Home Cathrine Fabricius-Hansen/Kåre Solfjeld/Anneliese Pitz:Der Konjunktiv. Formen und Spielräume
Article Open Access

Cathrine Fabricius-Hansen/Kåre Solfjeld/Anneliese Pitz:Der Konjunktiv. Formen und Spielräume

  • Irene Rapp EMAIL logo
Published/Copyright: September 13, 2019
Become an author with De Gruyter Brill

Reviewed Publication:

Cathrine Fabricius-Hansen / Kåre Solfjeld / Anneliese Pitz: Der Konjunktiv. Formen und Spielräume. Stauffenburg Linguistik 100. Tübingen: Stauffenburg, 2018, XVI + 270 S.


Ziel der Monographie ist es, „den deutschen Konjunktiv in seinen vielen Erscheinungsformen, Anwendungsbereichen und Nuancen zu erfassen“ (Klappentext). Dies wurde ohne jeden Zweifel erreicht: meines Wissens gibt es keine andere Abhandlung, die sich derart detailliert, fundiert und systematisch mit dem Thema auseinandersetzt. Alle typischen und peripheren Verwendungsweisen von Konjunktiv I und Konjunktiv II werden abgehandelt und durch authentische Beispiele aus literarischen Texten und Pressetexten veranschaulicht. Schwerpunkt des Buchs ist die Rede- und Gedankenwiedergabe; hier wird nicht nur der darin auftretende Konjunktiv besprochen, sondern das Gesamtsystem, einschließlich des Indikativs in seinen verschiedenen Funktionen. Eine besondere Rolle spielt die bei Rede- und Gedankenwiedergabe auftretende Zeitenfolge (auch bekannt als Tempustransposition oder backshift), und die Einordnung der würde+ Infinitiv-Konstruktion in ihren verschiedenen Verwendungen.

Bevor die Autor/-innen die Funktionen der beiden Konjunktive, ihre Überschneidungen sowie das Verhältnis zum Indikativ untersuchen, wird in Kapitel 1 der Formenbestand des Konjunktivs detailliert dargestellt. Prägnant wird herausgearbeitet, dass fast ausschließlich Hilfsverben (und identische Vollverben) eine starke Markierung des Konjunktiv I/II haben, welche in der Praxis auch tatsächlich Verwendung findet.

Kapitel 2 gibt einen Überblick über die Funktionsbereiche der beiden Konjunktive. Als peripher betrachten die Autor/-innen den Konjunktivgebrauch in volitiven Sätzen (Konjunktiv I), abhängigen irrealen Sätzen (Konjunktiv II) sowie Finalsätzen und Vergleichssätzen mit als (ob) (Konjunktiv I/II). Zentral für beide Konjunktive ist die Verwendung in der Rede- und Gedankenwiedergabe, für den Konjunktiv II zudem der Gebrauch in irrealen (kontrafaktischen oder potentialen) Bedingungssätzen.

Kapitel 3 thematisiert den irrealen Konjunktiv II in Bedingungssätzen (1) und zeigt dessen Verwandtschaft mit irrealen Deklarativsätzen und Wunschsätzen auf. Beide Satztypen werden als verkappte irreale Konditionalgefüge betrachtet, wobei bei den irrealen Deklarativsätzen z. B. ein Adverbial als Antezedens dient (2) und bei Wunschsätzen das Konsequens implizit bleibt (3):

  1. Wenn Blatter jene 18 Voten nicht bekommen hätte, hätte er die Abstimmung verloren. (S. 49, [26’])

  2. Ohne jene 18 Voten hätte Blatter die Abstimmung verloren […]. (S. 49, [26])

  3. Hätte Blatter doch jene 18 Voten nicht bekommen! (Beispiel hinzugefügt, I. R.)

Um die Parallelen zwischen den genannten Satztypen noch deutlicher zu machen, hätte hier der Begriff der Präsupposition durchgängiger verwendet werden können. Es wird zwar angedeutet, dass bei kanonischen kontrafaktischen Konditionalgefügen die Falschheit des Antezedens präsupponiert wird, andererseits wird diese Analyse nicht explizit auf die kontrafaktischen Deklarativsätze und Wunschsätze ausgedehnt: so wird nicht nur durch (1), sondern auch durch den kontrafaktischen Deklarativsatz (2) und den kontrafaktischen Wunschsatz (3) präsupponiert, dass Blatter die 18 Voten tatsächlich bekommen hat.

