Home Eine neue liberale Lust am Strafrecht?
Article Open Access

Eine neue liberale Lust am Strafrecht?

  • Petra Velten EMAIL logo
Published/Copyright: December 15, 2023

I. Einleitung

736Ich bin skeptisch gegenüber der aktuellen Straffreude[1]. Das gilt speziell für die Forderung, Strafen punitiven Wünschen der Bevölkerung gehorchend anzuheben[2]. Für ein gutes Gewissen beim Strafen gibt es auch ganz allgemein wenig Grund. Es gibt viele Konstellationen, in denen Strafe kaum zu rechtfertigen ist, etwa bei Taten von Menschen, die selbst massiv viktimisiert wurden, bei Taten von stark Benachteiligten oder wenn Strafrecht einen Wertewandel erzwingen soll.

Auch wenn es unmodern klingt: Einseitig wird nicht etwa die Täterperspektive überbetont. Wer sie thematisiert, handelt sich den Vorwurf ein, zu relativieren. Ich möchte hier auf der Grundlage von straftheoretischen Erwägungen zeigen, welche Relevanz die (bislang unterschätzte) Täterperspektive für die Legitimation des Strafens hat (unten V., und VI.).

Auch, was seine Wirksamkeit angeht, wird dem Strafrecht zu viel Optimismus entgegengebracht. Dieses gibt simple Antworten auf komplexe Probleme und verdrängt als Scheinlösung gesellschaftliche Verantwortungsübernahme durch Strukturreformen. Ob das Institut im Ergebnis wirklich zivilisiert, ist unklar (VII.).737

II. Hinwendung zu tatproportionalen Straftheorien und „punitive turn“

Zu Beginn meines Studiums galt den meisten Lehrenden das Strafrecht als Anachronismus[3]. Früher fragte man, warum Individuen für kriminogene gesellschaftliche Bedingungen haften sollen, heute beklagt man, dass die Gesellschaft für alles verantwortlich zeichnen soll.

Wie kam es zu diesem Paradigmenwechsel? Bis Mitte der 70er Jahre dominierten deterministische Deutungen von Kriminalität. Straftaten resultierten entweder – in der Tradition der französischen Kriminologie – aus gesellschaftlichen Faktoren oder – der italienischen folgend – aus dem angeborenen schlechten Charakter[4]. Gegen den unveränderlichen schlechten Charakter hilft nur Sicherung, in allen anderen Fällen ist Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik[5].

Unbefriedigend schienen die Antworten auf die Frage nach der Rechtfertigung der Bestrafung und der Ableitung der Art und Weise der Strafe aus einem Präventionsstrafrecht. Warum sollte der Täter für sein Schicksal haften und warum soll sich ein präventiv legitimiertes Strafrecht am verschuldeten Unrecht orientieren[6]? Strafe als défense sociale – also mit einer utilitaristischen Rechtfertigung[7] aus dem738 überwiegenden Interesse – erzeugte ebenso Unbehagen wie die Tendenz, den Täter schrankenlos Präventionserfordernissen zu unterwerfen[8]. Auf diesen Erklärungsdefiziten fußte die Rehabilitation vergeltungstheoretischer Ansätze[9]: Ihnen ist der Täter Subjekt, seine Tat Grund, nicht Anlass für die Strafe. Er haftet tatproportional nur im Rahmen seiner Verantwortung und wegen dieser – auf den ersten Blick zumindest.

Leider wurzelt in dem Glauben an die Willensfreiheit de facto auch der Hang zur wachsenden Punitivität: Menschen, die davon überzeugt sind, strafen früher und härter als Anhänger des Determinismus[10]. Punitivität begünstigen auch „Attributionsfehler“. Sie verleiten dazu, fremdes Fehlverhalten unnachgiebig der handelnden Person zuzuschreiben, während man eigene Fehler gerne der Umwelt anlastet[11]. Dazu passt die Ausblendung gesellschaftlicher Verantwortung zulasten des Täters einerseits und das Vergessen, dass sich eigene Verdienste – zu denen auch das Legalverhalten zählt – stets auch fremder Leistung verdanken andererseits.

III. Das Ende der Toleranz in der Kriminalpolitik

Das Ende der Toleranz beherrscht auch die aktuelle Kriminalpolitik: Ständig werden Strafen verschärft und der Gesetzgeber hat sich „in einen wahren „Inkriminierungsrausch“[12] gesteigert. Ich erspare uns eine Aufzählung allseits bekannter739 Fakten[13]. Es sind selten wirklich gesellschaftliche Neuerungen, die dazu zwingen[14].

In erster Linie wird vielmehr eine Scheinantwort auf Ängste und Aggressionen gegeben, die ihre Wurzeln nicht in der Bedrohung durch Kriminalität haben. Kriminalitätsfurcht ist wie ein Schwamm, der alle Arten von Ängsten absorbiert[15]. Sie korreliert umgekehrt mit sozialstaatlicher Sicherung, nicht mit dem Ausmaß der Kriminalität[16], die im Allgemeinen rückläufig ist, nur in Bezug auf Gewaltdelikte etwa gleich geblieben ist[17]. Abstiegsängste erklären nicht nur wachsende Kriminalitätsfurcht, sondern auch steigende Punitivität[18]. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen Veränderungen der Produktionsweise, der Umwälzung der Arbeitsverhältnisse und der damit einhergehenden zunehmenden sozialen Ungleichheit[19] und einer wachsenden Polarisierung und der Ausbildung autokratischer Haltungen: Zu etwa einem Drittel entstand eine Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität (Transferleistungsempfänger, Niedriglohnbeschäftigte sowie Migranten, hinzukommt eine Erosion des Mittelstands) mit der Folge der der Polarisierung[20]. Man kann eine „Zone der Verwundbarkeit“, in der subjektive Sicherheit und soziale Netze erodieren und eine „Zone der Entkoppelung“ ausmachen. Die Mitglieder die740ser Gruppe sind weitgehend von der sozialen Teilhabe ausgeschlossen[21]. Im Vordergrund steht daher die Angst vor dem sozialen Abstieg, die durch den Rückbau von Sozialstaat begünstigt wird[22]. „In der Abstiegsgesellschaft sehen sich viele Menschen dauerhaft auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe. Sie müssen nach oben laufen, um ihre Position überhaupt halten zu können“[23]. Als „regressive Variante des Aufbegehrens“[24] werden Abstiegsängste in antisolidarische und rassistische Affekte transformiert. Die Angst, die die gesamte Gesellschaft erfasst, führt nämlich nicht zu mehr Solidarität[25], sondern zu zunehmender Spaltung: Der Autoritarismus nimmt zu, er richtet seine Aggression nach unten statt nach oben und sucht Sündenböcke, etwa Ausländer und Straftäter[26]. Der Politik gibt dies die Gelegenheit, Stärke zu zeigen und das Ansehen zu gewinnen, was sie in anderen Bereichen verloren hat. In eine ähnliche Richtung deuten neuere Forschungen, denen zufolge Vergeltungswünschen nicht so sehr eine altruistische Logik[27] zu Grunde liegt, als vielmehr eine autoritäre Einstellung[28].

