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Zur Literalität der Soziologie durch Lexika und Wikipedia

Günter Endruweit / Gisela Trommsdorff / Nicole Burzan (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie. 3. Auflage. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz (UTB) 2014, 669 S., gb., 49,99 € Sina Farzin / Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam 2015, 359 S., kt., 11,00 € Werner Fuchs-Heinritz / Daniela Klimke / Rüdiger Lautmann / Otthein Rammstedt / Urs Stäheli / Christopher Weischer / Hanns Wienold (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie. 5., überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2011, 776 S., gb., 49,99 € Johannes Kopp / Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie. 10. Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010, 376 S., br., 22,99 €
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Published/Copyright: January 14, 2016
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Günter Endruweit / Gisela Trommsdorff / Nicole Burzan (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie. 3. Auflage. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz (UTB) 2014, 669 S., gb., 49,99 €

Sina Farzin / Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam 2015, 359 S., kt., 11,00 €

Werner Fuchs-Heinritz / Daniela Klimke / Rüdiger Lautmann / Otthein Rammstedt / Urs Stäheli / Christopher Weischer / Hanns Wienold (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie. 5., überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2011, 776 S., gb., 49,99 €

Johannes Kopp / Bernhard Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie. 10. Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2010, 376 S., br., 22,99 €


Im folgenden Beitrag werden Lexika der Soziologie mit Wikipedia verglichen. Der Vorwurf an Erstere steht im Raum, dass sie nicht mehr zeitgemäß sind. Trotzdem erscheinen sie in immer neuer Auflage, und auch neue Lexika erblicken das Licht der Welt. Dies ist Anlass genug, einmal essayistisch beide Medien zu vergleichen. Ein erster Bezugspunkt soll dabei klar gemacht werden, denn es scheint mir in keiner Macht der Welt zu liegen, dass eines dieser Medien abgeschafft werden könnte; vielmehr sind Evolution, Reputation, Berufe, Märkte am Werk, die sich in diesem Mix schlecht steuern lassen und die es einem verbieten, sich irgendwelche anderen Zustände herbeizuwünschen. Ich konstatiere also schlicht, dass es Lexika und auch Wikipedia gibt und das auch gut so ist. Trotzdem lassen sich Unterschiede erkennen, wie beide Medien organisiert sind.

Prozessdynamiken

Schaut man sich die Vorworte und Herausgeberschaften der Lexika an, so entsteht der Eindruck, dass es sich um eine Mehrgenerationenaufgabe handelt, da die HerausgeberInnen ältere und jüngere SoziologInnen sind. Die Verjüngung der Mannschaft wird teilweise explizit hervorgehoben.

Auffällig ist weiter der unterschiedliche Umfang der Lexika. Dahinter könnte folgende ‚vulkanologischeʻ Prozessdynamik stehen: Zu Beginn ist ein Lexikon meist klein und überschaubar; ein Beispiel sind aktuell die ‚100 Grundbegriffeʻ (Farzin / Jordan). Neuere Lexika reagieren damit auf eine zunehmende Komplexität in den Fachveröffentlichungen bzw. auf dem Buchmarkt. In späteren Auflagen werden dann Begriffe hinzugenommen und die Lexika werden dicker. Sie werden Teil einer unübersichtlicher werdenden Welt. Geht dieser Prozess weiter, spalten sich neuere HerausgeberInnen ab oder es treten neue GründerInnen auf, die wieder einen größeren Mehrwert in der Reduktion durch ein kleines Lexikon sehen. In diesem vulkanologischen Prozess wird der Hauptvulkan, das Hauptwerk, immer größer; es verliert bzw. verstopft dadurch seine Übersichtsfunktion, so dass sich neue kleinere Nebenvulkane (kleinere Lexika) ergeben, die wieder die Übersichtsfunktion übernehmen können. Die Hauptfunktion, nämlich Übersichtlichkeit zu Begriffen herzustellen, wechselt zwischen ‚zu groß werdendenʻ und neuen kleinen Lexika hin und her.

