Grundsätzliche Aspekte genossenschaftlicher Forschung und Praxis: Pluralismus - Ethik - Verantwortung
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Johannes Blome-Drees
1 Pluralismus
Im Hinblick auf das Verhältnis von Genossenschaftswissenschaft und Genossenschaftspraxis kann von einem Förderungsauftrag der Genossenschaftswissenschaft für die Genossenschaftspraxis gesprochen werden. Die Genossenschaftswissenschaft soll die Genossenschaftspraxis unterstützen, um zu deren Rationalisierung beizutragen. Generell ist mit Rationalisierung der Erwerb und die Verwendung von Wissen angesprochen. Die angestrebte Rationalisierung bezieht sich nach hier vertretener Auffassung daher auch auf die Genossenschaftswissenschaft. Wenn Genossenschaftswissenschaftler und Genossenschaftspraktiker kein ausreichendes Wissen über relevante Alternativen haben, entstehen Opportunitätskosten, die den entgangenen Nutzen der nicht gewählten Handlungsalternativen ausdrücken. Kosten entstehen aber nicht nur durch alternative Handlungsmöglichkeiten, die Entscheidern bekannt sind und nicht realisiert werden können; Kosten umfassen auch die Alternativen, die Entscheidern ex ante überhaupt nicht bewusst sind. Die Rationalität der Genossenschaftswissenschaft hängt daher im Wesentlichen davon ab, dass alternative Theorietraditionen auf dem Markt sind, zwischen denen Genossenschaftswissenschaftler gemäß ihren Präferenzen wählen können. Wo es keine Alternativen gibt, bedarf es keiner Entscheidungen. Ein Wettbewerb der Theorien ist effizient, wenn die Rahmenbedingungen der Genossenschaftswissenschaft eine Pluralität der Theorien fördern. Insofern erhöht der hier geforderte Pluralismus die Transparenz der Kostensituation der Genossenschaftswissenschaft, denn ohne eine Vergegen-Fertigung der Kontingenz werden Kosten falsch eingeschätzt. Man geht dann vorschnell von Denk- und Handlungszwängen aus, die nicht notwendigerweise bestehen. Dies gilt auch für die Genossenschaftspraxis, deren Strategien ebenfalls Gegenstand von Entscheidungen sind, für die es grundsätzlich immer Alternativen gibt. Es gibt keinerlei Festlegungen, zu denen keine Alternativen existieren. Daher kann die Genossenschaftspraxis nicht deshalb rationaler handeln, weil sie bestimmten Denkschemata folgt, sondern weil sie - ökonomisch formuliert - im Rahmen ihrer unternehmerischen Planungen über die grundsätzlichen Kosten ihrer Entscheidungen besser informiert ist (Blome-Drees 2011, S. 88).
Die Wissenschaft bietet keinen Hort der Gewissheit. Da sämtliche Wissenschaften Menschenwerk sind, ist ihnen eine Pluralität von Ideen und darauf gerichteten Konzeptionen - auch aus moralischen Gründen - geboten. Neue Konstruktivisten wie Heinz von Foerster warnen seit langem vor einem übertriebenen Glauben an die Möglichkeiten Wahrheit oder Gewissheit verbreitender Wissenschaften. Von Foerster urteilt folgendermaßen: „Für mich ist diese Sicherheit des Absoluten, die einen Halt geben soll, etwas Gefährliches, das einem Menschen die Verantwortung für seine Sicht der Dinge nimmt. Mein Ziel ist es, eher die Eigenverantwortung und die Individualität des einzelnen zu betonen. Ich möchte, dass er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen und seinen persönlichen Anschauungen zu vertrauen. [...] Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist – und immer auch anders agieren könnte – kann verantwortlich handeln“ (Foerster/Pörksen 1998, S. 40).