Auch in der Strafrechtswissenschaft wird zunehmend dafür plädiert, Ängste und punitive Tendenzen aufzugreifen und durch die Strafe Sicherheitsgefühle wiederherzustellen[29], die nach empirischen Erkenntnissen aus ganz anderen Gründen, nämlich wegen der ökonomischen Bedrohung, verloren gegangen sind[30]. Ich werde versuchen, die zugrundeliegenden theoretischen Ansätze der auch in der Strafrechtswissenschaft zu verzeichnenden Punitivität vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich widme mich zunächst auf empirischer Ebene dem gesellschaftlichen Anteil an Devianz (IV.), diskutiere anschließend die normative Ebene (V.), stelle meine Straftheorie kurz vor und kontrastiere sie mit „liberalen“ Konzepten. Anschließend skizziere ich einzelne Legitimationsschwächen des Strafrechts (VI.) und frage zuletzt, ob Strafrecht nicht auch brutalisiert (VII.).741

IV. Der gesellschaftliche Anteil an Delinquenz

1. Benachteiligung und Delinquenz

Für die Frage nach der Strafgerechtigkeit ist wichtig, individuelle und gesellschaftliche Anteile an der Entstehung von Kriminalität abzuschichten. Dazu bedarf es keiner Antwort auf die kaum lösbare Frage, ob es Ursachen oder Gründe sind, die menschliche Entscheidungen bestimmen. Vielmehr geht es darum, nach Umweltbedingungen zu suchen, die conditio sine qua non für Straftaten sind. Dabei hat sich in der internationalen Verlaufsforschung bereits gezeigt, dass soziale und familiäre Bedingungen bedeutsamer sind als Persönlichkeitsfaktoren[31]. Findet man sie, dann weiß man, dass dies Stellschrauben sind, um Kriminalität zu verhindern. Die Frage danach, ob und wie sich ein solcher Befund auf die Rechtfertigung des Strafens auswirkt, ist eine normative. Hier geht es zunächst der Sache nach um die empirische Relevanz von gesellschaftlichen Benachteiligungen.

Lange Zeit ließen empirische Befunde Hypothesen über die Rolle von Armut oder besser: Benachteiligung bei der Entstehung von Kriminalität zwar als plausibel, sogar wahrscheinlich erscheinen, aber es fehlten vielfach aufschlussreiche Längsschnittstudien, die allein Aufschluss über Kausalitäten geben können. Inzwischen hat sich der Forschungsstand insoweit deutlich verändert und verbessert. Zum einen wird nicht mehr unstrukturiert nach „Risikofaktoren“ gesucht, die sich meist auf die mikrosoziale Ebene beschränken oder solche, die den Zusammenhang zwischen Mesoebene und Kriminalität untersuchen[32]. Vielmehr wurden Analysemodelle verwendet, die kriminaltheoretische Erklärungen auf drei Ebenen integrieren. Zum anderen stehen inzwischen erheblich mehr Längsschnittuntersuchungen zur Verfügung, die nicht nur Aussagen über Korrelationen erlauben, sondern auch über Kausalitäten[33].

Auf der Makroebene sind vor allem die Alltagsstraftaten ein Problem unterer Gesellschaftsschichten und Milieus[34]. Stärker als im Dunkelfeld wirkt sich dies im Hellfeld aus: Angehörige aus benachteiligten Schichten sind als Klientel der Strafver742folgungsbehörden und Inhaftierte weit überrepräsentiert. Das gilt erst recht für Angehörige ethnischer Minderheiten, psychisch auffällige, suchtmittelkranke oder wohnsitzlose Menschen[35]. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht ist also zwar typisch für Delinquenz (vor allem im Hellfeld[36]), aber sie ergibt noch nicht einmal eine Korrelation. Sie erlaubt keine Voraussage kriminellen Verhaltens: Materielle Armut, Unterversorgung und soziale Deklassierung können also anders bewältigt werden[37].

Das ändert sich, wenn man die Besonderheiten der Meso- und Mikroebene einbezieht (also Schule, Schulbildung, den Grad der Integration und sozialen Akzeptanz, Stellung im Beruf, Interventionen der Instanzen der sozialen Kontrolle, Freizeitverhalten, Erziehungsstil, Gewaltexposition, Erlernen und – individuell – das Ausmaß der Akzeptanz von Sozialnormen) [38]. Armut ist ein dann Risiko für die persönliche Entwicklung, wenn sie mit anderen Benachteiligungen einhergeht[39]. Hier haben wir es nicht nur mit einer Typik zu tun, sondern mit einer Korrelation.

Nun ist Korrelation aber immer noch nicht Verursachung. Es könnte ja sein, dass gerade Charakter und schwieriges Verhalten des Einzelnen zu Nachteilen wie mangelhafte Bildungspartizipation, Fehlen stetiger Bindungen, beengte Wohn- und Familienverhältnisse und Armut führt. Lange Zeit galt daher die Sachlage insoweit als offen[40]. Neuere Untersuchungen, Längsschnittanalysen, zeigen aber, dass die zuletzt genannten Umstände tatsächlich mitursächlich sind. Kriminalität ist weniger die Folge individueller Pathologien, als schwieriger Verhältnisse.

Festzuhalten ist also: Armut führt zu sozialer Deprivation in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheit. Gewaltexposition fördert Devianz, wie auch ein Erziehungsstil, der autoritär, brutal, unterkühlt und inkonsequent ist. Weitere Gründe für Devianz sind das Gefühl, ausgegrenzt, Fremder zu sein[41] und die Stig743matisierung, die als selffulfilling prophecy wirkt[42]. Ein kriminalitätstreibender Faktor ist dabei vor allem die wachsende ökonomische Ungleichheit.[43] Wer in desolaten Verhältnissen aufwächst, in der Schule wenig Erfolgserlebnisse hat, keine Förderung erhält, wird Normen eher brechen als jene, die in geordneten ökonomischen und sozialen Verhältnissen groß werden. Die Kausalpfade verlaufen von gesellschaftlicher Position über Schulintegration[44], Erziehungsstil[45], Peergruppen und Einstellungen bzw. Normakzeptanz[46] zum Verhalten. Abgesehen von den Einstellungen und der Auswahl der Peergruppen entziehen sich diese Umstände dem individuellen Einfluss des Handelnden. Sie haben zur Folge, dass die Anstrengungen, Normen einzuhalten, die die Gesellschaft den Individuen aufbürdet, höchst unterschiedlich sind.

2. Benachteiligung und Viktimisierung

Ärmere Schichten werden zudem viel häufiger Opfer von Straftaten[47]. Bewohner von Gegenden mit Anzeichen ökonomischen Verfalls leiden nicht nur stärker unter Ei744gentumsdelikten wie Einbrüchen, sondern auch unter Gewaltdelikten. In Großbritannien werden Menschen, die in den 10 % der ärmsten Regionen leben, viereinhalbmal so oft Opfer eines Mordes.

3. Kriminalitätsniveau und Grad der Sozialstaatlichkeit

Schließlich ist in starken Wohlfahrtsstaaten die Gewaltkriminalität im Vergleich deutlich reduziert[48]. Einer amerikanischen Studie zufolge nahm aggressives Verhalten mexikanischer Kinder ab, nachdem ihre Eltern durch Hilfsprogramme mehr Geld erhielten. Die sogenannten »liberalen« Sozialstaaten wie England, USA oder Australien verzeichnen die mit Abstand höchsten Gefangenenraten[49], was wahlweise auf die geringe soziale Absicherung oder auf die soziale Ausschließung zurückgeführt wird[50].

