Home Social Sciences Klimawandel – kein Thema für die Soziologie?
Article Open Access

Klimawandel – kein Thema für die Soziologie?

  • Andreas Diekmann EMAIL logo
Published/Copyright: March 2, 2024
Become an author with De Gruyter Brill

Der Klimawandel, das drängendste Problem dieses Jahrhunderts, spiegelt sich in der Soziologie kaum wider. In wenigen Jahren wird die globale Erwärmung 1,5 Grad Celsius übertreffen, in einigen Weltregionen liegt sie heute schon darüber. Die Erdwissenschaften haben im Anschluss an Paul Crutzen (2006) mit dem Begriff des Anthropozäns ein neues Zeitalter definiert. Seit den 1950er Jahren setzte ein, was heute „die große Beschleunigung“ genannt wird: Der steile Anstieg der CO2-Emissionen durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe in den Industrieländern. Trotz aller bisherigen Anstrengungen stecken wir heute noch tief im fossilen Zeitalter. In Deutschland und auch weltweit beträgt der Anteil fossiler Energie am Bruttoenergieverbrauch immer noch um die 80 Prozent!

CO2-Emissionen sind die umfangreichsten und gravierendsten „negativen Externalitäten“ des Industriezeitalters. Sie sind nicht-intendierte Nebenfolgen der „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2007), die das globale Kollektivgut eines über Jahrhunderte relativ beständigen Klimas zerstören. Anders als die Ausdünnung der Ozonschicht ist der Treibhauseffekt seit zwei Jahrhunderten bekannt; relativ genaue Ergebnisse zur Größenordnung des Effekts von Kohlendioxid auf das Klima wurden von dem schwedischen Physiker Svante Arrhenius vor mehr als hundert Jahren berichtet; seit Ende der 1950er Jahre gibt es genaue Messungen des beschleunigten Anstiegs von CO2 („Keeling-Kurve“); seit den 1960er Jahren wurde vor den Folgen des Klimawandels gewarnt. Dem Ölkonzern Exxon gelangten Ende der 1970er Jahre relativ genaue Prognosen, während in Kampagnen die Öffentlichkeit getäuscht wurde (Supran et al. 2023). Konnte für das Ozonproblem vergleichsweise rasch nach dessen Entdeckung ein internationales Abkommen erzielt werden (das „Protokoll von Montreal“ im Jahr 1987), haben bis heute 28 Klimakonferenzen nicht erreicht, die Aufwärtsentwicklung der CO2-Emissionen und anderer Klimagase zu stoppen. Weshalb gelang beim Ozon, was bei CO2 nicht gelang? Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist die Klimakrise Folge eines globalen Allmendedilemmas. Solange die Ersetzung fossiler Energie mit Kosten verbunden ist, haben Staaten ein starkes Interesse am Trittbrettfahren. Auch das Paris-Abkommen von 2015 hat das Dilemma nicht gelöst, denn bei Verletzung der eingegangenen Verpflichtungen zur Treibhausgasminderung sind keine Sanktionen vorgesehen (Nordhaus 2020). Anders verhielt es sich beim Ozon. Hier hatten bereits einzelne Staaten, insbesondere die USA, ein Eigeninteresse an einer Lösung. Denn die dadurch vermiedenen Gesundheitskosten übertrafen nach Berechnungen der amerikanischen Umweltbehörde EPA allein in den USA die Kosten der Produktionseinstellung um ein Vielfaches (Sunstein 2007). Nach der „Logik kollektiven Handelns“ (Olson 1965) agierten die USA als „privilegierter“ Akteur. Das Interesse an dem Kollektivgut war bereits für diesen einen Akteur größer als die Kosten. Die Einbindung anderer Länder in das internationale Abkommen hat dann die Kosten nochmals vermindert.