Wissenschaftliche Erkenntnisse verändern die Gesellschaft, indem sie die Art und Weise verändern, wie Menschen denken und handeln. Kein Wissenschaftler kann diese Veränderungen kontrollieren oder vorhersagen. Karl Raimund Popper, der Begründer des Kritischen Rationalismus, dem sich viele Ökonomen immer noch verbunden fühlen, hat deutlich darauf hingewiesen, dass die Entscheidungen der Wissenschaftler zur Verfolgung bestimmter Theorien und Methoden aus moralischen Gründen erfolgen sollten. Damit ist auch die Entscheidung für den Kritischen Rationalismus selbst für Popper eine Gewissensentscheidung, also eine Entscheidung, die auf moralischen Unterscheidungen beruht (Popper 1995, S. 15). Auch Hans Albert erklärt, dass die Annahme einer bestimmten Theorie oder Methode eine moralische Entscheidung beinhaltet (Albert 1991, S. 49). Insofern kann die Bekenntnis zur Pluralität von Theorien und Methoden auch als ein moralisches (re-)konstruiert werden. Menschen müssen angesichts der Kontingenz selbst wählen, wem und was sie glauben wollen. Kontingenz impliziert Pluralität und die Anerkennung der Pluralität delegiert Entscheidungen an jeden Einzelnen. Dabei gibt es nicht die Methode oder die Lebensform, die Gewissheit verkörpert. In diesem Sinne fordert Heinz von Foerster „die Vielzahl der Möglichkeiten zu bedenken: Wir sind frei zu wählen, wir sind frei uns zu entscheiden. Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln“ (Foerster/Pörksen 1998, S. 37f.).
Vor diesem Hintergrund hat Werner Wilhelm Engelhardt immer wieder auf den außerordentlichen Erkenntnispluralismus der genossenschaftlichen Lehrgeschichte hingewiesen. Auch die genossenschaftliche Ideen- und Realgeschichte ist Spiegelbild für die Vielgestaltigkeit der Welt, ihrer Lebensformen und ihrer Gedanken sowie Überzeugungen (Engelhardt 1985). Wie kaum ein anderer hat wiederum Georg Draheim die Vielgestaltigkeit der weltanschaulichen Grundlagen von Genossenschaften verdeutlicht, indem er acht verschiedene genossenschaftliche Leitideen herausarbeitete. Es lohnt sich, diese hinsichtlich der immer wiederkehrenden Debatte über die weltanschaulichen und politischen Grundlagen der Genossenschaften in Europa auch in der Gegenwart ins Gedächtnis zu rufen. Der genossenschaftliche Unternehmenstyp kann nach Georg Draheim als konservativ, fortschrittlich, liberal, demokratisch, sozial, sozialistisch, individualistisch, kollektivistisch und antikapitalistisch angesehen werden (Draheim 1952, S. 15).
2 Ethik
Der hier vertretenen Genossenschaftswissenschaft geht es um eine Pluralität von Wissenskonstruktionen. Sowohl der Fortschritt der Genossenschaftswissenschaft als auch die Rationalisierung der Genossenschaftspraxis sind an einen pluralistischen Erkenntnisstil gebunden. Dies gilt auch für ethische Fragestellungen. Die philosophische Ethik stellt verschiedene Ethiktheorien bzw. -konzeptionen zur Verfügung, zwischen denen sich die Akteure entscheiden können (van Aaken/Schreck 2015). Dabei geht es nicht um die Entscheidung für eine bestimmte Ethikkonzeption. Ethische Argumentationen können in manchen Kontexten viabel sein, in anderen scheitern (van Aaken 2007, S. 248).
