Bei den Olympischen Spielen treten Athlet:innen aus allen Ecken der Erde gegeneinander an, um sportliche Höchstleistungen zu zeigen und ihre Nationen zu repräsentieren. Doch nicht jede:r Athlet:in darf für sein:ihr Heimatland antreten. Viele Menschen werden aufgrund von Krieg, Verfolgung und Gewalt aus ihren Herkunftsländern vertrieben und finden sich als geflüchtete Menschen mit dem entsprechenden Aufenthaltsstatus in fremden Ländern wieder. In diesem Kontext schuf das Internationale Olympische Komitee (IOC) eine Initiative, die nicht nur sportlich, sondern auch politisch, zumindest auf symbolischer Ebene, von großer Bedeutung ist: das Refugee Olympic Team (ROT).
Die Entwicklung des ROT seit den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016[1] bis zu den rezenten Olympischen Spielen in Paris 2024 spiegelt nicht nur die Bemühungen des IOC um dieses Thema wider, sondern auch die Wahrnehmung und Diskursführung der internationalen Sport- und Politiksysteme zum Thema Flucht. Auf der Basis eines Gesprächs mit Sven Spannekrebs, geht der Artikel auf die vielschichtigen Veränderungen ein, die diese Initiative seit ihrer Gründung durchlaufen hat. In unterschiedlichen Funktionen ist Sven Spannekrebs im ROT von Anfang an involviert gewesen. Zunächst arbeitete er als Trainer der Schwimmerin Yusra Mardini und fungierte letztlich in diversen Beratungs- und Unterstützungsfunktionen, wodurch er als kompetenter Experte die Insider-Perspektive beleuchten kann.
Um der Frage „Wie hat sich das Refugee Olympic Team bei den Olympischen Spielen seit 2016 verändert?“ nachzugehen, wird dieses Interview, geführt von Enrico Michelini im Oktober 2024, den Änderungsprozess des ROT durch die Perspektiven von Athlet:innen und Trainer:innen, Zuschauer:innen und Medien sowie die von Politik und Organisationen beleuchten.
Enrico Michelini: Lieber Sven, in diesem Interview würde ich gerne mit Dir über das ROT sprechen. Dafür habe ich einen Leitfaden vorbereitet, aber am liebsten wäre mir ein offenes Gespräch. Im Grunde genommen möchte ich mit Dir den Entwicklungsprozess des ROT rekonstruieren.
Sven Spannekrebs: Die Idee entstand 2015, aber erst 2016 wurde sie konkreter. Für das IOC war es damals eine völlig neue Erfahrung, ein eigenes Team ins Leben zu rufen. Bisher hatte das IOC nur die Spiele organisiert, nicht aber ein eigenes Team geleitet. In Rio lief deshalb vieles noch improvisiert, aber unter den gegebenen Bedingungen bereits sehr gut. Seitdem hat sich viel verändert. Heute gibt es ein hochprofessionelles Team mit klaren Strukturen: Mental-Health-Berater, erfahrene Teammanager, eine gut aufgestellte Presseabteilung und eine umfassende Social-Media-Betreuung. Auch die Athlet:innenbetreuung hat sich seit Rio weiterentwickelt. Nach den Spielen 2016 gründete das IOC gemeinsam mit dem United Nations High Commissioner for Refugees und die Olympic Refugee Foundation. Später wurde die Teambetreuung von Olympic Solidarity zur Olympic Refugee Foundation übertragen, was zu einer professionelleren Organisation führte. Das IOC ist weiterhin eng eingebunden, doch das Management trifft nun eigenständige Entscheidungen und entwickelt eigene Konzepte. Diese Veränderungen haben das gesamte System deutlich weiterentwickelt.
Enrico Michelini: Und wie nimmst Du diese Änderung wahr?