Aber auch für die Klimakrise gilt: Sie ist menschengemacht und kollektive Anstrengungen können den Klimawandel begrenzen (Prävention) und die Folgen mildern (Mitigation). Die Rolle der Sozialwissenschaften für Prävention und Mitigation haben kürzlich zwei Fachzeitschriften der Nature-Gruppe in den Mittelpunkt gerückt. „We are at the beginning of a new era of behavioural climate research“, heißt es in „Nature Climate Research“ (NCC 2022, 1069). Der Schwerpunkt wurde hier auf Verhaltensänderungen gelegt. Mit der Analyse sozialer Strukturen, Netzwerken und Institutionen, von denen maßgeblich die Anreize für die Dekarbonisierung in Wirtschaft und Gesellschaft abhängen, könnte die Soziologie hingegen weiterführende Perspektiven einbringen. Chater und Loewenstein (2023) sprechen vom „i-frame“ und vom „s-frame“. Ersterer bezieht sich auf das individuelle Verhalten, letzterer auf Politiken der Veränderung des „system of rules, norms, and institutions“. Denn mit „nudging“ allein, um es überspitzt zu formulieren, wird die Klimakrise sicher nicht zu bewältigen sein.

Dafür ist die Herausforderung zu groß. Denn wir stehen vor einer tiefgreifenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzung, einer in Anlehnung an Karl Polanyi „großen Transformation“. Die EU plant im „Green Deal“ Klimaneutralität für 2050, Deutschland will das Ziel bereits 2045 erreichen, bis 2030 soll der CO2-Ausstoß (genauer CO2-Äquivalente) laut Klimaschutzgesetz gegenüber 1990 um 65 % sinken. Trotz Rückbau der ehemaligen DDR-Industrie wurden drei Jahrzehnte benötigt, von 1990 bis 2020, um den CO2-Ausstoß um 40 % zu senken. Eine weitere Reduktion um 35 % soll in sieben Jahren gelingen – eine gewaltige Herausforderung! Dabei ist der Rückgang 2023 in erheblichem Maße Sonderfaktoren zu verdanken: der schwächelnden Industrie und dem erhöhten Stromimport. Gleichzeitig zeigt sich, dass der CO2-Preis des EU-Handelssystems Kohle und Braunkohle bei der Stromerzeugung verdrängt (Agora Energiewende 2024).

Langfristige Ziele werden in der Politik schnell formuliert, wesentlich zäher ist die tatsächliche Umsetzung. Die Energiewende, der Ausstieg aus fossiler Energie, verlangt erstens einen gewaltigen Ausbau der Infrastruktur, von regenerativer Stromerzeugung, Ausbau der Übertragungsnetze, Fernwärme, Verkehrsnetze, Ladeinfrastruktur für E-Autos. Zweitens CO2-Abgaben mit Pro-Kopf-Rückverteilung, um Akzeptanz zu erzielen und sozialer Gerechtigkeit Genüge zu tun[1]. Drittens internationale Klimaabkommen, Klima-Club-Anreize gegen Trittbrettfahren von Staaten und Investitionshilfen für Entwicklungsländer, die die besten Voraussetzungen für Solarstrom haben, aber zu wenig Kapital für die Umsetzung. Diese drei Säulen sind zentral für das Gelingen der Transformation (Diekmann 2024). Schon heute ist Solarenergie weltweit die billigste Form der Stromerzeugung; im Eigeninteresse wird sich Solarenergie weltweit durchsetzen (Nijsse et al. 2023). Die enorme Verbilligung von Photovoltaik und Windenergie ist ein Game Changer, der langfristig das Trittbrettfahrer-Problem lösen wird. Nur ist diese Entwicklung zu langsam, um den Klimawandel noch gemäß den „Paris-Zielen“ aus dem Abkommen von 2015 abzubremsen.