Verteilungsgerechtigkeit verringert Devianz, doch auch in unseren Wohlfahrtsstaaten zeigen sich (immer mehr) Defizite. Das betrifft zunächst die soziale Absicherung: Es werden drei Typen entwickelter kapitalistischer Staaten unterschieden: Im »liberalen« Sozialstaat (wie etwa USA, Australien oder England) gibt es kaum soziale Förderung, wer sie erhält, wird marginalisiert und stigmatisiert. Im »korporativistischen« Sozialstaat (etwa in Deutschland, Österreich und Frankreich) werden die Märkte partiell durch Tarifparteien, Gewerkschaften, Kartell- und Aufsichtsbehörden reguliert und durch soziale Rechte beschränkt. Der »sozialdemokratische« Sozialstaat (für den die skandinavischen Länder bislang gestanden haben), versucht soziale Gleichheit im Bildungswesen, durch transparente und ausgleichende Besteuerung und durch besondere Sozialleistungen herzustellen[51]. Seit der Jahrhundertwende befinden sich die „korporativistischen“ Sozialstaaten bekanntlich auf dem Weg in Richtung »liberale« Sozialstaaten.745

Auch die langsame Entwicklung zu mehr Gleichheit bei Einkommen, Vermögen und Bildung dreht sich aktuell wieder um und ist immer noch unzureichend. Zwar hat sich die Eigentumskonzentration seit dem 18. Jahrhundert beträchtlich reduziert, trotz dieser Tendenz zu mehr Gleichheit hält sich die Ungleichheit weiter auf einem extrem hohen, wie Piketty formuliert, „untragbaren“ Niveau[52]. Die Eigentumsdekonzentration kam nur den sozialen Gruppen zwischen dem reichsten 1 % und den ärmsten 50 % zugute, während die letzteren praktisch besitzlos sind[53]. Die Unterschichten (50 %) verfügen nur über Sparguthaben, die Mittelschicht (40 %) hat Wohneigentum, Finanzanlagen und Betriebsvermögen, die Reichsten (1 %) besitzen zusätzlich die Produktionsmittel und damit sind zugleich politische Macht und Ohnmacht ungleich verteilt. Die ärmsten 50 % haben kaum 5 % des Gesamteigentums, die reichsten 10 % fast 60 %. Auch die Einkommensungleichheit ist mehr als bedenklich: Die einkommensstärksten 10 % liegen aktuell bei 45 %, die ärmsten 50 % bei 18 %, die Mittelklasse bei fast 35 %. Nach einer Phase der Herstellung von mehr Verteilungsgerechtigkeit geht also die Schere zwischen Reich und Arm seit den 80er Jahren wieder weit auseinander[54]. Die öffentlichen Bildungsausgaben konzentrieren sich auf eine privilegierte Minderheit. Die Investitionen für Kinder aus sozial bessergestellten Familien betragen in etwa das Vierfache dessen, was die 10 % der am wenigsten Privilegierten erhalten haben[55]. Diese Sozialpolitik fördert Kriminalität.

Soweit die faktische Ebene. Nun möchte ich die normative Frage beantworten, ob und inwiefern Verteilungsungerechtigkeit das Recht zum Strafen beeinträchtigt.746

V. Normative Überlegungen: Welche Rolle spielt Verteilungsgerechtigkeit für die Legitimation der Strafe?

1. Methodische Prämissen

a) Die Ebene meiner Argumentation ist eine ethische, keine genuin juristische. Ich gehe von der Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen aus. Ein gehaltvoller Maßstab ergibt sich aus dem immanenten, formalen Geltungsanspruch, den man mit der Formulierung „Du sollst“ erhebt: Normen beanspruchen universelle Geltung in der Situation des jeweiligen Adressaten. Jeder/jede hat ihnen in dieser Situation zu folgen, einschließlich dessen, der die Forderung aufstellt. Normen sind nicht Ausdruck individuellen oder kollektiven Wollens[56]. Aus dieser Gegenseitigkeit, Reziprozität, ergibt sich der Maßstab der „Verallgemeinerungsfähigkeit“, der voraussetzt, dass die Norm vor allen Perspektiven Bestand hat. Sie impliziert die Gleichachtung aller individuellen Interessen. Privilegien vertragen sich damit nicht.

b) Strafe darf nicht utilitaristisch gerechtfertigt werden[57]. Die Aufsummierung vieler individueller Interessen zu einem Allgemeininteresse, das dann fast jedes entgegenstehende Einzelinteresse quantitativ erdrückt und dessen Aufopferung rechtfertigt, ist kein Rechtfertigungsmodus. Jedem Einzelinteresse kommt gleiches Gewicht zu. Das bedeutet für die Strafe konkret, dass nicht allein ihr Zweck sie rechtfertigen kann. Man darf nicht einfach Eignung und Erforderlichkeit des Strafübels zur Wahrung des Rechtsfriedens im Interesse der Allgemeinheit einerseits und individuelle Freiheits- und Lebensinteressen des Täters andererseits stellen und abgewägen. Dieser in der Ethik mittlerweile weithin anerkannte Grundsatz findet bisweilen sogar im Verfassungsrecht seinen Niederschlag, etwa im Prinzip der Lastengleichheit oder beim Verbot der Aufopferung[58]. Der dem Grundgesetz vorangehende Herrenchiemseer Verfassungsentwurf formulierte in diesem Sinne747 noch „Der Staat ist um des Menschen willen da“, anstelle dieser Formulierung trat dann die Garantie der Menschenwürde[59].

Eine mögliche nichtutilitaristische Rechtfertigung erfolgt über Zurechnungsgedanken. Der Täter soll den zurechenbar verursachten Normgeltungsschaden beseitigen. Das Band der Zurechnung zwischen Tat, Täter und den gesellschaftlichen Folgen seiner Tat begründet und begrenzt die Haftung. Moderne Straftheorien stimmen in diesen Grundlagen weithin überein, unklar ist jedoch, welches der materielle Grund für diese Haftung ist.

2. Eigene Straftheorie: Strafe als Wiederherstellung eines Leistungsgleichgewichts

Der folgende Überblick über die hier zugrunde gelegte Straftheorie muss notwendig holzschnittartig bleiben[60]. Er beschränkt sich auf die grundlegenden Zusammenhänge, deren Verständnis erforderlich ist, um die Legitimationsprobleme modernen Strafrechts zu verstehen[61]. Nicht isoliert Schädigung, Verantwortung und Schuld[62] rechtfertigen Strafe, sondern zuallererst Reziprozität. Nicht das „harm principle“ ist der entscheidende Baustein für die Legitimierung der Strafe, sondern das Recht und die Notwendigkeit, zu viel erhaltene Leistungen des Täters auszugleichen. Weil und soweit er in den Genuss des Schutzes der Rechtsordnung gekommen ist, also gesellschaftliche Leistungen erhalten[63], aber nicht erwidert hat, verursacht seine Tat einen Normgeltungsschaden, zugleich ist dies Grund und Grenze für seine Einstandspflicht. Mit dieser Gegenseitigkeit ist mehr gemeint als ein mechanisches748 Austauschverhältnis im Sinne der Allgemeinheit der Strafgesetze. Erforderlich ist weitgehende Lastengleichheit von Normen, also ein ausgeglichenes Verhältnis von Nehmen (Schutz) und Geben (Verzicht). Die Tat stört dieses Gleichgewicht. Die Strafe stellt es wieder her. Legitimes Strafrecht setzt deshalb zudem ein ursprüngliches Gleichgewicht voraus.

a) Warum darf man den Täter durch Strafe in Anspruch nehmen?

Nun zu den Einzelheiten: Strafe setzt voraus, dass der Täter nicht nur eine Verantwortung für die Erfüllung seiner Pflichten trägt, sondern auch für den Rechtsfrieden. Ein Austauschverhältnis besteht nicht nur hinsichtlich der aktuellen Wahrung von Interessen, sondern auch im Hinblick auf deren Achtung für die Zukunft, also die Sicherheit. Den materiellen Grund für die Ausgleichspflicht stellen die vom Täter empfangenen Leistungen der anderen Bürgerinnen und Bürger dar. Weil (und damit) das eigene Leben geschützt und respektiert ist, schuldet man fremdem Leben Respekt. Tut man das nicht, ist Strafe eine Art nachträglicher Bezahlung. Sie vollzieht diese Ausgleichspflicht, um den durch die Tat verursachten Normgeltungsschaden zu beseitigen. Sie kann daher durchaus darüber hinausgehen, denn sie ist nicht ein Analogon zur ungerechtfertigten Bereicherung, sondern Wiedergutmachung des Schadens[64].

b) Worin besteht der Normgeltungsschaden?