Diese dynamischen Prozesse sind durch berufliche und generationelle Konkurrenzen und Wechsel zwischen älteren und jüngeren AutorInnen begleitet und genährt. Man kann sagen, dass es sich um eine Reihe von amtlichen großen Lexika handelt, die die Doxa bilden – an ihnen kommt man nicht vorbei, da die AutorInnen das ‚who is whoʻ der Zunft repräsentieren –, während dagegen kleinere Lexika und jüngere Projektmannschaften opponieren. Die großen Lexika geben dabei vor, ‚den Spuren der Soziologie’ zu folgen. Hierbei sind die älteren AutorInnen aber auf die Mitarbeit und Opposition Jüngerer angewiesen, die den Wandel der Begriffsgeschichte selbst mit prägen. Die ‚gutenʻ – im Sinne von für die Übersichtlichkeit nützlichen – Lexika vereinen einen Kompromiss, d. h. einen Stamm mitgeführter älterer Begriffe (die in der nächsten Auflage noch mehr veralten) und einen Teil neuerer Begriffe. In diesen Punkten findet auch ein Generationentransfer und eine Vererbung des Fachwissens der Soziologie statt, denn ein Teil der Begriffe wird fortgeführt und kann sich (sogar) neben oder gegen andere neue Begriffe, die nicht mitaufgenommen wurden, behaupten. Freilich werden die nicht mitaufgenommenen Begriffe nicht auch noch sichtbar gemacht. Dies zeigt, dass hier Berufe am Werk sind, denen man vertraut, die richtigen Begriffe gewählt zu haben. Dies geschieht nicht ohne eine diskursive Komponente, will die Leserin bzw. der Leser doch gerade sehen, welcher Begriff es in ein Lexikon geschafft hat.

Werden Lexika nicht kontinuierlich fortgeführt, sondern bestehen zwischen Auflagen sehr große zeitliche Lücken, dann kann es vorkommen, dass ganze Begriffsstammbäume ausgetauscht werden und sich zwei Lexika gleichen Titels vollständig unterscheiden (so das Handbuch der Sozialisationsforschung zwischen 1980 und 2008, das komplett auf den Kompetenzbegriff umgestellt wurde).

Abgesehen davon enthält das Regime eines Lexikons also mindestens folgende Aspekte:

  1. komplexe Wachstumsprozesse,

  2. schleichende Begriffsersetzungen,

  3. offene oder verdeckte Konkurrenzen zwischen mindestens zwei Altersgruppen von AutorInnen,

  4. Konkurrenzen um die Übersichtsfunktion zwischen zu groß gewordenen älteren Lexika in xter Auflage und jüngeren Werken, die ihr Heil wieder in der Reduktion suchen.

  5. Weiter sind die Bibliotheken voll von älteren Lexika oder Auflagen von Lexika, die sozusagen die abgestorbene Begriffsgeschichte der Soziologie verkörpern.[2] Ist Vergessen nach Luhmann wesentlicher Faktor für das weitere Lernen, so ermöglichen die veralteten Lexika dem System der Soziologie immer wieder Emergenzen, indem einzelne ExpertInnen aus dem vergessenen Fundus Dinge herausschneiden und als für bestimmte Diskurse wieder relevant erklären. (Zu den vergessenen Befunden scheinen z. B. die psychoanalytischen und sozialpsychologischen Kapitalismuskritiken zu gehören, die heute kein Student mehr kennt.)

Mit all diesen dynamischen Prozess-Elementen und dem teilweise ungesteuerten, teilweise gezielt herbeigeführten Wandel stellen alte und neue Lexika – auf der Suche und der Bewahrung von Übersichtlichkeit zwischen alten und neuen Begriffsdiskursen – eine Kontinuität für das Fach her. Diese Lexika ermöglichen so eine Literalität des Faches, sie ermöglichen dem Fach und dem Beruf, sich selbst zu lesen und zu verstehen (was ich weiter unten noch einmal aufgreifen werde).

Dazu gehört dann für die Gegenwart weiter ein Konterpart dieser Entwicklungen des Berufes Soziologie: Die Laienbewegung Wikipedia. Sucht jemand über Wikipedia etwas, dann möchte er etwas über die Welt erfahren. Der Bezugspunkt ist hier transdisziplinär (was konkret bedeutet, dass unter einem Begriff Teildefinitionen zu finden sind aus Soziologie, Technik, Kunst, Wirtschaft usw.). In Lexika der Soziologie dagegen erfährt ein Akteur etwas über die Soziologie. Der Bezugspunkt ist hier das Fach, dort die Welt.