Erschwert wird die Energiewende durch Gegenkräfte. Proteste gegen Klimapolitik und Anti-Klimaparteien haben sich längst formiert. Populistische Parteien sehen die Chance, Wählerstimmen durch Klimaleugnung und Anti-Klimapolitik zu gewinnen. Regierungen knicken ein vor Gelbwesten und Traktoren. Pro-Klima-Bewegungen haben an Stärke verloren. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Akzeptanz klimapolitischer Maßnahmen in der Bevölkerung. Ohne Unterstützung durch die Wählerinnen und Wähler kann die Energiewende nicht gelingen. Umweltbewusstsein, Vertrauen in Institutionen und Fairness von Maßnahmen erhöhen die Akzeptanz, wie man aus vorliegenden Studien weiß (Bergquist et al. 2022). Das Umweltbewusstsein ist zwar insgesamt relativ hoch; akzeptiert wird aber eher eine Umweltpolitik „light“. Wie eine Studie des Ariadne-Forschungsteams anhand deutscher Daten zeigt (Levi et al. 2021), werden weniger effektive „Pull-Maßnahmen“ zwar gerne unterstützt, effektive „Push-Maßnahmen“ zum Klimaschutz aber weitgehend abgelehnt. Deshalb haben es populistische Parteien leicht, wirksamen Klimaschutz zu bekämpfen. CO2-Abgaben sind „regressiv“ und belasten kleinere Einkommen (relativ) stärker als Wohlhabende. Werden sie aber ganz oder teilweise als Klimageld ausgezahlt, wendet sich das Blatt. CO2-Abgaben haben dann nicht nur einen Lenkungseffekt (der zu Unrecht und entgegen Ergebnissen empirischer Studien immer wieder bestritten wird), sondern sind dann auch sozial gerecht. Schließlich ist der Ausstoß von CO2 stark rechtsschief verteilt. In einer unserer Studien mit Schweizer Daten waren die Emissionen des oberen Zehntels sechs Mal so hoch wie diejenigen des untersten Dezils (Bruderer Enzler und Diekmann 2019). Da die CO2-Emissionen mit dem Einkommen steigen, würden gerade untere Einkommensgruppen von der Pro-Kopf-Rückerstattung, dem Klimageld, profitieren. Dennoch wird es vulnerable Gruppen mit geringem Einkommen geben, die die Investitionen für die Umstellung auf erneuerbare Energie trotz Förderung und Klimageld nicht stemmen können. In Frankreich waren es Teile der Gelbwestenproteste, die sich aus einkommensärmeren Schichten der Landbevölkerung rekrutierten. Allerdings wurde kurz vorher die Vermögenssteuer abgeschafft, die Erträge aus der erhöhten CO2-Steuer flossen in den allgemeinen Haushalt und an eine Rückerstattung war auch nicht gedacht. Schließlich knickte die französische Regierung ein und verzichtete auf die Erhöhung. Die Gelbwestenproteste sind ein Musterbeispiel dafür, wie Akzeptanz für Klimapolitik in der Bevölkerung zerstört werden kann (Gagnebin et al. 2019).

Welche Auswirkungen die Energiewende auf welche sozialen Gruppierungen hat, sind Forschungsfragen, die sich an die Adresse der Soziologie richten. Soziale Ungleichheit bezüglich Einkommen, Vermögen und anderen Gütern ist eines der Kernthemen der Soziologie. Nicht nur der CO2-Preis hat verteilungspolitische Konsequenzen. Bei Förderungen für E-Autos, solargespeisten Wallboxen, Wärmepumpen und Gebäudesanierung wird eher von unten nach oben verteilt, Maßnahmen zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel kommen (vermutlich) einkommensärmeren Haushalten zugute. Dabei sind auch paradoxe Effekte zu beobachten. Die 2023 nach sieben Jahren eingestellte Subvention für Plugin hybride Fahrzeuge mit dem Ziel der Reduktion von CO2 hat nicht nur die Nachfrage nach hochpreisigen SUVs und das Ausmaß fiktiver Gutschriften für die Flottenemissionen der Automobilindustrie erhöht, sondern nachweislich auch eine Zunahme (!) von CO2-Emissionen hervorgerufen, wie eine akribisch recherchierte Forschungsarbeit mit Tracking-Daten aus Verkehrsapps nachweist (Tsanko 2023). Diese Maßnahme der „Klimapolitik“ hat das Einkommen von wohlhabenden SUV-Fahrern erhöht ebenso wie die Einnahmen der Automobilindustrie. Sie hat der Industrie zur Anrechnung fiktiver CO2-Reduktion auf die Flottengrenzwerte verholfen und gleichzeitig noch den Ausstoß von Treibhausgasen erhöht, statt sie zu vermindern. Dies sind nur einige Beispiele für Folgen und Nebenfolgen von Maßnahmen der Klimapolitik. Die Energiewende wird Gesellschaft und Wirtschaft, die Struktur der Arbeitsplätze, nachhaltig verändern. Warum ist dazu aus soziologischer Forschung so wenig zu hören?