Sven Spannekrebs: Die Entwicklung zeigt sich besonders im gestärkten Miteinander innerhalb der olympischen Familie. Immer mehr internationale Verbände setzen sich aktiv für geflüchtete Athlet:innen ein, darunter der Radsport-Weltverband, World Aquatics, World Athletics, Taekwondo und Judo. Mit Cindy Ngambas Bronzemedaille hat auch Boxing das Thema stärker wahrgenommen – trotz der Unsicherheiten wegen der Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles. Auch im Gewichtheben und Kanu gibt es Veränderungen. Das Thema ist inzwischen fest im Sport verankert, und viele Nationale Olympische Komitees setzen sich aktiv damit auseinander – sofern sie die Kapazitäten haben. Das IOC unterstützt diese Entwicklung mit Olympic Solidarity, um Nationale Olympische Komitees weltweit zu stärken. Länder wie Kanada investieren gezielt in diesen Bereich und verstehen die langfristigen Chancen. In Deutschland gibt es bereits umfassende Förderprogramme für Integration durch Sport, was international nicht selbstverständlich ist, obwohl viele Länder die finanziellen und personellen Ressourcen dafür hätten. Diese Erkenntnisse helfen, gezielt zu wirken und positive Veränderungen herbeizuführen.
Enrico Michelini: Wie stellst Du dir die zukünftige Entwicklung vor, und welche Tendenzen zeichnen sich Deiner Meinung nach ab? Wie sollte diese Entwicklung betrachtet werden?
Sven Spannekrebs: Die Zukunft des ROT hängt stark von der Entwicklung des IOC ab. Unter Thomas Bach wurden viele Veränderungen angestoßen, darunter die Gründung der Olympic Refuge Foundation. Mit einem neuen IOC-Präsidenten oder einer Präsidentin stellt sich die Frage, ob das Flüchtlingsteam weiterhin Priorität hat. Ich glaube, dass das Team nicht mehr wegzudenken ist, da die weltweite Situation es weiterhin nötig macht. Dennoch bleibt die Herausforderung, wie Athlet:innen zwischen den Spielen besser gefördert werden können. Es braucht langfristige Perspektiven, um die Chancen durch die Olympiateilnahme nachhaltig zu nutzen. Das IOC konzentriert sich primär auf Nationale Olympische Komitees und die Spiele – die Athlet:innen des ROT haben keine feste Organisation hinter sich, wie nationale Teams. Trotzdem verbessert sich die individuelle Betreuung in vielen Ländern, etwa in Deutschland, Österreich oder Kanada. Ein Beispiel ist Saman Zoltani, eine aus dem Iran stammende Kanutin in Österreich, die vom Nationalen Olympischen Komitee Österreichs unterstützt wird. Und ich denke, dass da noch viel, viel kommen wird – aus der gesamten olympischen Bewegung heraus. Eine kritische Frage bleibt der Status von Geflüchteten in Ländern ohne klare rechtliche Anerkennung, wie etwa in den USA. Dort erhalten nur wenige einen offiziellen Flüchtlingsstatus – ein Problem für Athlet:innen, die sich für das Team qualifizieren wollen. Diese Herausforderungen müssen weiter angegangen werden.
Enrico Michelini: Ja, da warten sicher einige Herausforderungen.
Sven Spannekrebs: Gleichzeitig ist die Situation in den USA nicht mit der in der EU vergleichbar – das Leben und die Betreuung verlaufen dort anders. Der Sport sollte sich nicht zu sehr in politische Prozesse einmischen, aber das Problem bleibt bestehen. Ich erhalte immer wieder Anfragen von Athlet:innen aus den USA, die gerne teilnehmen würden. Doch ohne anerkannten Flüchtlingsstatus ist das nicht möglich – es sei denn, sie haben politische Verbindungen. Das ist leider die Realität.
Enrico Michelini: Ich habe noch ein paar Rückfragen, bevor wir zum nächsten Thema übergehen. Du hast gesagt, das ROT sei nicht mehr wegzudenken – auch wenn das Phänomen Flucht nicht eskaliert, nimmt es zumindest nicht ab. Wie siehst Du das in Bezug auf die politische Entwicklung? Könnten rechtspopulistische Strömungen, etwa die Alternative für Deutschland in Deutschland oder ähnliche Bewegungen in Europa, das Team in seiner Existenz gefährden?