Insofern ist Wikipedia eine Welt von Laien, die sich untereinander vernetzen. Das Bild von Wissen ist, dass dieses Wissen in der Welt verstreut ist und von vielen tausenden Laien zusammengetragen werden kann und muss.

Wissen in der Fachwelt Soziologie wird dagegen von einer überschaubaren Anzahl von Fachleuten repräsentiert. Dieses Wissen in der Fachwelt ist nicht breit, sondern tief. Verstanden werden kann es nur unter Anleitung. In den Lexika der Soziologie geht es um die Welt der Soziologie, in Wikipedia wollen Laien die Welt erklären, wobei die Soziologie Teil dieser Welt ist.

Beim Produktionsprozess setzen Menschen bei Wikipedia auf den Netzwerk-Imperativ. Wissen wird hier so vorgestellt, dass es in der Welt verstreut bzw. dezentriert ist, so dass es einzelne nicht überblicken können. Erst die Einträge vieler Einzelner zu einem Begriff tragen zur Konturierung des Begriffes bei.

Der Produktionsprozess für Lexika ist der einsame Schreibtisch. Auf dem Tisch liegt ein Stapel weißes Papier. Mit Füllfederhalter wird ein leicht verständliches Konzentrat zu einem Begriff geschrieben. Riesige Seitenränder symbolisieren, Abstand zu einer Welt da draußen herzustellen, damit das schriftliche Konzentrat möglichst übersichtlich wird. Mit Wikipedia versucht man dagegen, die Komplexität der Welt zu beantworten, indem man eine ebensolche komplexe Methode verwendet, nämlich Netzwerken. Der Eintrag in einem Lexikon hat dagegen einen stilisierten, überzeichnenden Kern, der Überflüssiges weglässt, der Dinge subsumiert, gewichtet und ordnet. Im Produktionsprozess ist es hierfür notwendig, sich vorab Stapel von anderen Schriften zu besorgen, in denen der Begriff ebenfalls vorkommt, um dann darüber zu grübeln und zu brüten, welche Kerngehalte sich daraus stilisieren und überzeichnen lassen. Wissenschaftsfortschritt nimmt hier Gestalt an im Versuch, einer inkonsistenten Welt Richtung und begriffliche Form zu geben. Hierbei sind Vergessen und Weglassen wichtige Formelemente, die bewusst eingesetzt werden.

In Wikipedia ist das Netzwissen immer mehr und breiter als das, was jeder Einzelne weiß. Wikipedia ist ein unendlicher, nie abgeschlossener Prozess. Angesichts der nie zu erreichenden Vollständigkeit wird Unvollständigkeit zu einem Gegenwartsphänomen von Wikipedia. Jeder weiterer Eintrag kann zwar als Erfolg verkauft werden; dem Meer des Unwissens wurde ein Stück Land abgewonnen, aber die Unvollständigkeit wird so auch reproduziert, da jede Zahl von gefundenen Begriffen stets lächerlich klein bleibt angesichts des unendlichen Wissens des Netzes und der Laien. Wikipedia bleibt ewige Baustelle beim Turmbau zu Babel.

Organisation

Die Organisation von Lexika kann nicht nur auf einen einzelnen Band bezogen werden. Denn dieser steht mit dem Feld der gesamten Wissenschaftsproduktion in Verbindung. Der Bedarf an Lexika erhält sich, da mittlerweile jede spezielle Wissenschaftssparte mehrere eigene Zeitschriften hat und da sich auch die Märkte der Buchpublikationen immer weiter ausdifferenzieren. Angesichts der steigenden Komplexität entsteht nach einfachsten Fragen zu Zentralbegriffen, wie z. B. „Was ist Handeln?“, neuer Bedarf. Dies als Teil einer Rückversicherung der Disziplin, woher sie stammt und aus welchen Diskursrichtungen man früher diesen Begriff sah; ein zweiter Grund ist, dass man veränderte Gehalte am Begriff ablesen möchte.

Das Feld der Wissensproduktion entfernt sich dabei immer schneller von den in Lexika festgehaltenen Begriffen; während z. B. ganze Beiträge von SpezialistInnen in Büchern zum Begriff „Hybrid“ versammelt werden, fehlt dazu in den meisten Lexika ein Eintrag. In Wikipedia dagegen finden sich viele Einträge zu „Hybrid“, aber hier stehen Einträge aus verschiedenen gesellschaftlichen Feldern – Automobilproduktion, verschiedene Wissenschaften – unverbunden nebeneinander. Deren Lesarten füreinander aufzuschlüsseln, dafür braucht es wiederum Schnittstellen-Adressen und Spezialwissen. Diese finden sich weder in Wikipedia, noch in Lexika.