Ein weiteres Verteilungsproblem: Umweltgüter wie grüne Parks in der Nähe des Wohnorts haben ebenso wie Umweltlasten (z. B. Lärm und Luftverschmutzung) eine soziale Dimension. Die Verteilung von Umweltgütern und Umweltlasten nach Sozialstatus kann heute durch die Verknüpfung von Surveydaten mit geo-referenzierten Daten ermittelt werden. Dabei erhält man nicht immer das erwartete Ergebnis einer stark negativen Korrelation von Status und z. B. Lärm. Denn einkommensstarke Haushalte ziehen oft in attraktive Innenstadtlagen. Sie können sich dort aber durch Art, Größe und Ausstattung der Wohnung besser gegen Umweltlasten schützen als ärmere Haushalte (Diekmann et al. 2023).

Der Umbau von Institutionen und Produktivkräften ist ein gewaltiges Unternehmen. Spannungen und Konflikte zwischen Gruppeninteressen sind vorprogrammiert. Die Soziologie ist herausgefordert, mit ihren Theorien, Werkzeugen und empirischer Forschung die Transformation zu begleiten und die Folgen zu analysieren. Dabei wirken sich die globale Klimakrise und die Anstrengungen zur Dekarbonisierung auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche aus, die im Fokus soziologischer Forschung stehen. Urbanisierung („Hitzestress“, „Schwammstädte“), Mobilität und Verkehr, Migration, Entwicklungssoziologie, Wirtschaftssoziologie, soziale Ungleichheit, politische Soziologie, Technik- und Risikosoziologie, soziale Konflikte, soziale Bewegungen usw. Nur zu spüren ist davon in der soziologischen Forschung wenig. Umweltsoziologie hat eher ein Nischendasein und in den anderen Sektionen der Soziologie stehen Klimafolgen nicht oben auf der Prioritätenliste. Von den Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie steht „Wissenssoziologie“ mit 571 Mitgliedern an der Spitze (Zahlen von 2022). Am anderen Ende stehen „Umwelt- und Nachhaltigkeitssoziologie“ mit 71 und „Professionssoziologie“ mit 70 Mitgliedern.

Bis heute liegt ein Schwerpunkt umweltsoziologischer Forschung in Soziologie und Sozialpsychologie auf der Messung von Umweltbewusstsein und der Kluft zwischen Umweltbewusstsein und Verhalten. Pionierarbeiten dazu erschienen 1986 in dieser Zeitschrift von Dieter Urban („Was ist Umweltbewusstsein?“) und Rolf Langeheine und Jürgen Lehmann („Ein neuer Blick auf die soziale Basis des Umweltbewusstseins?“). Vom Umweltbewusstsein hat man sich Verhaltensänderungen erhofft. Heute weiß man, dass Umweltbewusstsein wichtiger ist für die Akzeptanz politischer Maßnahmen. Geringer ist der Einfluss auf das eigene Handeln, falls überhaupt ein Effekt besteht. Hunderte von Studien haben moderate Korrelationen ermittelt, aber es gibt kaum Belege für kausale Effekte (Andersen und Mayerl 2022). Die vielbeschworene Kluft kann man auch aus einer anderen Perspektive sehen. Wenn die meisten Umweltgüter kollektive Güter sind, ist nicht die Kluft zwischen Einstellung und Verhalten erklärungsbedürftig, sondern die Beobachtung, dass Menschen überhaupt altruistisches, umweltgerechtes Verhalten praktizieren. Die Soziologie hat Antworten darauf, dass die „Logik kollektiven Handelns“ nicht ausschließlich zu Trittbrettfahren führt. Soziale Normen, intrinsische Motivation und Reputation spielen eine Rolle. Gesellschaften würden aufhören zu existieren, wenn allein der Homo oeconomicus Regie führte. Nur kann man von den Bürgerinnen und Bürgern nicht erwarten, dass sie umweltbewusst permanent Verzicht leisten, um umweltbewusst zu handeln. Verändert werden müssen soziale Strukturen: Die Infrastruktur, CO2-Preis, die Kosten für Wärme und Mobilität auf Basis regenerativer Energie müssen so beschaffen sein, dass sich umweltgerechtes Handeln lohnt! „Umwelthelden“ sind dünn gesät. In Bertold Brechts „Galilei“ klagt sein Assistent Andrea „Traurig das Land, das keine Helden hat!“. Galilei kontert: „Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat!“. Forschungen und Datenerhebung zum Umweltbewusstsein sind dennoch wichtig. Systematische Erhebungen sind ein Seismograf der einzelnen Dimensionen des Umweltbewusstseins und liefern den Stoff für genaue Analysen der Akzeptanz von Umweltpolitik.

