Nachruf Prof. Richard Hugh Tilly, PhD
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Carsten Burhop
Am 18. Februar 2023 verstarb in Münster der bedeutende deutsch-amerikanische Wirtschafts- und Sozialhistoriker Richard Hugh Tilly im Alter von 90 Jahren. Als Sohn eines kaufmännischen Angestellten wurde er am 17. Oktober 1932 in Chicago geboren. Die ersten Jahrzehnte seines langen und erfüllten Lebens verbrachte er mit drei Brüdern und einer Schwester in Elmhurst, einer westlich von Chicago gelegenen Kleinstadt. Nachdem er 1955 einen Bachelor of Arts mit dem Hauptfach Geschichte an der University of Wisconsin-Madison erworben hatte, leistete er bis 1957 Wehrdienst, größtenteils im Land seiner Vorfahren – Deutschland – ab. Hier lernte er Elisabeth kennen, die mit ihm in die USA ging und 1960 in Elmhurst seine Ehefrau wurde. Nach kurzer Tätigkeit bei einer Versicherungsgesellschaft kehrte Richard Tilly in die Wissenschaft zurück: 1958 bis 1961 besuchte er die Graduate School der University of Wisconsin, 1961 bis 1963 hielt er sich mit einem Forschungsstipendium in Köln auf und 1963 – noch bevor er 1964 den PhD in Economics erhielt – wurde er Assistant Professor an der University of Michigan in Ann Arbor. 1966 war ein Wendejahr seines Lebens: Zunächst trat er eine Stelle an der Yale University an, verließ diese aber rasch, weil er einen Ruf auf die neugeschaffene Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an die Universität Münster annahm. Mit Ehefrau, Sohn und zwei Töchtern siedelte er nach Münster um; seine dritte Tochter wurde hier geboren. Münster wurde zur neuen Heimat der Familie und erst später ließen sich Richard und Elisabeth Tilly für einige Jahre in Dettelbach nieder, bevor sie nach Münster zurückkehrten.
Wesentliche Grundlage seiner Berufung nach Münster war seine bis in die Gegenwart wegweisende Dissertation «Financial institutions and industrialization in the Rhineland 1815–1870». In gewisser Weise steckte diese Monographie den Raum seiner zukünftigen Forschung ab: Sowohl die vielfältige Geschichte der deutschen Frühindustrialisierung als auch die Geschichte von Banken und Finanzmärkten waren wiederkehrende Themen seiner langen wissenschaftlichen Karriere. Genauso bemerkenswert wie sein erstes ist auch sein letztes, gemeinsam mit Michael Kopsidis verfasstes Buch. In «From old regime to industrial state: A history of German industrialization from the Eighteenth century to World War I» fasste er noch 2020 – im Alter von 88 Jahren! – die klassische und aktuelle Literatur zur deutschen Industrialisierung souverän und kritisch zusammen.
In seiner mehr als fünf Dekaden währenden wissenschaftlichen Karriere hat Richard Tilly auf vielen Feldern bahnbrechende Arbeiten vorgelegt, die häufig nachhaltigen Einfluss auf die nationale und vor allem internationale Debatte über die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte hatten. In den 70er Jahren untersuchte er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Charles und dessen damaliger Ehefrau Louise in «The rebellious century: 1830–1930» (Harvard University Press, 1975) den sozialen Protest in europäisch-vergleichender Perspektive. Weitere Arbeiten in diesem Themenfeld wurden 1980 in «Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung» zusammengefasst publiziert.
In den späten 70er Jahren kehrte er zur Banken- und Finanzgeschichte zurück. Zunächst publizierte er im siebten Band der «Cambridge Economic History of Europe» 1978 einen längeren Aufsatz über «Capital formation in Germany in the Nineteenth century», bevor er anschließend in einer Reihe von Aufsätzen, die u. a. im Journal of Economic History, dem Journal of European Economic History und dem Journal of Institutional and Theoretical Economics veröffentlicht worden sind, untersuchte, wie sich Unternehmen in Deutschland finanziert haben und welche Rolle dabei Banken und die Struktur des Bankwesens hatten. Hier nahm er nicht nur große Aktienkreditbanken in den Blick, sondern wies auch auf die große Bedeutung von Sparkassen für die Immobilien- und Infrastrukturfinanzierung hin. Aufgrund seiner bank- und finanzhistorischen Forschung war Richard Tilly viele Jahre der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte und insbesondere ihrem Arbeitskreis Bank- und Versicherungsgeschichte als aktives Mitglied verbunden.