Sven Spannekrebs: In den letzten Wochen habe ich oft über diese Frage nachgedacht. Aktuell sehe ich in keinem europäischen Land die Gefahr, dass geflüchtete Athlet:innen nicht mehr Teil der Sportfamilie sein können. Der Sport bleibt weitgehend autonom, und das IOC fordert Offenheit sowie Internationalität. Nationale Olympische Komitees sind politisch neutral, sodass die Organisation dieser Sportler:innen kein Problem darstellen sollte. Unklar ist jedoch, was in ihrem persönlichen Umfeld passiert. Yusra Mardini hat in unserem Verein keine rassistischen Erfahrungen gemacht – zumindest hat sie mir nichts davon berichtet. Aber das gilt nicht für alle. Nehmen wir den hypothetischen Fall einer talentierten Läuferin aus einer Unterkunft in Thüringen: Der Verein nimmt sie vielleicht offen auf, doch Neid kann schnell in rassistische Ressentiments umschlagen. Solche Vorfälle passieren und werden weiterhin passieren. Offener Rassismus beeinflusst die Gesellschaft und macht auch vor dem Sport nicht halt – selbst Sportler:innen mit deutschem Pass erleben Anfeindungen. Dennoch glaube ich nicht, dass dies direkte Auswirkungen auf das ROT oder das Scholarship-Programm haben wird. Ich glaube eher, dass solche Strömungen einen Einfluss auf unser persönliches Leben im Allgemeinen haben werden. Und das werden wir halt sicherlich alle erleben.
Enrico Michelini: Wie hat sich die Präsentation des ROT zwischen 2016 und 2024 verändert? Zwischen 2016 und 2021 gab es bereits Unterschiede, mit einem stärkeren Fokus auf die sportliche Leistung. Wie siehst Du diese Entwicklung, und wie war es Deiner Meinung nach in Paris?
Sven Spannekrebs: Die mediale Wahrnehmung des ROT hat sich in den vergangenen acht Jahren erheblich weiterentwickelt – sowohl auf internationaler Ebene als auch in Deutschland. Während das Team bereits 2016 eine gewisse Aufmerksamkeit erhielt, insbesondere durch die Geschichte von Yusra Mardini, blieb das Bewusstsein darüber dennoch in vielen sportlichen Kreisen begrenzt. Selbst im professionellen Umfeld wussten einige Trainer:innen nicht einmal, dass es ein solches Team gibt – und das, obwohl einschlägige Schwimmportale und Fachmagazine darüber berichteten. Für mich war es damals überraschend, dass nicht einmal alle, die sich intensiv mit Sport und der Olympischen Bewegung auseinandersetzen, von der Existenz des Teams wussten.
Bis 2021 hatte sich die Berichterstattung bereits deutlich verbessert, insbesondere in Deutschland. Doch vor allem im Jahr 2024 hat sich die Wahrnehmung des ROT international grundlegend verändert. Das Team wird nicht mehr nur als symbolisches Projekt gesehen, sondern als eine Gruppe von Sportler:innen mit echter Leistungsfähigkeit und einer inspirierenden Geschichte. Dies ist auch ein Verdienst des IOC und der Olympic Refuge Foundation, die erkannt haben, dass das Team über den Sport hinaus eine gesellschaftliche Wirkung entfalten kann. Anfangs lag der Fokus stark darauf, die Athlet:innen vor übermäßigem medialen Druck zu schützen. Nach den Olympischen Spielen 2016 war besonders Yusra Mardini im Zentrum des öffentlichen Interesses, was sich unter anderem in der zweitgrößten Pressekonferenz der ersten Tage in Rio zeigte. Das IOC reagierte darauf mit einer Schutzstrategie, um die Sportler:innen vor zu viel Aufmerksamkeit und möglichen negativen Folgen zu bewahren. Diese Herangehensweise war sicherlich notwendig, doch mittlerweile hat sich die Sichtweise verändert.
Enrico Michelini: Wie genau hat sich die Sichtweise auf die Athlet:innen geändert?
Sven Spannekrebs: Heute wird den Athlet:innen mehr Eigenverantwortung zugetraut. Es geht nicht mehr nur um Schutz, sondern auch um die Möglichkeit, sich aktiv in die mediale Darstellung einzubringen und ihre Geschichte selbstbestimmt zu erzählen. Dies zeigt sich beispielsweise in der erstmals global ausgerollten Social-Media-Kampagne, die gezielt mit den Sportler:innen entwickelt wurde. Ein oft geäußerter Kritikpunkt, dass das IOC das Team lediglich für Imagezwecke nutzen würde, trifft so nicht zu. Alles, was medial geschieht, erfolgt in enger Abstimmung mit den Athlet:innen sowie deren Betreuer:innen – seien es Trainer:innen, enge Freunde oder andere Vertrauenspersonen. Natürlich gibt es weiterhin Herausforderungen. In manchen Bereichen ist der Schutz der Sportler:innen nach wie vor sehr ausgeprägt, vielleicht sogar manchmal zu stark. Ich würde mir wünschen, dass Presseverantwortliche und Attachés noch stärker überlegen, wie sie die Athlet:innen unterstützen können, um ihre eigene Stimme zu stärken. Viele von ihnen haben ein großes Interesse daran, sich aktiv für ihr Thema einzusetzen – nicht nur, um ihre persönliche Geschichte zu erzählen, sondern um die gesamte Thematik der geflüchteten Sportler:innen in den Fokus zu rücken.