Wie ist es um die soziologische Umwelt- und Klimaforschung in Deutschland, gemessen an Artikeln in Fachzeitschriften, bestellt? Die Zeitschrift für Soziologie ist Spiegel soziologischer Forschung in Deutschland. Ein Blick in das Archiv der Zeitschrift kann Aufklärung geben über Forschungsprioritäten deutscher Soziologie. Dabei ist zu berücksichtigen, dass zu Umweltthemen und Klimawandel in den zahlreichen internationalen Fachzeitschriften publiziert wird, häufig auch in interdisziplinären Journals und natürlich auch in Buchform[2]. Aber das gilt auch für andere Bereiche der Soziologie. Eine Durchsicht der Jahrgänge der ZfS kann zumindest Anhaltspunkte liefern.

Seit ihrer Gründung im Jahre 1972 sind alle Hefte digitalisiert (die ehrwürdige „Kölner Zeitschrift“ hat das bisher nur ab Jahrgang 2000 geschafft!) und die meisten Artikel sind „open access“ zugänglich. Chapeau! Ein Streifzug durch die Jahrgänge ergibt einen einzigartigen Einblick in 50 Jahre deutsche Soziologiegeschichte (Dabei kann man sich leicht festlesen). Ein Jahrgang enthält etwa 25 bis 30 Artikel; insgesamt dürfte also die ZfS bis heute, grob geschätzt, 1300 Artikel publiziert haben. Durchsucht man die Jahrgänge nach den Themen Umwelt, Ökologie, Risiko, Klima usw., stößt man selbst bei großzügiger Auslegung von „Umweltthemen“ gerade einmal auf eine Handvoll Arbeiten, die meisten davon Essays, noch seltener sind empirische Forschungsarbeiten.

Themen der 1970er Jahre sind Wohnen und Sozialräume; in den 1980er und 1990er Jahren findet man hoch abstrakte Diskurse über Risiko, erste empirische Arbeiten über Umweltbewusstsein, Low-Cost-Hypothese, die Wahl von Verkehrsmitteln mit Blick auf Umweltfolgen und eine Arbeit über Umweltethik. Der Anteil der Arbeiten in der ZfS zu Umwelt und Ökologie im weitesten Sinne liegt in den drei Jahrzehnten seit der Gründung der Zeitschrift bis zur Jahrtausendwende im Promillebereich. In diese Zeit fielen die massenhaften Atomkraftproteste, die Gründung der Grünen, die Diskussion um die Grenzen des Wachstums und um Nachhaltigkeit, die Katastrophe von Tschernobyl, die Klimakonferenzen von Rio und Kyoto. Keines dieser Themen findet Eingang in Publikationen in der ZfS. Kann Soziologie noch als „Wirklichkeitswissenschaft“ bezeichnet werden, wenn „die Wirklichkeit“ in ihren Forschungen kaum erkennbar ist? Besonders der Mangel an empirischer Forschung zu gesellschaftlich relevanten Umweltthemen ist auffallend.

Auch in den folgenden beiden Jahrzehnten kommen Umweltthemen nur am Rande vor. So wie die Politik klimapolitisch geschlafwandelt hat, geht es auch der soziologischen Umweltforschung. Immerhin gibt es einige Ausnahmen und auch eine größere Spannbreite von Themen. Im Fokus stehen das Umweltbewusstsein in der EU, in längerfristiger Entwicklung, in Abhängigkeit vom Wohlstand und die Untersuchung von Effekten des Umweltbewusstseins auf das Umwelthandeln in einem Feldexperiment. BSE-Risiko (wer erinnert sich noch?), kollektive Güter, ethischer Konsum, Zahlungsbereitschaft für Umweltgüter und die Umweltbewegung sind weitere Themen. Insgesamt kann man aber die Anzahl der Artikel an einer Hand abzählen. In diesem Zeitraum wurden Treibhauseffekt und Klimawandel in Wissenschaft und Öffentlichkeit zunehmend thematisiert, die EU begann mit dem CO2-Emissions-Handelssystem, die Katastrophe von Fukushima führte in Deutschland zum beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie, in Paris wurde das 1,5-Grad Ziel beschlossen und die „Fridays-for-Future“-Bewegung erhielt weltweite Aufmerksamkeit. Bemerkenswert dagegen ist: Bis zum Jahrgang 2023 der ZfS ist nicht ein einziger Artikel erschienen, der sich mit soziologischen Aspekten der Klimakrise befasst!