Inwiefern erzeugt das durch den Täter geschaffene Ungleichgewicht einen ausgleichspflichtigen Normgeltungsschaden? Dieser besteht in einer nachvollziehbaren Rechtsunsicherheit, denn nur dafür haftet der Täter. Auch hier ist die Geltungsgegenseitigkeit von Rechten und Pflichten der Schlüssel zum Verständnis. Die Gesellschaft verbietet private Gewalt – jedem. Faktisch sind Viktimisierungen eher die Ausnahme. Man erhält Gewaltfreiheit und gibt sie. Einseitige Normbefolgung gibt keinen Sinn, nur gegenseitige: In einer gewaltgeprägten Gesellschaft wäre individuelle Gewaltfreiheit nachteilig und unzumutbar. Das Schwinden der Normakzeptanz wäre verständlich. Das drohende strukturelle Ungleichgewicht, die verständliche Tendenz, den Rechtsfrieden zur Wahrung der eigenen Integrität aufzukündigen, begründet den Normgeltungsschaden und das vergangene Ungleichgewicht legitimiert dann dessen Ausgleich.749

c) Wie beseitigt die Strafe diese verständlichen Gründe, sich nicht mehr an Normen zu halten? Funktionen und Bedeutung der Strafe

aa) Die Funktionen der Strafe

Strafe beseitigt den Normgeltungsschaden nicht nur dadurch, dass sie das Festhalten an der Norm symbolisiert, sondern auch, indem sie den anderen Normadressaten manifest zeigt, dass die Vorteile, die sich der Straftäter durch die Tat verschafft hat, keinen Bestand haben, dass im Gegenteil die Täter Einbußen hinnehmen müssen. Die Einbußen, welche die Opfer erlitten haben, bleiben nicht einseitig und der eigene Verzicht erweist sich im Ergebnis doch als vorteilhaft. Hinzukommen muss die Aufrechterhaltung faktischer Sicherheit. Die Strafe hat also einerseits eine Ausgleichsfunktion, sie stellt Lastengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit wieder her. Darin erschöpft sich der Normgeltungsschaden aber nicht. Die Tat hat das Versagen des Staates als Schutzmacht gezeigt. Das gilt umso mehr, als längst nicht alle Straftaten aufgeklärt werden. Deshalb muss die Strafe auch Sicherungsfunktion haben. Insofern wird zu einem Teil auch die negative Generalprävention in die positive implementiert[65]. Strafe zeigt, dass es sinnvoll ist, Normen zu befolgen und nicht allseitig „aufzurüsten“, und dass die Gesellschaft es nicht duldet, dass sich einzelne einseitig auf Kosten anderer durchsetzen.

bb) Die Grenzen des Ausgleichs

Nur derjenige Normgeltungsschaden darf auf Kosten des Täters beseitigt werden, den dieser zu verantworten hat. Abgewendet werden darf nur die Gefahr des Wegbrechens von Normakzeptanz aus rationalen Gründen. Die Bekämpfung irrationaler Reaktionen durch die Strafe ist unzulässig: Strafe adressiert nicht jene, die sich die Tat zum Vorbild nehmen[66]. Auch Strafbedürfnisse, die ihre Wurzel ganz woanders haben, müssen dort bekämpft werden, wo sie herkommen. Auf sie ist Strafe keine Antwort. Kriminalitätsfurcht beruht meist auf sozialer Verunsicherung, Punitivität ist oft Ausdruck autoritärer Wut. Strafe darf auch nicht reine Symbolik ohne Wirkung sein. Darunter verstehe ich etwa Pönalisierungen, vor allem aber Strafrahmenanhebungen, mit denen die Politik suggeriert, mehr Sicherheit zu schaffen, obwohl insbesondere von einer solchen Strafrahmenerhöhung nach den Erkennt750nissen der Kriminologie kein weiterer präventiver Effekt ausgeht[67]. Ausgleich von Ungerechtigkeit als Selbstzweck durch Strafübel ist unzulässig. Bliebe unsere Gesellschaft ohne Strafrecht genauso zivilisiert wie mit, dann wäre dies illegitim.

d) Kontrast: die klassischen Theorien der Generalprävention

Anders als hier akzentuieren die meisten modernen Theorien der positiven Generalprävention in Anlehnung an Durkheim den Normgeltungsschaden stärker symbolisch. Durkheim hatte dem Strafrecht bestimmte Funktionen zugewiesen: Die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts, Stärkung der Normakzeptanz, die Bestätigung der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung. Er ging (trotz seiner konstruktivistischen Konzeption von Kriminalität) von einer organischen Einheit von Gesellschaft und Staat, von Moral und Recht einer Gesellschaft aus. Diese Einheit werde in der Strafe als Reaktion auf Abweichungen erneut bestätigt[68]. Diese Konzepte werden heute gerne als „empirisch begründete Vergeltungstheorie“[69] wieder aufgegriffen. Ein insgesamt moralisch glaubwürdiges System wirke präventiv. Die Befriedigung von Vergeltungsbedürfnissen habe in diesem Sinne einen konkreten gesellschaftlichen Nutzen, da sie eine Destabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Staates verhindere[70]. Empirisch soll dabei überprüft werden, ob die Strafbewehrung mit den Gerechtigkeitsvorstellungen (nicht notwendig den Strafbedürfnissen) der Bevölkerung übereinstimmt. Die Notwendigkeit der Strafe als Mittel des Erhalts der gesellschaftlichen Einheit und der Akzeptanz der Rechtsordnung wird weitgehend als Prämisse gesetzt[71]. Diese Theorien unterscheiden sich751 von der hiesigen dadurch, dass sie die Funktion der Strafe nicht normativ einhegen und sie bewerten die faktische Bedeutung von Sicherheit zu gering.

e) Zur Berücksichtigung von Sonderlasten der Täter

Ich komme zurück zu meinem Ausgangspunkt: Nicht immer ist die eben formulierte Bedingung eines ursprünglichen Gleichgewichts gegeben. Es ist gestört, wenn der Täter mehr Pflichten einhalten muss, als er an Achtung erfährt, aber auch, wenn Ge- und Verbote nur allgemein gelten, aber inhaltlich nicht reziprok sind und Sonderopfer abverlangen. Dieses Defizit wirkt sich auf die Rechtfertigung der Strafe aus. Erst der staatliche Schutz macht individuelle Rechtsdurchsetzung und Vergeltung illegitim. Ohne Strafrecht müsste der Einzelne selbst dafür sorgen, dass seine Rechtsgüter respektiert werden. Diese „Geschäftsgrundlage“, die lastengleiche Friedensordnung, sieht man unserem materiellen Strafrecht nicht mehr an. Die Illegitimität von Rache und Selbsthilfe macht den Staat zum Garanten für die Sicherheit und Gleichheit. Opferwerdung spielt hier nicht die Rolle der Erklärung der Tat durch soziale Umstände, sondern sie macht die eigene Unterwerfung unter die Tat zu einer mehr oder weniger großen Zumutung. Wer vereinzelt und vor allem nicht gravierend Opfer von Straftaten (Gewalt oder Eigentumsdelikten) geworden ist, für den ist der Saldo meist immer noch positiv, er kommt überwiegend in den Genuss der Rechtstreue anderer. Anders ist dies in Fällen gehäufter Viktimisierungen. Wer sehr häufig Opfer von Gewalt wurde, bei dem wurde selbst zuvor ein verständlicher Normgeltungsschaden erzeugt. Für ihn wäre der Gewaltverzicht einseitige Normbefolgung, und zwar auch dann noch, wenn später diejenigen, die ihm Gewalt zugefügt haben, bestraft worden wären. Strafe beseitigt für ihn den Normgeltungsschaden nur, wenn keine systematische Opferwerdung vorliegt. Straftaten von Benachteiligten haben bisweilen selbst den Charakter stellvertretender Rache und verdienen dasselbe Verständnis, wie das Ausgleichsbedürfnis (noch) normtreuer Bürgerinnen und Bürgern, das der Staat ja auch mit Reaktionen bedient. Für ihn sind die Lasten der Normbefolgung dann zu hoch und können als Sonderopfer zur vollständigen Illegitimität des Verbots oder der Strafe führen.