Ein besonders eindrucksvoller Moment war für mich der Empfang des ROT in Frankreich. Im Eventbereich versammelten sich Tausende Menschen, um das Team zu feiern. Die Stimmung war mitreißend, die Energie im Publikum spürbar. Bei strahlendem Sonnenschein betraten die Sportler:innen eine riesige Bühne, auf der normalerweise große Konzerte stattfinden. Der Blick auf das Meer aus jubelnden Menschen war überwältigend – ein Moment, der Gänsehaut erzeugte und zeigte, wie sehr das Team mittlerweile geschätzt wird.
Auch sportlich hat sich das ROT weiterentwickelt. Zwar werden viele Athlet:innen weiterhin über die sogenannte Universality-Regel, also über die Quotenplätze zur Teilnahme sämtlicher Nationen, für die Spiele nominiert, doch die Leistungsniveaus sind gestiegen. Neben der gewonnenen Bronzemedaille gab es auch andere bemerkenswerte sportliche Erfolge. Selbst die Leistungen derjenigen, die über Universality Places starteten, waren beachtlich. In Paris wurde dies auch entsprechend anerkannt. Unabhängig davon, ob ein:e Athlet:in um Medaillen kämpfte oder über eine Sonderregelung ins Teilnehmerfeld kam – das Publikum honorierte jede Leistung. Es gab Szenenapplaus selbst für die Letztplatzierten, was zeigt, dass das ROT längst als fester Bestandteil der Olympischen Bewegung akzeptiert ist. Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter fortsetzen, denn das steigende Leistungsniveau des Teams ist auch darauf zurückzuführen, dass immer mehr Sportler:innen aus Ländern wie Venezuela oder dem Iran dazukommen – Regionen, in denen Sport traditionell eine größere Rolle spielt. Dadurch steigt auch das Gesamtleistungsniveau der Mannschaft.
Enrico Michelini: Ich verstehe den Sinn und die Relevanz der Entwicklung, die Erzählung über die Athlet:innen weg von ihren persönlichen Fluchtgeschichten hin zu einer stärkeren Normalisierung ihrer Rolle im Sport zu lenken. Gleichzeitig frage ich mich, ob diese Normalisierung dazu führt, dass das Thema insgesamt weniger als politisches Anliegen wahrgenommen wird. Ich habe oft den Eindruck, dass diese Entwicklung mit der unausgesprochenen Erwartung einhergeht: Geflüchtete Sportler:innen müssen nicht nur im Leistungssport bestehen, sondern auch eine politische Botschaft transportieren. Natürlich ist es wichtig, geflüchtete Menschen nicht nur auf ihre Fluchtgeschichte zu reduzieren. Aber man darf nicht vergessen, dass viele von ihnen sehr schwierige Erfahrungen gemacht haben. Sie nun auf die große olympische Bühne zu stellen, gemeinsam mit den besten Athlet:innen der Welt, und von ihnen zu erwarten, dass sie sportlich mithalten können, ist nicht immer realistisch. In manchen Fällen gelingt es, und es ist spannend, sich diese Beispiele anzusehen. Aber ist der Druck, der auf diesen Athlet:innen lastet, nicht manchmal zu hoch? Sie müssen nicht nur sportliche Höchstleistungen erbringen, sondern stehen zugleich für ein gesellschaftliches und politisches Thema. Wie Du selbst gesagt hast, mag das für einzelne Athlet:innen wie Yusra Mardini funktionieren – aber für viele andere könnte dieser Druck überwältigend sein. Wie siehst Du das?