Empirische Studien zur Sozialstruktur können heute auf einer reichhaltigen Dateninfrastruktur aufbauen. Anders verhält es sich in der Umweltsoziologie. Zwar gibt es auch für die soziologische Umweltforschung eine ganze Reihe von Datensätzen, die bislang viel zu wenig genutzt wurden (z. B. die Trenderhebung des Umweltbundesamts „Umweltbewusstsein in Deutschland“, deren Daten der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung stehen). Aber es gibt bislang keine umfassende, langfristige Panelerhebung mit qualitativ hochstehenden Daten. Das wird sich künftig ändern. Durch Initiative einer Forschungsgruppe von Soziologinnen und Soziologen der Universitäten in Kaiserslautern, Leipzig und München finanziert die DFG eine Panelstudie mit einer Zufallsstichprobe von ungefähr 20.000 Befragten aus Einwohnermelderegistern (Auspurg et al. 2023). Mit der GLEN-Studie (German Longitudinal Environmental Study) sind zwei Online-Befragungen im Jahr geplant plus zusätzliche „Ad-Hoc-Erhebungen“, mit denen auf aktuelle Vorkommnisse wie Hitzesommer oder Umweltkatastrophen reagiert werden kann. Hinzu kommt ein Papierfragebogen für Onlineverweigerer. Also kein Online-Access-Panel mit selektiver Zusammensetzung, sondern eine offline rekrutierte Panelstudie mit zufällig ausgewählten Personen, die wiederholt befragt werden zu zahlreichen umwelt- und klimarelevanten Themen wie Verkehrsverhalten, Ernährung, Wohnen und Heizen, CO2-Bilanz des Haushalts, Umwelteinstellungen usw. Dieses Projekt dient der Grundlagenforschung und auch der Evaluation von Maßnahmen auf der Mikroebene von Haushalten, z. B. der Reaktion auf die Erhöhung von CO2-Preisen oder gesetzlichen Regeln zur Gebäudesanierung. Die Daten, die mit geo-referenzierten Daten und Informationen zum institutionellen und sozialen Kontext der Umgebung verknüpft werden können, werden nach jeder Welle so schnell wie möglich der Scientific Community zur Verfügung gestellt. Das Panel begleitet die Transformation der Gesellschaft als diagnostischer Seismograf und Grundlage für analytische Studien. Es ist offen für interessierte Forscherinnen und Forscher aller Disziplinen im In- und Ausland. Zu hoffen ist, dass es auch der Umweltsoziologie einen neuen Schub verleihen wird.

Literatur

Agora Energiewende, 2024: Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2023. Rückblick auf die wesentlichen Entwicklungen sowie Ausblick auf 2024. https://www.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2023/2023-35_DE_JAW23/A-EW_317_JAW23_WEB.pdfSearch in Google Scholar

Andersen, H. K. & J. Mayerl, 2022: Is the Effect of Environmental Attitudes on Behavior Driven Solely by Unobserved Heterogeneity? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 74: 381–408.10.1007/s11577-022-00855-2Search in Google Scholar

Auspurg, K., H. Best, C. Bozoyan, A. Diekmann & C. Schmiedeberg, 2023: The German Longitudinal Environmental Study (GLEN). Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). LMU München, RPTU Kaiserslautern, Universität Leipzig.Search in Google Scholar

Beck, U., 2007: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Bergquist, M., A. Nilsson, N. Harring & S.C. Jagers, 2022: Meta-Analyses of Fifteen Determinants of Public Opinion About Climate Change Taxes and Laws. Nature Climate Change 12: 235–240.10.1038/s41558-022-01297-6Search in Google Scholar

Bruderer Enzler, H. & A. Diekmann, 2019: All Talk and No Action? An Analysis of Environmental Concern, Income and Greenhouse Gas Emissions in Switzerland. Energy Research and Social Science 51: 12–19.10.1016/j.erss.2019.01.001Search in Google Scholar