Das bedeutet zunächst nicht, dass ein solcher Opfertäter Gewalt ausüben darf, wohl aber dass der Unwert der Tat gemildert ist. An sich ist die Relevanz von Gegeninteressen auch dogmatisch anerkannt. Unterschiedliche Belastungen bei der Normbefolgung führen zu unterschiedlichen Bewertungen der Verhaltensnormen. Auch die Vorgeschichte des Täters kann das Verhaltensunrecht merklich reduzie752ren. Sie gehört zwar nicht zum Tatunrecht im engeren Sinne (wie dies im Fall von Notwehr- oder Notstandssituationen der Fall ist), aber sie erhöht (ähnlich wie beim Leinenfänger-Fall[72]) die Opfer, die dem Handelnden abverlangt werden. Die Höhe des verschuldeten Unrechts hängt nicht nur von dem Schädigungspotenzial des Verhaltens ab, sondern auch vom abverlangten Verzicht. Wer viel Geld hat, dem fällt es nicht so schwer, auf Diebstähle zu verzichten. Wer Anerkennung in Schule und Beruf erhält, der muss sie nicht andernorts suchen. Dogmatisch werden allgemeine Belastungen in Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe gegossen, individuelle können zur Unzumutbarkeit der Normbefolgung führen. Erstere suspendieren die Verhaltensnormen, letztere können das Verhaltensunrecht unter die Strafwürdigkeitsgrenze herabsenken.[73] Eine systematische Diskussion über eine Erweiterung der Kategorie der Unzumutbarkeit, die das individuelle Unrecht absenkt, ohne das Verbot gegenüber Dritten zu suspendieren, wäre insoweit notwendig[74]. Meist haben die Verhaltensnormen Bestand (Viktimisierungen rechtfertigen nichts), nur das Strafunrecht ist soweit abgesenkt, dass zwar das Verbot, auch seine Durchsetzung im Zuge der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr, legitim ist, nicht aber die Sanktionierung durch Kriminalstrafe.

Problematisch ist allerdings, ob eine Rechtsordnung, deren Voraussetzung Geltungsgegenseitigkeit ist, ihre eigenen Voraussetzungen noch garantieren kann. Wenn man Opfer-Täter schont, dann gibt man deren Opfern oder auch der Allgemeinheit einen Grund Normen zu brechen. Sind weitere „Opfer-Täter“ nicht die logische Folge der Rücksichtnahme auf den viktimisierten Täter? Führt also dieser Ansatz zwangsläufig in die Anomie?

Das wäre eine Verkürzung des hier vertretenen Ansatzes: Die Herstellung von Wertbewusstsein ist nicht dem Strafrecht vorbehalten, im Gegenteil: In erster Linie erfüllen diese Funktion Mechanismen der Integration, der Sozialkontrolle, sodann753 auch Institute wie Schadensersatz und Wiedergutmachung oder niederschwellige Reaktionen. Zur Herstellung von Normtreue ist das Strafrecht nicht mehr als ein Schlussstein. Gerade in Fällen verbreiteter Anomie muss also die Normgeltung anders als durch Strafrecht hergestellt werden. Diese aus der Rechtfertigung der Strafe hergeleiteten Grenzen der Strafe harmonieren im Übrigen gut mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen: Die entscheidende Rolle bei der Normanerkennung spielt die informelle Sozialkontrolle[75]. Die Annahme, das Strafrecht könnte die Aufgabe übernehmen, Anomie zu beseitigen, scheint auch faktisch eine Illusion zu sein.

3. Aktuelle, „liberale“ Straftheorien

Das sehen aktuelle Straftheorien anders. Im Einklang mit neoliberalen Tendenzen wird die gesellschaftliche Mitverantwortung für Kriminalität übergangen und die Eigenverantwortung des Einzelnen überbetont. Strafe erscheint als Selbstschädigung. Die Geschichte von Gesellschaft und Individuum wird ausgeblendet, die Tat auf einen einzigen Moment eingefroren[76]. Die individuelle Belastung des Täters bei der Normbefolgung ist von untergeordneter Bedeutung. Daraus resultiert ein zu gutes Gewissen beim Strafen, auch sonst benachteiligen diese Konzeptionen die Täter: Seine Perspektive ist tendenziell uninteressant, entscheidend ist der Output, weil (nur) der die Gesellschaft betrifft. Als „liberal“ bezeichne ich diese Theorien – auch wo sie die Vergesellschaftung nicht im Sinne des klassischen Liberalismus vertragstheoretisch vom Individuum her konstruieren[77] –, weil sie auf dem Gedanken der Selbstverwirklichung und -verantwortung basieren, das Individuum insoweit doch als Monade konzipieren und gesellschaftliche Verflechtungen bagatellisieren. Diese Isolation des Individuums aus seinen Bezügen kennzeichnet die Theorien als liberale ebenso wie die Anlehnung an einen Wirtschaftsliberalismus. Der liberalen Fortschrittserzählung zufolge ist es dem Wohl eines jeden Einzelnen förderlich und auch gerecht, wenn jeder seines eigenen Glückes Schmied ist und der Staat höchstens subsidiär Verantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft trägt, sodass er Gleichheit nicht herstellen, sondern allenfalls existenzielle Krisen auffangen soll, was für die Kriminalpolitik von besonderer Bedeutung ist[78].754

Basis dieser Theorien ist die Gewährung gleicher Autonomie durch Sphären, die Immunität sichern und Übergriffe auf fremde Sphären tabuisieren. Weder erhält man volle materielle Gleichheit, noch schuldet man sie, individuelle und gesellschaftliche Solidarität sind selten oder unzureichend.

Finden dennoch Übergriffe auf Sphären Dritter statt, ist Strafe als Folgenbeseitigung legitim. Nach der einen Version soll Strafe das auf die Tat folgende Vergeltungsbedürfnis befriedigen[79] oder sie dient der „Unrechtsverdeutlichung“[80], sie spiegelt idealiter die Strafbedürfnisse der Bürger und dadurch das Gewicht der verletzten Interessen[81]. Nach der anderen wird die Normgeltung symbolisch im objektiven Ausmaß der Pflichtverletzung wiederhergestellt[82]. Ein messbarer präventiver Effekt ist teilweise nicht vorausgesetzt.

Auch diese Theorien basieren also auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit, interpretieren diesen aber anders als hier dargelegt. Es gibt verschiedene Begründungsstränge, darunter drei Synallagmen:

a) Chancengleichheit/Räume zur Selbstentfaltung

Zum einen ist da die Reziprozität der Sphären[83] als Verkörperung gleicher Chancen zur Selbstverwirklichung und Gestaltung[84], deren Gelingen jedem einzelnen obliegt. Übergriffe wälzen tendenziell eigenes Scheitern auf Dritte ab. Das Bild hat eine hohe Suggestivwirkung, ist bei genauer Betrachtung aber schief.