Sven Spannekrebs: Natürlich ist das ein zweischneidiges Schwert, mit dem die Kommunikationsabteilungen des IOC arbeiten müssen. Wie ich gerade schon sagte, gab es in der Vorbereitung auf Paris Situationen, in denen das IOC oder die Presseverantwortlichen versucht haben, die Athlet:innen zu schützen. In diesen Momenten habe ich oft gedacht, dass es besser wäre, ihnen einfach die Gelegenheit zu geben, Interviews zu führen und ein paar Minuten Ruhm zu genießen. Aber ich verstehe, warum das IOC vorsichtiger war und gesagt hat, dass sie das eher kritisch beobachten und die Medieninteraktionen strenger organisieren wollen. Das ist für mich völlig nachvollziehbar. Wenn man aber mit den Athlet:innen spricht, merkt man, dass viele von ihnen selbst nicht nur mit einer großen Portion Demut, sondern auch mit der Bereitschaft kommen, Verantwortung zu übernehmen. Dabei geht es nicht nur um Selbstvermarktung oder darum, wie sie sich in den Medien darstellen wollen. Viele Athlet:innen wissen genau, woher sie kommen, und reflektieren intensiv, was sie durchgemacht haben. Sie verstehen die Bedeutung ihrer Geschichte und erwarten, dass ihr Handeln und ihre Präsenz als Sportler:innen genauso bewusst und reflektiert wahrgenommen wird.
Natürlich trifft das nicht auf alle zu – nicht jeder möchte viel reden oder sich selbst in den Vordergrund stellen – aber erstaunlicherweise gibt es mehr Athlet:innen, die dazu bereit sind, als ich ursprünglich erwartet hatte. Ich habe mit mehreren Sportler:innen aus dem ROT gesprochen, darunter auch in Deutschland, und es ist beeindruckend, wie reflektiert viele von ihnen über ihre Situation nachdenken. Wir, die wir nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben, neigen oft dazu, viel über das Thema zu urteilen, ohne wirklich zu verstehen, was hinter den Geschichten steckt. Wir denken in Metaebenen und vermuten, dass das IOC die Athlet:innen ausnutzt oder Medien sie für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren. Aber wenn ich mit den Athlet:innen spreche, höre ich oft genau das Gegenteil: Viele von ihnen sagen mir, dass sie noch mehr tun würden, wenn sie könnten – und dass sie bereit sind, noch mehr zu leisten, wenn sich die Möglichkeit bietet.
Das hat mich in Paris oft überrascht und mir vor Augen geführt, wie viel mehr diese Athlet:innen tatsächlich leisten wollen. Manchmal habe ich mich selbst dabei ertappt, wie ich über Dinge nachdachte, bei denen ich dachte, ich wüsste es besser. Ein ehemaliger Sportler aus dem Team sagte zu mir, als ich am Spielfeldrand stand: „Was willst du hier eigentlich beurteilen?“ Und das hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich stehe ja nicht auf dem Startblock und bin nicht derjenige, der im Wettkampf alles gibt. Ich glaube, dass wir als Gesellschaft manchmal viel zu schnell urteilen – nicht nur über das IOC oder die Medien, sondern auch über die Athlet:innen selbst. Wir tendieren dazu, diese komplexen Themen zu vereinfachen und eine Meinung zu bilden, die oft nicht die ganze Geschichte erzählt.
Ein weiterer Punkt, den ich immer wieder bei Gesprächen mit den Athlet:innen erlebe, ist das Missverständnis, das manchmal über ihre Erfahrungen herrscht. Wenn jemand wie Yusra Mardini über ihre Geschichte spricht, dann bekomme ich oft zu hören, was „wir“ als Gesellschaft doch alles durchgemacht haben – und ich weiß, dass ich nicht das Gleiche durchgemacht habe. Kein Teil von mir kann nachvollziehen, was sie durchlebt hat, und ich bin mir dessen bewusst. Natürlich gab es auch für uns Herausforderungen, aber die waren anders gelagert. Und genau das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen: Wir als Gesellschaft sollten uns fragen, ob wir wirklich in der Position sind, über das Leben und die Erfahrungen dieser Menschen zu urteilen.
Ein weiterer Punkt, den ich oft höre, ist die Kritik an den Medien und Politikern, die diese Themen für ihre eigenen Zwecke nutzen. Es gibt immer wieder Stimmen, die sagen, dass die Athlet:innen ausgenutzt werden – dass ihre Geschichten als Instrument für politische Agenden dienen. Aber die Realität, die ich von den Athlet:innen selbst höre, sieht ganz anders aus. Sie sind bereit, sich zu engagieren und mehr zu leisten, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die größere Sache.