Kapitel 4 wendet sich dem Hauptthema des Buchs zu, der indirekten Wiedergabe. In Anlehnung an Fabricius-Hansen (2002) werden abhängige Redewiedergabe, abhängige Gedankenwiedergabe, selbstständige Redewiedergabe (berichtete Rede) und selbstständige Gedankenwiedergabe (erlebte Rede) unterschieden. Ein Schwerpunkt des Kapitels liegt auf dem Tempussystem der indirekten Wiedergabe. Während beim Konjunktiv das Tempus strikt figural motiviert ist, enthält das indikativische System Mehrdeutigkeiten:

  1. Elena sagte vor einer Stunde, dass alle Eingeladenen da waren. (S. 92, [9])

Das Präteritum in (4) kann einerseits figural gedeutet werden, d. h. Elenas Behauptung gilt für eine Zeit vor ihrer Äußerung. Andererseits ist eine Tempustransposition möglich, bei der die (aus Autorenperspektive) betrachtete Wiedergabezeit – also genau die Zeit, zu der Elenas Äußerung stattfindet – als Referenzzeit dient.

In Kapitel 5 wird die Frage gestellt, was die Wahl zwischen Indikativ und Konjunktiv bei der indirekten Wiedergabe steuert. Eine Differenzthese – d. h. die Annahme, dass sich die Bedeutung immer dem Modus gemäß verändert – wird ebenso verworfen wie die Äquivalenzthese; letztere kann alleine schon dadurch widerlegt werden, dass die berichtete Rede fast durchgehend den Konjunktiv als Redewiedergabemarker einsetzt. Interessanterweise zeigen eingebettete V2-Sätze eine große Nähe zur berichteten Rede, insofern auch sie stark zum Konjunktiv tendieren. Zudem erfordern sie bei Einbettung unter direktive Verben im Allgemeinen ein Modalverb (5) – das gleiche Phänomen zeigt sich bei selbstständigen Direktiva in der berichteten Rede (6):

  1. Anfang der fünfziger Jahre […] verlangte der Onkel, er solle sich zum Militärdienst melden […] (S. 128, [74a])

  2. Störmer solle sich melden. (S. 133, [99])

Die Autor/-innen folgern, dass eingebettete V2-Sätze zur syntaktischen Unabhängigkeit tendieren, verstärkt noch bei Fällen mit nachgestellter oder eingeschobener Redeeinführung und im Falle von so-Parenthesen. Besonders interessant sind andererseits Fälle, bei denen der Konjunktiv innerhalb eines Satzgefüges nur einen Relativ- oder Adverbialsatz betrifft:
  1. Der Professor vermißt in dem „verhaltenen Aufschwung“ das Mitreißende, das letztlich die erwünschte wirtschaftliche Sicherheit verheiße. (S. 151, [152a])

Ein Schlüssel zum Verständnis derartiger Fälle könnte sein, dass hier zwar kein Redeeinleiter vorhanden ist, jedoch im Matrixsatz immer über Kommuniziertes gesprochen wird – nach verbreiteter Terminologie handelt es sich also um erzählte Rede, in die eine tatsächliche Redewiedergabe eingebettet ist.

Kapitel 6 befasst sich damit, welcher Konjunktiv bei der indirekten Wiedergabe präferiert verwendet wird. Neben der eher stilistischen Konjunktiversatzregel, durch die der Konjunktiv I bei Formgleichheit mit dem Indikativ durch den Konjunktiv II ersetzt wird, spielen hier folgende Faktoren eine Rolle: Matrixverben wie bestreiten, die eine irreale Bedeutungskomponente haben, begünstigen den Konjunktiv II, volitive Verben wie hoffen, bitten dagegen den Konjunktiv I. Mir hat sich darüber hinaus die Frage gestellt, ob nicht auch für das Deutsche eine gewisse Art von Zeitenfolge zum Tragen kommt – so scheint nach einem einleitenden Verb im Präteritum eine gewisse Tendenz zum Konjunktiv II bestehen, vgl. hierzu die Beispiele auf S. 158, z. B.:

  1. Er fragte sie als erstes, wo sie herkäme. (S. 158, [4])

Zudem thematisieren die Autor/-innen Fälle, bei denen der Konjunktiv II ambig ist zwischen Wiedergabebedeutung und irrealer Bedeutung. Diese schwierigen und oft in ihrer Interpretation kaum festzulegenden Fälle werden durch eine Reihe gut ausgesuchter Korpusbelege veranschaulicht.