Die regulative Leitidee einer genossenschaftlichen Ethik ist - generell formuliert - die Besserstellung aller betroffenen Stakeholder im genossenschaftlichen Kooperationsprozess, wobei die genossenschaftliche Ethik eben keine Aussagen macht, welche konkreten Ideen und Interessen Individuen und Gruppen gesellschaftlich und wirtschaftlich verfolgen sollten. Der Sinn des genossenschaftlichen Handelns besteht darin, einen Fortschritt in der authentischen Befriedigung der Ansprüche der direkt oder indirekt vom Handeln einer Genossenschaft Betroffenen zu erzielen. Deren Ansprüche werden zudem nicht als gegeben hingenommen. Ihre Authentizität und moralische Begründbarkeit sowie die Möglichkeit ihres Wandels bilden Fragestellungen, denen sich Genossenschaften in expliziter Weise zuzuwenden haben. Die Forderung nach einer möglichst authentischen Berücksichtigung von Ansprüchen wird auf einen möglichst wenig manipulativen Umgang mit diesen Ansprüchen zurückgeführt (Blome-Drees 2008, S. 19).
Der genossenschaftliche Erfolg ergibt sich aus der ständigen Auseinandersetzung mit den durch das Handeln einer Genossenschaft betroffenen Ansprüchen. Die Genossenschaft wird demnach nicht nur als eine Einrichtung ihrer Mitglieder angesehen, sondern als ein Unternehmen, das einer Vielzahl von Stakeholdern gegenübersteht, deren Ansprüche sie in ihr Kalkül einzubeziehen hat. Es sind gerade die zivilgesellschaftlichen Qualitäten sowie die moderne Verbindung von Eigensinn und Gemeinsinn, die die Genossenschaften als Unternehmen interessant machen. In diesem Sinne kann Genossenschaften auch ein aktiver Beitrag zur Erzielung von Gemeinwohlpotentialen zugewiesen werden. Wir sind der Überzeugung, dass sich Genossenschaften glaubwürdig zu ihrem konkreten Gemeinwohlbeitrag äußern können, dass sich Genossenschaften über die Selbstbindung an einen spezifischen Auftrag profilieren und auf das Interesse ihrer Mitglieder an gesellschaftsverträglicher Unternehmensführung zählen können (Blome-Drees 2018, S. 236). Das zentrale Element der genossenschaftlichen Unternehmenspolitik ist gleichwohl die Verantwortung gegenüber ihren Mitgliedern. Genossenschaften haben in der Marktwirtschaft die gesellschaftliche Aufgabe, ihre Mitglieder mit guten, preiswerten und innovativen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Die grundlegende gesellschaftliche Verantwortung von Genossenschaften besteht in der effektiven und effizienten Erledigung dieses Kerngeschäftes. Das ist ihr institutioneller Sinn, oder moderner ausgedrückt, ihr Purpose. Nachhaltige Förderung der Mitglieder unter Wettbewerbsbedingungen ist in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ihre moralische Pflicht (Blome-Drees 2014, S. 164).
Genossenschaften sind Vorteilsgemeinschaften auf Gegenseitigkeit. Die unternehmerischen Entscheidungen und Handlungen einer Genossenschaft sind daher anhand ihres Beitrags für die „Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil“ (Rawls 1979, S. 105) zu bewerten. Vorteil meint hier die freie, also selbstbestimmte Verfolgung und Verwirklichung eigener Interessen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Doch fast alle Ziele, die man erreichen will, wird man nur mit Hilfe anderer und in Kooperation mit ihnen erreichen können. Freiheit lässt sich nur in Zusammenarbeit mit anderen verwirklichen. Diese Idee bringt den Kern aller Genossenschaften auf den Punkt: „Was der Einzelne nicht vermag, das vermögen viele“ (Friedrich Wilhelm Raiffeisen). Menschen schließen sich - ohne ihre Selbstständigkeit aufzugeben - freiwillig zusammen, weil sie bestimmte Ziele gemeinsam besser oder überhaupt erst erreichen können als allein. In Genossenschaften will sich jeder selbst helfen, aber zusammen mit anderen. In Genossenschaften geht es nach Volker Beuthien „daher weder um Eigennutz vor Gemeinnutz noch um Gemeinnutz vor Eigennutz, sondern um Eigennutz durch und im Gemeinnutz!“ (Beuthien 2003, S. 8). Der Grundsatz der Förderwirtschaftlichkeit folgt der Devise: „Eigennutz nur im Gemeinnutz“ (Beuthien 1989, S. 20).