Adressen, Sichtbarkeit, Unsichtbarkeit

Immerhin ließen sich über die Autorenangaben in Lexika rein theoretisch solche Schnittstellen herstellen, d. h. wollte jemand einen ExpertInnenworkshop zu Überschneidungen eines Begriffes oder von Teilbegriffen organisieren, wüsste er Adressaten ausfindig zu machen. In Wikipedia wäre dafür mehr Aufwand nötig, da die Autorenschaften erst einmal verdeckt gehalten werden. Dies auch deshalb, da die Netzdemokratie nicht vorsieht, dass sich einzelne als AutorInnen hervorheben. Vielmehr wird das Kollektiv als Repräsentantin des Wissens verstanden. Deshalb werden Autorenschaften und Adressen Einzelner verdeckt gehalten.

Dagegen ist jedes Lexikon eine Adresse, das mehr oder weniger mit der Reputation der einzelnen BeiträgerInnen spielt. Zum einen werden deren Namen vornehm zurückgehalten, teilweise auf Kürzel reduziert. Zum anderen können sie aber dennoch über Listen als echte Persönlichkeiten rekonstruiert werden. Unsichtbar bleibt die Reputation oder Ehre als Gewinn, an einem Lexikon mitgeschrieben haben zu dürfen. In Wikipedia ist der Gewinn, einen Beitrag zu schreiben, der Zugewinn an kollektivem Netzwissen. Auch wenn herausragende AutorInnen Beiträge in Wikipedia schreiben, schrumpft die Reputation gegen Null, weil der Name erst einmal hinter einigen Schutzwällen verschwindet. Der einzelne Beiträger, die einzelne Beiträgerin reiht sich in die Unendlichkeit des Netzes ein. Trotzdem kann das innere berufliche Ethos bestehen bleiben, einen wertvollen Beitrag geleistet zu haben.

Literalität

Lexika und Wikipedia liefern beide ihre Beiträge, die Akteure, die mit Soziologie zu tun haben, in die Lage versetzen, die Soziologie zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren.

Erstere tun dies aus dem Bezugspunkt der Soziologie als Fachlichkeit heraus, für Letztere ist der Bezugspunkt ein vernetztes Weltwissen, in dem die Soziologie enthalten ist.

Die Vorteile von Wikipedia sind, dass es schnell zur Hand ist und man sich so schnell Orientierung verschaffen kann. Die Nachteile sind, dass kein Gedächtnis abgebildet wird, was jedoch möglich wird, wenn der Student ältere und neuere Auflagen von Lexika nebeneinander im Regal der UB stehen sieht. Das Gedächtnis der Soziologie wird also – transintentional – auch über die alten Versionen von Lexika abgebildet (so lange sie noch in Bibliotheken erhältlich sind). Auch ältere Auflagen verlieren nicht an Wert, da sie teilweise übersichtlicher sind, als die späteren Langversionen (auch dies ein transintentionaler Effekt).

StudentInnen können die Konkurrenz zwischen Lexika bemerken, die sich aber stets nur auf eine handvoll Bücher bezieht und nicht auf eine – wie in Wikipedia – niemals abgeschlossene begriffliche Welt. Diese ist zudem noch transdisziplinär organisiert. Dadurch könnte Wikipedia auch mit zu jener Komplexität beitragen, die Wikipedia eigentlich abmildern möchte.

Beide Medien treffen auf extern veränderte Kontextbedingungen, nämlich dass sich die Bedeutung von enzyklopädischen Ansammlungen gleich welcher Art angesichts des Internets umgekehrt hat: Selbst Wikipedia scheint heute eine enge Schleuse des Wissens zu sein, die sinnvolle Ausschnitte durch einen Dschungel von Publikationen legt.

Lexikon als Beruf

Weiter lässt sich ein Lexikon auch als Beruf verstehen – gegenüber den Laien, die bei Wikipedia mitmachen. Wer einmal ein Lexikon herausgab, kommt um eine zweite, nte Auflage kaum herum: Das Lexikon bleibt einem verhaftet. So, wie auch AutorInnen Themen verhaftet bleiben (deshalb das ‚who is who’ in Lexika).