Kapitel 7 geht die komplexe Frage an, welcher Indikativ in der indirekten Wiedergabe gewählt wird – entweder der figural motivierte Indikativ, bei dem das Tempus sich nach der Perspektive der Figur richtet, oder der transponierte Indikativ. Generell kann Tempustransposition nur stattfinden, wenn die Wiedergabezeit vor dem Autoren-Jetzt liegt, also nicht bei vorweggenommener Wiedergabe. Ein entscheidender Punkt zum Verständnis der Tempustransposition (= backshift) hätte m. E. noch stärker betont werden sollen: Tempustransposition ist nicht mit einer autoralen Perspektive identisch, da die Referenzzeit beim Präteritum nicht einfach vor dem Autoren-Jetzt liegt; vielmehr ist sie durch die Identifizierung mit der Wiedergabezeit genau festgelegt. Konsequenterweise wird für Ereignisse in der Zeit zwischen Wiedergabezeit und Autorenjetzt nicht das Präteritum verwendet (dies entspräche einer konsequenten Autorenperspektive), sondern die würde-Konstruktion, die die Perspektive der Figur aufnimmt. Diese Sichtweise ist allerdings nicht immer konsequent durchgehalten – so wird Tempustransposition teilweise mit autoraler Verankerung gleichgesetzt (z. B. in Kapitel 7.3). Zudem ist die Darstellung der Korpusproben, durch die die Häufigkeit der beiden Verankerungen überprüft werden soll (S. 176, 179 ff.), nicht immer durchsichtig.

Kapitel 8 fasst die Modus- und Tempusverteilung für die verschiedenen zeitlichen Konstallationen zwischen Autoren-Jetzt, Wiedergabezeit und Ereigniszeit bei der indirekten Wiedergabe zusammen. Die schematische Darstellung, illustriert durch introspektive Beispiele, ist äußerst gut gelungen. Einige Schaubilder runden die Darstellung ab, bevor ein sehr erhellender kontrastiver Vergleich des Deutschen mit dem Englischen, dem Norwegischen und dem Französischen erfolgt; alles Sprachen ohne Konjunktiv und mit regelmäßiger Tempustransposition.

In Kapitel 9 wird Bilanz gezogen. Für Indikativ I/II und für Konjunktiv I/II werden die möglichen Funktionen vergleichend zusammengefasst, bevor nochmals die würde-Konstruktion analytisch betrachtet wird. Neben der Funktion als Futur des Konjunktiv I wird sie als zukunftsbezogene Form beim backshift analysiert. Schließlich findet man sie auch (was hier erstmals erwähnt wird) als autoral verankerte Form (9), parallel zum sogenannten Schicksals-sollte (10):

  1. […] Erst am nächsten Tag würde ihr auffallen, daß kein anderes Datum aufgeschlagen war […] (S. 239, [24])

  2. […] Erst am nächsten Tag sollte ihr auffallen, daß kein anderes Datum aufgeschlagen war […] (S. 240, [24’])

Schon mit Blick auf die würde-Konstruktion, aber auch begründet durch die breite Auffächerung von Zuordnungen zwischen Form und Funktion wird resümiert, dass sich Konjunktivgebrauch und Rede-/Gedankenwiedergabe im Deutschen nicht strikt kompositional ableiten lassen.

Cathrine Fabricius-Hansen, Kåre Solfjeld und Anneliese Pitz ist es gelungen, mit diesem Buch alle Facetten des Konjunktivgebrauchs auszuloten, detailliert und scharfsinnig zu analysieren und zudem für den Bereich der Redewiedergabe eine umfassende Gegenüberstellung der Funktionen von Konjunktiv und Indikativ zu erstellen. Bezüglich des Literaturüberblicks zu den einzelnen Themen ist die Monographie ebenso musterhaft wie dadurch, dass sie weitestgehend mit authentischen Beispielen aus literarischen Texten und Pressetexten arbeitet. Die Darstellungen und Analysen sind keiner bestimmten Theorie verpflichtet, es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Autoren sich bestens mit den einschlägigen semantischen Theorien auskennen und diese in ihre Argumentation miteinbeziehen können. Alle zukünftigen Theorien zu Konjunktivverwendung und Wiedergabe werden sich daran messen lassen müssen, ob sie dem hier dargestellten komplexen System mit all seinen Besonderheiten und Verästelungen gerecht werden können. Was die würde-Konstruktion betrifft, so ist – auch bzgl. ihrer Klassifikation – das letzte Wort sicherlich nicht gesprochen: dies betrifft sowohl ihre Einordnung als konjunktivisch, indikativisch oder modusneutral als auch ihre (figurale, transponierte, autorale) Verankerung in den verschiedenen Verwendungsweisen. Auch hier setzt die vorliegende Monographie jedoch einen Standard an deskriptiver Genauigkeit und analytischer Schärfe, der nicht leicht zu überbieten sein wird.

Literatur

Fabricius-Hansen, Cathrine. 2002. Nicht-direktes Referat im Deutschen – Typologie und Abgrenzungsprobleme. In Cathrine Fabricius-Hansen, Oddleif Leirbukt & Ole Letnes (eds.), Modus, Modalverben, Modalpartikeln, 7–28. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier.Search in Google Scholar

Published Online: 2019-09-13
Published in Print: 2019-11-03

© 2019 Fabricius-Hansen et al., publiziert von De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 Public License.

Downloaded on 29.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zfs-2019-2001/html
Scroll to top button