Die Vermittlung wirtschaftshistorischer Erkenntnisse und Fertigkeiten für die wirtschaftshistorische Forschung gelang Richard Tilly durch die Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlern als Multiplikatoren und auf dem Weg von Lehrbüchern: «Vom Zollverein zum Industriestaat» (1990), «Geschichte der Wirtschaftspolitik» (1993, als Teamleistung am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Münster) und «The German economy during the nineteenth century» (2004, gemeinsam mit Toni Pierenkemper) belegen dies.
Beachtenswert ist, dass Richard Tilly auch nach seiner Emeritierung am Ende des Wintersemesters 1997/98 ein Aktivposten des Faches und des Münsteraner Instituts blieb. Aus Sicht der Unternehmensgeschichte besonders bemerkenswert ist, dass Richard Tilly 2008 mit der Biographie des Wirtschaftswundermannes «Willy H. Schlieker. Aufstieg und Fall eines Unternehmers 1914–1980» abermals ein neues Arbeitsfeld erschloss – weder die Unternehmensgeschichte der Bundesrepublik noch biographische Darstellungen hatten bisher zum Kern seiner Aktivitäten gehört.
Dieses Buch befindet sich, wie auch zahlreiche andere aus seiner Feder, in meiner Bibliothek. 2003 erhielt ich, damals neu angestellt als Wissenschaftlicher Assistent am ehemaligen «Tilly-Institut», erstmals ein vom Autor handsigniertes und mit Widmung versehenes Buch: «Geld und Kredit in der Wirtschaftsgeschichte». Zahlreiche weitere Bücher folgten – zuletzt im November 2020 eine Ausgabe seines letzten Buches. Mindestens ebenso wichtig wie seine Bücher waren, vor allem in den ersten Jahren meiner wissenschaftlichen Karriere, seine Ratschläge und seine Unterstützung. Regelmäßig kam er überraschend ins Institut, suchte Literatur und Quellen in der Bibliothek und erkundigte sich nach dem Fortschritt der Forschung. Auch nach meinem Weggang aus Münster blieben wir in Kontakt. Nach vielen Jahren verfassten Richard Tilly, Timothy Guinnane und ich sogar einen Überblicksaufsatz zur deutschen Bank- und Finanzgeschichte, der 2018 im «Handbook of Finance and Development» publiziert wurde. Selbst kurz vor seinem Tod blickte er zuversichtlich und optimistisch in die Zukunft und er kam nach wie vor seinen selbstauferlegten Pflichten zuverlässig nach – Emails beantwortete er möglichst sofort.
Die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte verliert mit Richard Tilly einen engagierten, anregenden und produktiven Forscher, der durch seine zahlreichen wegweisenden Publikationen auch in den kommenden Jahrzehnten den wissenschaftlichen Fortschritt beeinflussen wird. Der Wissenschaftler und der Mensch Richard Tilly wird allen, die ihn auf Teilen seines Lebensweges begleiten durften, in guter und langer Erinnerung bleiben.
© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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- Beate Kohler-Koch/Sebastian Fuchs/David A. Friedrich, Verbände mit Zukunft? Die Re-Organisation industrieller Interessen in Deutschland, Springer VS, Wiesbaden 2022, 336 S., € 64,99.
- David de Jong, Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 496 S., € 28,00.
- Stephen Broadberry/Kyoji Fukao (eds.), The Cambridge Economic History of the Modern World. Volume 1 – 1700 to 1870, Cambridge University Press, Cambridge 2021, 496 S., € 145.
- Ulrich Pfister/Jan-Otmar Hesse/Mark Spoerer/Nikolaus Wolf (eds.), Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft, Mohr Siebeck, Tübingen 2021, 454 S., € 114.
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