Ein ethischer Imperativ der genossenschaftlichen Agenda könnte demnach in Anlehnung an John Rawls lauten: Investiere in die genossenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil! Aus dem ethischen Imperativ einer Genossenschaft ergibt sich als Heuristik für den Vorstand: Suche im Status quo nach besseren Alternativen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil! Ein wichtiges Merkmal des ethischen Imperativs ist, dass er systematisch von der Frage der Verwirklichung unternehmerischer Ziele und Strategien her konzipiert ist und dass der Status quo dabei grundsätzlich den Ausgangspunkt bildet. Das Kennzeichnende des Status quo ist, dass er gegeben ist; von ihm her müssen alle Versuche beginnen, zur Besserstellung der Mitglieder und anderer Stakeholder beizutragen. Sollen und Wollen impliziert Können! Auch die Grenzen der Verantwortung müssen systematisch aufgezeigt und gleichsam begründet werden (können) (Blome-Drees/Schmale 2019, S. 73).
Ethische Imperative sind Grundsätze, die dem unternehmerischen Denken die Richtung zu sinnstiftenden Zusammenhängen geben. Sie sind normative Ideale, auf die hin die ethischen Überlegungen zu Fragen des richtigen, d.h. moralischen Handelns von Unternehmen ausgerichtet werden sollen. Ein weiterer ethischer Imperativ der genossenschaftlichen Agenda könnte in Anlehnung an Heinz von Foerster lauten: Handle stets so, dass weitere genossenschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten entstehen![1] Auch dieser ethische Imperativ fragt danach, was gemäß dem geltenden Werteverständnis gemacht werden soll und kann. Heinz von Foerster setzt dabei auf die Betonung der Eigenverantwortung und Individualität des Einzelnen, denn in der Verwirrung, die neue Möglichkeiten sichtbar werden lässt, manifestiert sich für ihn ein ethisches Grundprinzip, wodurch sich auch die Freiheit des Anderen und der Gemeinschaft vergrößern soll. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen 1 Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen, denn nur wer frei ist und immer auch anders handeln könnte, kann verantwortlich handeln (von Foerster 1993, S. 49).
3 Verantwortung
Das zentrale Element einer genossenschaftlichen Unternehmenspolitik ist nach dem bisher Gesagten die Verantwortung gegenüber den vom Handeln einer Genossenschaft Betroffenen, die - der bisherigen Argumentation folgend - nach Peter Ulrich und Ulrich Thielemann als „Selbsteinsatz aus Freiheit“ (Ulrich/Thielemann 1992, S. 17) definiert werden kann, womit nicht nur die innere Willensfreiheit gemeint ist, die regelmäßig für ein verantwortungsvolles Handeln vorausgesetzt wird, sondern auch die notwendige Bedingung eines äußeren Entscheidungs- und Handlungsspielraums. Die faktische Wirksamkeit des in einer Genossenschaft vorherrschenden Moral- und Verantwortungsbewusstseins ist demzufolge also immer auch von den gegebenen Möglichkeiten abhängig. Dies bedeutet, dass der „Selbsteinsatz aus Freiheit“ zwar grundsätzlich vom Selbstverständnis der jeweiligen Genossenschaft abhängt, dass verantwortliches Handeln aber immer auch Entscheidungs- und Handlungsspielräume voraussetzt (Blome-Drees 2007, S. 95).