Irreführend ist dabei zunächst das Bild abgeschotteter Sphären, die man sich wie ein eigenes Haus vorstellen kann, das man nur selbst bewohnt. In Wirklichkeit ist Gesellschaft in ständigem Austausch begriffen – nicht nur von Gütern und Leistungen, sondern auch von Kommunikationen, Zugang zu Macht oder Anerkennung, von Teilhabe an Institutionen. Stets geht es um den Zugriff auf Ressourcen, also um Partizipationschancen. Oft verfügen Dritte über vermeintlich fremde Rechtsgüter.755 Es geht also nicht wirklich um eine Tabuisierung scheinbar geschlossener Sphären, sondern um ein Tabu von Zugriffsformen. Anstelle von Gewalt und Nötigung tritt in einer zivilisierten Gesellschaft wechselseitiger privatautonomer Austausch.

Rückt man das Bild so zurecht, wird die gesellschaftliche Schieflage offenbar: Wer partizipieren will, muss eigene Ressourcen einsetzen. Deren Quelle ist niemals allein die eigene Leistung, sondern sind: ursprüngliche Akkumulation, gesellschaftliche Förderung durch Erziehung, Bildung, Gewährung von Arbeit, Integritätsschutz und Anerkennung. Nur wer diese gesellschaftlichen Leistungen erhalten hat, kann partizipieren. Diese Leistungen erhalten nicht alle. Wo sie fehlen, führt der Schutz von „Sphären“ zu privilegierter Ressourcenverteilung und beraubt einige der Möglichkeit sich an legalem Austausch zu beteiligen.

b) Synallagma von Freiheit und Verantwortung

Besonders eindringlich, aber ebenfalls etwas apologetisch und verzerrend ist daneben das Synallagma von Freiheit und Verantwortung[85]. Ihm zufolge werden die Sphären zu black boxes: Die Freiheit von Lenkung bezahlt man, indem man tendenziell am Output gemessen wird, das Abstellen auf Subjektives wird „psychologistisch“[86]: In der Sphäre ist man sein eigener Herr, ob man trinkt, bis in die Puppen schläft, einen Beruf ergreift oder nicht arbeitet, seine Aggressionen korrigiert oder sie pflegt: Niemand redet einem hinein. Dafür muss man die Folgen seines Lebenswandels, auch seines Leichtsinns, selbst ausbaden. Niemand kann sich darauf herausreden, dass Umstände, die sich in seiner Sphäre abspielen, sein Verhalten verursacht hätten. Tut man das dennoch, dann deklariert man sich als unfrei und verantwortungslos; das hat Paternalismus und Verlust der Freiheitssphäre zur Folge, sprich Maßregel bzw. Gefahrenabwehr. So wird es einleuchtend, wenn Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsgut mit Vorsatz gleichstellt werden soll, wenn es etwa bei Rasern nicht auf deren eigene Einschätzung der Situation, sondern vor allem auf deren Rücksichtslosigkeit ankommen soll[87].756

Auch dieses Bild ist schief. Weder ist die Sphäre geschlossen, denn der Alkoholismus kann eine Reaktion auf Opferwerdung oder Benachteiligung sein, noch ist Paternalismus die legitime Alternative zur Freiheit[88]. Soweit die Rechtfertigung der Strafe wegen gesellschaftlicher (Mit-)verantwortung für einen Konflikt brüchig ist, gilt dies vice versa auch für eine Maßregel[89]. Auch hier wären die empfangenen Leistungen der Grund für die Maßregel, aber auch hier fehlt es daran. Paternalismus ist nicht zu rechtfertigen, freilich kann die Abwehr konkreter Gefahren legitim sein, soweit die Verhaltensnorm es ebenfalls ist.

c) Wechselseitigkeit von Frieden

Sodann wird die Wechselseitigkeit von Frieden betont[90]. Dieser Frieden nützt jedem, man kann eigenen Angelegenheiten in Ruhe nachgehen (man bedenke nur, wie von Grimmelshausen oder Norbert Elias das Leben vor dieser Zivilisation geschildert haben).

Die Partizipation am gesellschaftlichen Frieden soll – wie schon bei Hobbes[91] – den unbedingten Schutz des status quo rechtfertigen, selbst dann, wenn er ungerecht ist. Hier wurzelt übrigens die etwas rätselhafte Differenz in der Bewertung von Eingriff und Unterlassen, die den Eingreifenden zum Aggressor und Störer macht und denjenigen, der seine Privilegien wahrt, zum Angegriffenen: Zerstörung von Gesundheit wird völlig anders bewertet als deren unterlassene Rettung, das Vorenthalten von Reichtum ist wesentlich weniger dramatisch als etwa ein Diebstahl. Identische Lebensinteressen wiegen sehr unterschiedlich, je nachdem, ob sie zu Unrecht genommen oder vorenthalten werden[92]. Der Grund dafür ist, dass es nicht materiell um gerechte Verteilung geht (dann käme es hierauf nicht an), sondern formal um Rechtsfrieden und die staatliche Definitionskompetenz bezüglich materieller Verteilung. Das Bild der Friedensstörung verschleiert unter solchen Umständen diese realen Kräfteverhältnisse. Es scheint, als ob Strafrecht die Schwächeren vor den Stärkeren schützt. Wer sich erfolgreich gegen Opfer und Allgemeinheit durchgesetzt hat, ist der Starke, vor dem wir uns schützen müssen. Tatsächlich aber erfolgen Übergriffe oft aus einer Position der (relativen) Schwäche. Das Strafrecht schützt um des Friedens willen häufig einseitig Privilegien.757

Auch dieses Tauschverhältnis „Frieden gegen Frieden“ überzeugt nicht: Der Schutz einer solchen „Institution der Freiheit“ beinhaltet das Verbot sich selbst zu nehmen, was einem gerechterweise zusteht. Aus diesem Selbsthilfeverbot folgt – aus ethischer Perspektive – nach meiner Auffassung eine gewisse Ingerenz für Verteilungsgerechtigkeit. Das Verbot sich selbst zu Gerechtigkeit zu verhelfen, das Gewaltmonopol, wird zur Unterdrückung, wenn es nicht durch die staatliche Aufgabe, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen, flankiert wird. Natürlich steht nicht zur Debatte, dass man kleinere Ungerechtigkeiten um des Friedens willen zu ertragen hat, aber in Fällen, in denen die Verteilung grob ungerecht ist, rechtfertigt die Teilhabe des Benachteiligten am gesellschaftlichen Frieden nicht mehr die Verhinderung einer Umverteilung. Aus diesen Gründen vermag die Teilhabe am gesellschaftlichen Frieden nur in relativ ausgeglichenen Verhältnissen Selbsthilfeverbote und erst recht deren strafrechtliche Bewehrung zu legitimieren.

d) Demokratie/ursprüngliche Vergesellschaftung

Materielle Gerechtigkeit erscheint auch deshalb verzichtbar, weil Strafnormen und Verteilungsfragen demokratisch entschieden werden, formelle Legitimation – Mitwirkung – gleicht das Defizit materieller aus[93].

Ob dies überzeugt, hängt vom Argumentationsziel und von der Argumentationsebene ab. Hier geht es nicht um eine verfassungsrechtliche oder politikwissenschaftliche Fragestellung, sondern um eine ethische: Das bedeutet, alle Argumente sind Beiträge in dem und für den demokratischen Willensbildungsprozess. Daher geht es um die materielle, nicht um die formelle Legitimation von Strafnormen. Hier wird dann relevant, welche Frage zu beantworten ist. Es geht nicht darum, ob Demokratie als Staatsform vernünftig ist, sondern, ob demokratisch zustande gekommene Normen gegenüber dem Individuum eo ipso ethisch legitim sind.

