und GesellschaftsrechtGPR3/2024KreßeEntscheidungsanmerkung zu EuGH v. 14.9.2023C-27/22
Online erschienen: 2024-06-15
Erschienen im Druck: 2024-06-01

© 2024 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln.

Downloaded on 10.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.9785/gpr-2024-210306/html?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOop3toXOiG_sie-l0L-tIAMMVuRfotJiCS3Jz6lDs0YyDDSBtmYn
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