Genossenschaften sollten mit ihrer unternehmerischen Freiheit vertrauensvoll und verantwortlich umgehen. Vertrauen ist ein Interaktionsbegriff. Es geht immer um Beziehungen zu anderen, die ein einzelner Akteur beeinflussen, aber nicht kontrollieren kann. In den Worten von Diego Gambetta: „Vertrauen kann definiert werden als Mittel, um mit der Freiheit der anderen zurechtzukommen“ (Gambetta 2000, S. 220). Und das gilt grundsätzlich für beide Seiten - den Vertrauensgeber und den Vertrauensnehmer. Verantwortlich umgehen bedeutet, die berechtigten Vertrauenserwartungen anderer, die von ihrem Handeln betroffen sind, zu erfüllen. Dies ist die wichtigste Bedingung gelingender Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil, in die es entsprechend zu investieren gilt.
Wie können Genossenschaften anderen ihre Vertrauenswürdigkeit signalisieren? Um es mit Niklas Luhmann zu formulieren: „Wer sich Vertrauen erwerben will, muss [...] in der Lage sein, fremde Erwartungen in die eigene Selbstdarstellung einzubauen“ (Luhmann 2009, S. 80f.). Vertrauenswürdigkeit ist eine allgemeine Eigenschaft des Vertrauensnehmers, die sich darin äußert, dass man in Entscheidungs- und Handlungssituationen mit Entscheidungs- und Handlungsspielräumen die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Selbstbindung in einer Weise aufweist, dass die Vertrauenserwartungen des Vertrauensgebers erfüllt werden.
Daraus lassen sich die beiden entscheidenden Merkmale von Vertrauenswürdigkeit herleiten: Kompetenz und Integrität. Eine vertrauenswürdige Genossenschaft sollte mithin ein kompetenter und integrer Partner ihrer Mitglieder/Kunden und anderer Stakeholder sein. Gerade im Wirtschaftsleben ist Kompetenz als Merkmal von Vertrauenswürdigkeit enorm wichtig. Kompetenz ist allerdings keine hinreichende Bedingung für Vertrauenswürdigkeit. Es ist leicht vorstellbar, dass jemand seine Fähigkeiten in opportunistischer Weise zur Verfolgung seiner eigenen Ziele ohne Rücksicht auf die (legitimen) Interessen, Ansprüche und Rechte anderer einsetzt. Das Herzstück von Vertrauenswürdigkeit ist Integrität. Diese Eigenschaft entspricht einer Einstellung, berechtigte Vertrauenserwartungen nicht enttäuschen zu wollen und in dieser Hinsicht verlässlich zu sein, d.h. andere nicht schädigen zu wollen. Integrität kann mit einer Haltung gleichgesetzt werden, die durch drei Maximen gekennzeichnet werden kann: Versprechen einlösen, rechtliche Vorschriften einhalten und moralische Normen und Werte beachten (Suchanek 2015, S. 88).
Die eigentliche Verantwortungsfrage stellt sich im genossenschaftlichen Kerngeschäft: Wie werden die Mitglieder als Kunden behandelt? Für Friedrich Wilhelm Raiffeisen sollten genossenschaftliche Vorstände Mitte des 19. Jahrhunderts vom „rechten Geist“ beseelt sein. Genossenschaften waren seiner Meinung nach dafür da, die naturalen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen; Genossenschaften waren nicht für sich selbst da. Es war nicht ihr vorderster Zweck, Gewinn zu machen oder ihre Macht zu mehren. Raiffeisen wusste genau und schärfte es den Mitgliedern der neu entstehenden Genossenschaften immer wieder ein, dass Gewinne nötig waren, um genügend Kapital zu bilden und ein gesundes Unternehmen betreiben zu können. Aber solche Gewinne waren nicht das Ziel, sondern nur etwas, auf das man neben der eigentlichen Aufgabe noch zu achten hatte (Raiffeisen 1887, S. 73).