Allenfalls erhebt sich die weitere Frage, ob es neben materiellen ethischen Maßstäben eine ethische Verpflichtung jedes einzelnen geben kann, von Mehrheitswillen getragene Entscheidungen zu respektieren, auch dort, wo sie materiell nicht zu rechtfertigen sind[94]. Aber auch um diese Frage geht es dort nicht, wo (wie hier)758 die Argumentation sich nicht an den Entscheidungsunterworfenen, sondern an die Entscheidenden richtet.

Bisweilen wird gegen das Ansinnen, Strafrecht im Verhältnis zum Individuum zu rechtfertigen, argumentiert, die Rechtsperson sei eine Schöpfung der Rechtsordnung, ein vorrechtliches Individuum existiere nicht[95]. Das ignoriert den Geltungsanspruch von Normen, der die Gleichachtung aller individuellen Interessen impliziert.

Es kann also nicht allein „das Friedens- und Freiheitsprojekt“ Strafe legitimieren, gerechte Strafe setzt (cum grano salis) volle Reziprozität voraus. Wo fehlt sie?

VI. Beispiele für illegitimes Strafrecht

In den folgenden Fällen kann Strafrecht illegitim sein. In den ersten beiden Fällen ist schon das anfängliche Gleichgewicht von Rechten und Pflichten gestört:

1. Inhaltlich nicht lastengleiche Ge- und Verbote sichern ungerechte Ressourcenverteilung ab

Inhaltlich nicht lastengleich sind Strafnormen, die eine grob ungerechte Ressourcenverteilung absichern. Das gilt insbesondere für Eigentums- und Vermögensdelikte, hier ist Strafrecht in vielen Täter-Opferbeziehungen fehl am Platz. Um des gesellschaftlichen Friedens und gesamtwirtschaftlicher Vorteile willen müssen viele ihren Anteil am gesellschaftlichen Glück opfern. Der Mangel an Respekt für fremdes Eigentum ist verständlich, wo das Opfer über großen Reichtum verfügt und der Täter nicht. Keinesfalls darf eine Diebstahlskarriere in eine Haftkarriere münden.

2. Vorausgegangene Viktimisierung: Strafrecht konnte Opfertäter nicht schützen

Auch vorangegangene Viktimisierungen stören die Reziprozität von Rechten und Pflichten. Das Strafrecht hat den Opfertäter nicht geschützt. Bei gehäuften Viktimi759sierungen wird Strafrecht illegitim – selbst dann, wenn die ursprünglichen Täter bestraft worden sein sollten. Normgehorsam ist dann eine Surplusleistung.

3. Andere Benachteiligungen

Andere fremdverursachte Benachteiligungen (wie Armut, Perspektivlosigkeit, mangelnde Schulbildung, Erziehung) hingegen rufen Integrationsmängel hervor und stören die Reziprozität mittelbar.

Bei allen drei Fallgruppen kommen neben oder wegen ursprünglicher Ungleichheiten Sonderlasten bei der Normbefolgung hinzu. Die Motivation zu Legalverhalten fällt schwer: Durch Benachteiligung erzeugte Wut und Kompensationswünsche müssen unterdrückt werden. Normakzeptanz aus Einsicht, automatisierte Normbefolgung sind selten. Argumentative Mechanismen der Konfliktbewältigung, Strategien erfolgreichen Lebens müssen aus eigener Kraft erlernt werden. Rücksicht muss aufbringen, wer sie nicht erfahren hat.

4. Beispiele

Das gilt insbesondere für solche, die früh Gewaltopfer wurden. Sie stehen mangels erlernter Alternativen oft vor der Wahl zwischen Gewalt oder Interessenpreisgabe. Häufig sind Gewaltverbote legitim, nicht aber Strafen. Drogenabhängige müssen sich zur Finanzierung ihrer Sucht als Kleindealer betätigen. Strafe ist hier wegen Viktimisierung und materieller Ungerechtigkeit illegitim: Das Betäubungsmittelgesetz hat ihr Abgleiten in die Sucht nicht verhindert. Die Prohibition macht die Sucht unfinanzierbar und zwingt, entweder erhebliche Schmerzen und Unruhe zu ertragen oder zur Beschaffungskriminalität.

Ein Neudenken gesellschaftlicher Normen ist wichtig. Trotzdem halte ich einige Reformen insbesondere des Sexualstrafrechts für problematisch, die diese Aufgabe dem Strafrecht überantworten. Zwar besteht Handlungsbedarf: Sexuelle Belästigungen oder das sog. Catcalling können bedrohte, aber schon immer überflüssige Machtverhältnisse behaupten oder restaurieren[96]. Dagegen gerichtete Regeln sind ebenso wichtig wie es die Zuschreibung individueller Verantwortlichkeit ist. Unbehagen bereitet mir aber die Strafbewehrung. Normalerweise sind Strafnormen sozialethisch breit akzeptiert. Hier nicht. Handlungssteuerung durch Zwang ersetzt dann Sozialintegration durch Internalisierung: Notwendig ist Abstandnehmen von760 erlernten Rollenbildern und Regeln, bewusstes Ankämpfen gegen Automatismen und Skripte, sowie Erkundigung über neue Regeln. Der vom Strafrecht verlangte Bruch mit der Tradition polarisiert eher. Bisweilen kann Legalverhalten sogar negative Folgen haben: Unterstellt, Sie arbeiten an einer Fakultät, an der man bei Habilitations- oder Berufungsverfahren die Protektion von Kolleginnen aus dem Haus oder mit Näheverhältnissen erwartet. Ihnen wird Korruption angesonnen. Wird diese Praxis ohne Nachdenken und mit gutem Gewissen geübt, werden Sie – wenn sie gesetzmäßig handeln – als unmoralischer Querulant angesehen, verlieren die Achtung ihrer KollegInnen, ihre Wirksamkeit und ihr sozialer Status sind in Gefahr. Man bezahlt in solchen Fällen individuell für kollektive Anomie und Verantwortung. Die überkommene Forderung nach der (hier) faktisch verstandenen sozialethischen Fundierung des Strafrechts hat insoweit vieles für sich. Sozialnormen sollte das Recht auf andere Weise (etwa durch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche) neu verankern und so an sie gewöhnen.

Das positive Recht stellt solche Sonderbelastungen nicht angemessen in Rechnung. Es bringt die Lebenswelt zum Verschwinden: Zum Strafausschluss führen diese Schwierigkeiten nur in Grenzsituationen (Unzumutbarkeit, rechtfertigender oder entschuldigender Notstand). Strafmildernd wirken sie praktisch wie z. T. auch theoretisch nur in sehr akuten Belastungssituationen, Integrationsdefizite und strukturelle Ungleichheiten spielen im Strafrecht weder praktisch noch theoretisch eine Rolle[97].761 Hier müssten neue Regeln zur Zumutbarkeit etabliert werden, die den Strafausschluss regeln, in anderen Fällen (in denen das Strafunrecht nur gemindert ist) müssten explizite Strafzumessungsregeln geschaffen werden, die Strafmilderung für Fälle gravierender sozialer Benachteiligung vorsehen.