Ich erinnere mich an eine besonders bewegende Situation mit einem ehemaligen Athleten, mit dem ich viel Zeit verbracht habe. Nachdem Cindy Ngamba ins Halbfinale kam und es klar war, dass sie eine Medaille gewinnen würde, haben wir eine halbe Stunde lang hin- und hergeschrieben. Als wir uns dann trafen, nahm er mich in den Arm und hatte Tränen in den Augen. Er sagte mir: „Danke, dass du immer an uns geglaubt hast.“ Und ich stand da und dachte: „Was habe ich getan?“ Aber in diesem Moment wurde mir klar, wie wichtig diese Medaille für die Athlet:innen war und was sie für eine tiefe Bedeutung hatte. Für sie war es mehr als nur ein sportlicher Erfolg – es war eine symbolische Anerkennung dessen, was sie als Geflüchtete erreicht haben, trotz aller Widrigkeiten. Ich werde nie vollständig verstehen können, was das für diese Athlet:innen bedeutet. Aber ich habe zumindest das Bewusstsein entwickelt, dass es weit mehr ist als nur ein Sieg im Sport. Für viele von ihnen ist es ein Beweis dafür, dass sie trotz der Herausforderungen, die sie durchgemacht haben, in der Lage sind, Weltklasse-Leistungen zu erbringen. Und das ist für sie genauso bedeutsam wie für uns der sportliche Erfolg selbst. Und genau das ist der Punkt: Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, dass wir als Gesellschaft immer die Kontrolle haben oder in der Lage sind, alles richtig zu bewerten. Manchmal muss man sich eingestehen, dass es Dinge gibt, die man nicht vollständig begreifen kann – und dass wir nicht immer in der Position sind, darüber zu urteilen.
Enrico Michelini: Nur eine letzte Rückfrage zum Thema: Mein Eindruck ist, dass Yusra nicht mehr eine Athletin des ROT ist und bisher niemand ihre Vorbild- und Starrolle übernommen hat. Wie siehst Du das?
Sven Spannekrebs: Im Moment sehe ich niemanden, der diese Rolle von Yusra übernehmen kann. Aber wir müssen auch ehrlich sein: Das Yusra in diese Rolle kam, lag auch an vielen Zufällen. Yusra ist zu einem Symbol geworden, aber sie ist nicht in diese Rolle gedrängt worden, sondern sie ist darin gewachsen. Das ist, glaube ich, wie bei vielen Dingen – das erste Team bleibt immer besonders, während sich alles später normalisiert. Ein gutes Beispiel ist Rugby 7, das erstmals olympisch war – als die Franzosen zu Hause gewannen, war das historisch. Wenn das wieder passiert, wird es nicht mehr so besonders sein. Ähnlich wird es mit Yusra sein. Ich sehe viel Potenzial in vielen Mitgliedern des Teams, die etwas bewegen können – zum Beispiel Saman Soltani, die in Österreich trainiert oder Nigara Shaheen, die sich in Kanada vorbereitet. Cindys Erfolg war riesig und hat einen enormen Impact auf das Team, den wir vielleicht noch gar nicht vollständig begreifen. Es war enorm wichtig für die Kommunikations- und Sportentwicklung. Aber es gibt auch andere, die hätten für das Team starten können, wie die Taekwondo-Kämpferin Kimia Alisadeh aus dem Iran, die für Bulgarien antrat und ebenfalls Bronze gewann. Ich glaube, das Thema Geflüchtete und auch das ROT normalisieren sich langsam. Das Flüchtlingsthema war früher immer ein großes Thema, auch wenn es in den letzten Jahren etwas zurücktrat. Ob wir eine neue Figur wie Yusra brauchen, weiß ich nicht. Es hängt von der Situation ab. Wir wissen beide, dass es manchmal schwer vorherzusagen ist, wohin es als nächstes geht. Die nächste Herausforderung wird jedoch sein, wie man sich in Bezug auf Los Angeles 2028 mit dem Thema auseinandersetzt. Dort wird es ganz anders behandelt werden, da es wenig Flüchtlinge im rechtlichen Sinne gibt.
Enrico Michelini: Aber wohnt sie mittlerweile in den USA?