Was Raiffeisen mit dem „rechten Geist“ letztendlich meinte, war Verlässlichkeit. Auf Verlässlichkeit kommt es in Beziehungen an, die latent gefährdet sind und ein schlechtes Ende nehmen könnten. Solche Beziehungen werden in der ökonomischen Theorie als prekär bezeichnet, man ist abhängig von jemanden, den man nicht wirklich kontrollieren kann; und diese Abhängigkeit kann missbraucht werden. In prekären Bindungen kommt es auf die Identität des Partners an. Auch die Beziehungen zwischen einer Genossenschaft und ihren Mitgliedern sind prekär, so dass es auch hier auf die Identität des Partners ankommt, auf seine Geschichte, auf die Tradition, in der er steht, und darauf, welchen Werten und Normen er sich verpflichtet fühlt. Wenn man sich beispielsweise für eine bestimmte Genossenschaftsbank entscheidet, wird damit eine prekäre Abhängigkeit begründet. Man sucht Rat; es mag etwa darum gehen, die eigenen Ersparnisse anzulegen. Die Genossenschaftsbank wird hierzu bestimmte Empfehlungen geben. Dabei kommt es nicht nur auf ihre Kompetenz an, sondern auch auf den Geist, in dem sie entscheidet, auf ihren Stil also. Wird sie dem Mitglied als Kunde gerade das empfehlen, was seinen Bedürfnissen am ehesten gerecht wird, oder wird sie sich eher von der Prämisse leiten lassen, bei welcher Anlageform für die Bank selbst am meisten herausspringt? (Bonus 1993, S. 15f.).
Für Raiffeisen wäre klar gewesen, dass bei der Beantwortung dieser Frage die Bedürfnisse der Mitglieder eindeutig im Vordergrund zu stehen haben. Seine dringende Empfehlung an die Vorstände ging dahin, „allen Mitgliedern von vorneherein ihre Fürsorge angedeihen zu lassen, ihre Rathgeber zu sein, sie zu warnen, vom Wucher zu befreien und zur Verbesserung ihrer Lage in jeder Beziehung anzuregen“ (Raiffeisen 1887, S. 73). In voller Übereinstimmung mit der hier vertretenen Auffassung lag es nach Raiffeisen an den Vorständen, in diesem Sinne vorbildhaft zu handeln: „Nur durch ein gutes Vorbild der Führer wird es möglich sein, in einem solchen Vereine eine gegenseitig liebevolle, brüderliche Gesinnung hervorzurufen, durch welche die Vereinsgenossen in Leid und Freud zusammenstehen, zu gegenseitiger Unterstützung stets bereit sind und durch welche dann nach allen Richtungen hin der Verein segenbringend zu wirken im Stand sein wird“ (Raiffeisen 1887, S. 59).
Die Beziehung zwischen den Mitgliedern als Kunden und Eigentümern der historischen Darlehnskassenvereine war wegen der enormen wechselseitigen Abhängigkeit von besonders prekärer Natur; und der rechte Geist sorgte dafür, dass die Abhängigkeit nicht zum gegenseitigen Nachteil ausgenutzt wurde und man auf die Hilfe der Genossenschaftsbank zuverlässig bauen konnte. Da, wo es auf den Stil des Hauses ankommt, macht es eben einen Unterschied, ob prekäre Entscheidungen in kapitalistischer oder genossenschaftlicher Tradition gefällt werden. Das Besondere an der genossenschaftlichen Tradition ist Holger Bonus zufolge ihre uneigennützige Ausrichtung auf die Mitglieder. Sie ist es, durch die sich Genossenschaftsbanken von anderen Banken unterscheiden sollten. Die historischen Darlehenskassenvereine wären ohne uneigennützige Ausrichtung auf die Mitgliederbedürfnisse ihres spezifischen Sinnes beraubt gewesen (Bonus 1994, S. 67).
In dieser Tradition der Uneigennützigkeit und der daraus folgenden Verlässlichkeit sollte auch heute noch der unternehmenspolitische Schwerpunkt aller Genossenschaften liegen.
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