Chater, N. & G. Loewenstein, 2023: The i-frame and the s-frame: How focusing on individual-level solutions has led behavioral public policy astray. Behavioral and Brain Sciences 46, e147: 1–84. doi:10.1017/S0140525X2200202310.1017/S0140525X22002023Search in Google Scholar

Crutzen, Paul J., 2006: The Anthropocene, S. 13–18 in: E. Ehlers & T. Krafft (Hrsg.), Earth System Science in the Anthropocene. Emerging Issues and Problems. Berlin, Heidelberg: Springer. http://ndl.ethernet.edu.et/bitstream/123456789/74935/1/Eckart%20Ehlers.pdf#page=25Search in Google Scholar

Diekmann, A., 2024: Klimakrise. Wege aus dem Dilemma. Baden-Baden: Nomos (im Druck).10.5771/9783748940944Search in Google Scholar

Diekmann, A., H. Bruderer Enzler, J. Hartmann, K. Kurz, U. Liebe & P. Preisendörfer 2023: Environmental Inequality in Four European Cities: A Study Combining Household Survey and Geo-Referenced Data, European Sociological Review 39: 44–66, https://doi.org/10.1093/esr/jcac028.10.1093/esr/jcac028Search in Google Scholar

Gagnebin, M., P. Graichen & T. Lenck, 2019: Die Gelbwesten-Proteste: Eine (Fehler-)Analyse der französischen CO2-Preispolitik. Agora Energiewende 15.3.2019. https://www.agora-energiewende.de/veroeffentlichungen/die-gelbwesten-proteste/Search in Google Scholar

Kuhn, M.& L. Schlattmann, 2024: Distributional Consequences of Climate Policies. Universitäten Mannheim und Bonn: mimeo. https://drive.google.com/file/d/1LPTxG6H6Xr59DLduD5x_NSyPdQbOcq4l/viewSearch in Google Scholar

Levi, S., I. Wolf, C. Flachsland, N. Koch, F. Koller & D. Edmonson, 2021: Ariadne-Analyse. Klimaschutz und Verkehr: Zielerreichung nur mit unbequemen Maßnahmen möglich. Kopernikus-Projekt Ariadne, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. https://ariadneprojekt.de/publikation/klimaschutz-und-verkehr-zielerreichung-nur-mit-unbequemen-massnahmen-moeglich/Search in Google Scholar

Nature Climate Change, 2022: Behaviour as Leverage. Nature Climate Change 12: 1069. https://doi.org/10.1038/s41558-022-01531-110.1038/s41558-022-01531-1Search in Google Scholar

Nijsse, F.J.M.M., J.-F. Mercure, N. Ameli, F. Larosa, S. Kothari, J. Rickman, P. Vercoulen & H. Pollitt, 2023: The momentum of the solar energy transition. Nature Communications. https://doi.org/10.1038/s41467-023-41971-710.1038/s41467-023-41971-7Search in Google Scholar

Nordhaus, W., 2020: The Climate Club. How to Fix a Failing Global Effort. Foreign Affairs 99 (3): 10–17.Search in Google Scholar

Olson, M., 1965: The Logic of Collective Action, Cambridge, MA: Harvard University Press (dt. 1968, Die Logik des kollektiven Handelns. Tübingen: Mohr-Siebeck).Search in Google Scholar

Sonnberger, M., A. Bleicher & M. Groß, 2024: Handbuch Umweltsoziologie. 2.Aufl. Wiesbaden: Springer10.1007/978-3-658-37218-7Search in Google Scholar

Sunstein, C.R., 2007: Of Montreal and Kyoto. A Tale of Two Protocols. Harvard Environmental Law Review 31: 1–65.Search in Google Scholar

Supran, G., S. Rahmstorf & N. Oreskes, 2023: Assessing ExxonMobil’s global warming projections. Science 379 (6628). https://doi.org/10.1126/science.abk006310.1126/science.abk0063Search in Google Scholar

Tsanko, I., 2023: Would you like to super-size your car? The effect of environmental subsidies on emissions. ZEW Discussion paper 23–033. https://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp23033.pdf10.2139/ssrn.4530036Search in Google Scholar

Published Online: 2024-03-02
Published in Print: 2024-02-29

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 10.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zfsoz-2024-2002/html
Scroll to top button