Sven Spannekrebs: Sie studiert derzeit dort, aber wir wissen nicht, wie lange sie danach dortbleiben wird und wie sich ihre Beziehung zum Team entwickeln wird. Bei LA 2028 wäre es jedoch schön, wenn sich eine Lösung finden würde. Mit den beteiligten Organisationen versuchen wir, uns an den Planungen für LA 2028 zu beteiligen. Wir prüfen gerade, wie wir uns einbringen können, was für einen Beitrag wir leisten können. Yusra hat jetzt ihre eigenen Pläne, aber das Team muss sich dennoch Gedanken machen, wie es sich in den nächsten drei Jahren aufstellt. Für LA 2028 wird das IOC den gesellschaftlichen Mehrwert der Spiele abfragen, wie es bereits in Frankreich mit dem Fokus auf Flüchtlingsintegration der Fall war. Für LA 2028 müssen sie ebenfalls ein Konzept entwickeln, mal sehen, wie das umgesetzt wird.
Enrico Michelini: Ich habe noch eine Frage, bei der ich mir nicht sicher bin, ob wir diesen Aspekt bereits berücksichtigt haben. Es geht darum, wo die geflüchteten Sportler:innen des Teams leben und trainieren. Wenn man sich die verfügbaren Informationen ansieht, könnte man meinen, dass diejenigen, die in Regionen mit besserer Infrastruktur leben, deutlich bessere Bedingungen haben. Gibt es in diesem Zusammenhang bereits Lösungsansätze oder Diskussionen?
Sven Spannekrebs: Das Thema ist immer ein Diskussionspunkt. Das IOC hat durch die Olympic Refuge Foundation auch eine Nähe zu den Ländern, in denen die Infrastruktur fehlt, wie zum Beispiel in Flüchtlingscamps. Ich denke, es ist eine normale Entwicklung, dass im Team heute weniger Menschen aus Kakuma sind als früher, da das Team immer populärer wird und sportliche Leistung zunehmend eine größere Rolle spielt. Es ist jedoch schade, dass diese Ungleichheit weiterhin besteht, auch wenn ich nicht genau weiß, wie man das lösen könnte. Wenn wir ehrlich sind, passiert im Leistungssport generell das Gleiche: Wo investiert wird, da werden Medaillen produziert. Das bedeutet, dass es weniger, oder auch keine, Mitglieder aus Flüchtlingscamps geben wird, etwa aus Kenia, Uganda oder Jordanien, weil nicht die gleichen Bedingungen herrschen, wie bspw. für einen Leichtathletikverein in Deutschland. Letztlich geht es beim Flüchtlingsteam aber auch um sportliche Leistung, und wenn jemand in einem besseren Umfeld trainiert und schneller ist, muss man ihm den Vortritt lassen – auch wenn der andere unter schwierigeren Bedingungen trainiert. Das ist ein schwieriges Thema, und ich sehe momentan keine Lösung. Das IOC wird sich in der Zukunft wohl auch in einer Zwickmühle befinden und muss schauen, ob es vielleicht doch jemanden aus Kakuma gibt, der jemanden aus einem besseren Umfeld schlagen kann.
Enrico Michelini: Ich habe Dir eine Stunde versprochen. Falls Du noch eine Frage hast, stell sie gerne. Meine letzte Frage ist immer die gleiche: Gibt es noch etwas, das wir nicht besprochen haben, dass Deiner Meinung nach wichtig ist, um zu erklären, wie sich das Refugee-Olympic-Team in den letzten drei Olympiaden verändert hat?
Sven Spannekrebs: Ich glaube, das Bemerkenswerte ist vor allem die gestiegene Größe des Teams, die Anzahl der Athlet:innen, die verschiedenen Sportarten und die vielen Nationalen Olympischen Komitees, die mittlerweile involviert sind. Das ist wohl die markanteste Veränderung. Alles andere, wie die Professionalisierung der Betreuung während der Spiele und der Olympiade, haben wir bereits angesprochen. Die Sportler:innen werden immer umfassender betreut, auch wenn es weiterhin Herausforderungen gibt. Leider gibt es weiterhin Unterschiede in der Betreuung, je nach Auslegung der Nationalen Olympischen Komitees: Deutschland leistet viel, Kanada auch, Frankreich hat dazugelernt, Großbritannien ist weniger, Kenia erhält Hilfe vom IOC. Die Yusra Mardini Foundation unterstützt entsprechend, wo sie kann.
[Das Interview mit Sven Spannekrebs führte Enrico Michelini. Alexander Weihe hat die Transkription überarbeitet.]
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