VII. Der Beitrag des Strafrechts zur Zivilisation: Die brutalisierende Wirkung von Strafen

1. Keine Strafe ohne Eignung und Erforderlichkeit des Strafrechts zur Sicherung der Zivilisation

Zuletzt soll es um die gesellschaftlichen Auswirkungen eines Strafsanktionssystems gehen. Ich werde hier nicht erneut die kriminologische Diskussion um die Präventionswirkungen aufgreifen, sondern vor allem seine kontraproduktiven Wirkungen ins Auge fassen. Ich gehe (trotz völlig fehlender Evidenz) davon aus, dass Strafrecht in bestimmtem Umfang Straftaten verhindert. Völlig unklar ist, ob dazu nicht außerstrafrechtliche Sanktionen genügen. Sicher wirkungslos und ungeeignet sind Strafschärfungen. Nur unter bestimmten Aspekten untersucht[98] ist aber, wie Strafrecht auf die strafende Gesellschaft zurückwirkt. Es spricht viel dafür, dass es sie auch brutalisiert. Hierzu sollen einige Hypothesen formuliert werden.

Rekapituliert man das Konzept der Zivilisation, das Norbert Elias entworfen hat, dann sind Gesellschaften mit Gewaltmonopol, gewachsener wechselseitiger Abhängigkeit auf der Makroebene[99], auf der mikrostrukturellen Ebene durch folgende Merkmale gekennzeichnet:[100]

  1. Das Sinken der Gewaltbereitschaft

  2. Das Herabsetzen von Scham- und Peinlichkeitsschwellen

  3. Das Steigern der Fähigkeit, innere Vorgänge anderer Menschen zu verstehen

  4. Rationalisierung (Steigerung der Langsicht) und Impulskontrolle762

All dies erfolgt zunächst widerwillig, der Not gehorchend, später automatisch. Das Erlernen des Perspektivenwechsels hat fundmentale Bedeutung: Er ermöglicht neben Verstehen auch Einsicht. Einsicht kann Zwang sukzessiv ersetzen.

2. Wie gelingt Zivilisation der Machthabenden?

Die historische Entwicklung der Zivilisation war zunächst eine einseitige. Achtung, Rücksichtnahme und Gewaltfreiheit waren in erster Linie von unten nach oben geschuldet. Ein Fortschreiten aus dieser Einseitigkeit setzt voraus, dass alle Personen als gleiche respektiert werden, zu Wort kommen und teilnehmen können[101]. Der Weg von Frauen ist beispielhaft und nicht nur Indiz, sondern Motor der Zivilisation: Sie wurden von rechtlosen, nur gewaltunterworfenen Personen zu solchen, denen der öffentliche Raum freistand, die dann in dieser Arena immer mehr Achtung genossen und aktiv wurden[102].

Strafe dagegen konserviert ein einseitiges Machtgefälle innerhalb der Gesellschaft. Die Geschichte des Strafens ist zwar die eines langsamen Absinkens der Brutalität[103]. Doch immer noch ist es ein (zu) brutales Mittel.

a) Der Misserfolg des Gefängnisses ist beispielhaft. Nach Foucault funktioniert es gerade wegen dieses Misserfolgs. Die Haft bringt ein geschlossenes Milieu an Delinquenten hervor und, »indem sich die Delinquenz von den anderen Gesetzwidrigkeiten absetzt, schwebt sie als Drohung über ihnen« und stabilisiert die soziale Ordnung. Strafe erzeugt durch Stigmatisierung neue Kriminalität, aber das ist nicht alles.

b) Strafen treffen auch Unbeteiligte und begünstigen die Perpetuierung von Kriminalität über Generationen. Bei Kindern von Inhaftierten häufen sich Sucht, Verhaltensauffälligkeiten, psychische Erkrankungen und eigene Straffälligkeit.

c) Strafe wirkt zurück auf die strafende Gesellschaft. Dazu einige Hypothesen.

aa) Das Ausagieren von Rache- und Strafbedürfnissen soll deeskalieren. Auf individualpsychologischer Ebene hat sich gezeigt, dass die zugrundeliegende „Katharsisthese“ falsch ist. Das Ausagieren von Aggressionen vermindert diese nicht, im Gegenteil. Übertragen auf das Kollektiv brutalisieren drakonische Strafen die Strafenden. Je höher die Gewalt in Gesellschaften, desto höher die Strafen und Inhaftierungsraten.763

bb) Konfliktbeendigung durch Strafe verstellt den Blick auf alternative Problemlösungen. Kognitive Erwartungen gibt man bei Enttäuschung zugunsten einer Neuorientierung auf. An normativen Erwartungen hält man hingegen fest. Strafe verhindert also gesellschaftliche Lernprozesse. Die Entwicklung von mehr Phantasie für die Bekämpfung struktureller Kriminalitätsbedingungen oder neuer Konfliktlösungsstrategien sind überflüssig. Nicht zufällig sind Konzepte wie „transformative justice“ dort entstanden, wo – wie in schwarzen Ghettos in den USA – Justiz und Polizei de facto nicht zur Verfügung stehen. Einer der wichtigsten Prädiktoren für Normbefolgung ist (auf der Mikroebene) die Normakzeptanz. Durch Integration und Gleichheit ließe sie sich erhöhen, denn sie fehlt, wo diese defizitär sind. Diese Politik könnte die Kosten der Strafverfolgung (ein Haftplatz kostet pro Tag ca. 150 €, die Kosten des Verfahrens kommen hinzu) umschichten.

cc) Die Verhandlung über die Tat vor Gericht hat Tribunalcharakter und verhindert konstruktives Lernen beim Täter. Verantwortungszuschreibungen erschweren einen fruchtbaren Fehlerdialog. Das Strafverfahren mit seinem demonstrativen Charakter, oft herabwürdigendem Gestus und existenzbedrohenden Folgen begünstigt die Abwehr von Verantwortung. In einer positiven Fehlerkultur werden Fehler nicht oder nicht hart bestraft. Sie müssen nicht verborgen werden, man kann daraus lernen. Man arbeitet gemeinsam an den Gründen für Fehler und Strategien zu ihrer Vermeidung.

dd) Der Perspektivenwechsel ist eine Basis der Zivilisation. Er ermöglicht die friedliche Lösung von Konflikten und die Fortentwicklung der Demokratie. Gewaltsame Interessendurchsetzung – auch durch Strafe – kommt hingegen ohne Verständnis des anderen aus. Das Strafrecht folgt dabei einer rigorosen thematischen Begrenzung. Komplexe Lebenswelten werden in einfache Tatbestände gegossen. Die Vorgeschichte des Ereignisses, der soziale Kontext der Lebensgeschichte wird zu einem skizzenhaften Überblick über Eltern, schulischen und beruflichen Werdegang, dominant ist die Kriminalisierungsgeschichte. So wird der Gegensatz zwischen Tätern und Nichttätern überbetont und das falsche Narrativ bestärkt, der Täter sei ganz anders, der „Böse“. Andernfalls müssten wir fragen, wie wohl wir unter gleichen Bedingungen abschneiden würden. Möglicherweise stünde die eigene moralische Belastbarkeit infrage.

VIII. Fazit

Strafe ist nur eine Notlösung, ihr positiver Beitrag zur Zivilisierung ungewiss, sie brutalisiert. Zudem wirft sie schwerwiegende Gerechtigkeitsprobleme auf. Gleichheit muss konkret, nicht als abstraktes Recht bestehen. An erster Stelle sind daher Nachbesserungen bei der Verteilungsgerechtigkeit notwendig. Die Verdrängung764 von Sozialstaat durch Repression hat aufzuhören, partielle Entkriminalisierungen sind angebracht, Strafschärfungen auf Zuruf fehl am Platz, Reaktionen auf Straftaten, auch sanktionierender Art, sind zu entstigmatisieren, Alternativen zu Haftstrafen zu entwickeln.

Online erschienen: 2023-12-15
Erschienen im Druck: 2023-11-28

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 14.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zstw-2023-0029/html
Scroll to top button