Nach Colin Crouch stehen Berufe zwischen Staat und Wirtschaft, d. h. sie lassen sich nicht so schnell von Großkonzernen vereinnahmen wie Staat oder Wirtschaft. Dies gilt für beide hier vorgestellten Formen gleichermaßen. Es zählt dabei die Unabhängigkeit vor (begrifflicher) Korruption. In Lexika wird diese über die Fachlichkeit hergestellt, in Wikipedia über ehrenamtliche Arbeit bzw. Mitarbeit der Laien. Crouch argumentiert, dass jeder Einzelne korrumpierbar bleibt – solange er nicht Teil einer größeren Gruppe ist, deren Moral dann Korruption erschwert. In beiden Medien gibt es diese Moral einer größeren Gruppe, die in der einen – bei Lexika – sogar groß ist, da Lexika die gesamte Fachöffentlichkeit ansprechen. D. h. jeder bzw. jede, der bzw. die einen Artikel schreibt, tut dies mit Blick auf die gesamte Fachöffentlichkeit und wird von deren Moral sozusagen mit kontrolliert. Durch diesen potentiell großen Adressatenkreis wäre der Reputationsverlust enorm, würde man irgendwie am Begriff vorbeischreiben. Ähnlich groß ist die Kontrollmöglichkeit durch die Netzgemeinde. Auch wenn diese in viele Teilöffentlichkeiten zerfällt, fällt doch geschriebener Blödsinn recht schnell auf.

Was beide Medien unterscheidet, ist die Anonymität der Schreibenden und der Kontrolleure, die eben bei Wikipedia viel höher ist. Trotzdem erfolgt durch die Unabhängigkeit der Ehrenamtlichen eine Kontrolle vor Korruption.

Strukturen

Schließlich lässt sich auch erkennen, dass die Erwartungs-, Deutungs- und Konstellationsstrukturen von Lexika und Wikipedia verschieden sind.

Lexika sind hier klar Erwartungsstrukturen schaffend. Sie sind Begriffsnormen setzend (besonders deutlich im juristischen Stil Max Webers: „‚Klasse’ soll jede in einer gleichen Klassenlage befindliche Gruppe von Menschen heißen.“ (Weber, 1972: 177)). Es werden Begriffe als Normen gesetzt, und die Setzung ist zugleich Ausdruck davon, dass in dem Fach ein gewisses Grundverständnis vorherrscht; zumindest wird dies durch einen lexikalischen Eintrag ausgedrückt bzw. behauptet. Diesem normierenden Versuch der Vereinheitlichung stehen jedoch teilweise konkurrierende Deutungen von älteren und jüngeren Mitgliedern der Zunft gegenüber. Dies bedeutet, dass sich Erwartungs- und Deutungsstrukturen unterscheiden. Schließlich sieht man unter dem Begriff der Konstellationsstrukturen wieder andere Verhältnisse, nämlich wie Lexika und Wikipedia einem Meer von Komplexität etwas Bestimmtes abringen wollen.

Während die Erwartungsstrukturen in Lexika von Berufsanhängern formuliert werden, die ihr eigenes Wissen kontrollieren – eben auch über Lexika –, werden die Erwartungsstrukturen in Wikipedia von der Intelligenz der Laien geprägt.[3] Der „Schwarm“ ist hier die eigentliche Wissensinstanz. Die Normsetzung ist dann weitaus schwieriger, wenn nicht unmöglich, da gerade vielfache Differenzen zwischen Deutungen zu Wort kommen dürfen. Deutungsstrukturen sind also mächtiger als die Erwartungsstrukturen. In den Konstellationsstrukturen ähneln sich beide Medien wieder.

Zusammengefasst deutet das Essay an, dass vulkanologische Prozessdynamiken, vermutete Konkurrenzen zwischen Generationen von AutorInnen auf der Suche nach Übersichtlichkeit, Vererbung von Begriffen zwischen Generationen, ältere Lexika als Teil der (vergessenen) Begriffsgeschichte der Soziologie, die disziplinäre berufliche Orientierung, der beim Schreiben hergestellte symbolische Abstand zur Welt, der Bedarf an einfachen Begriffen in Relation zum ausdifferenzierten Feld der Wissenschaftsproduktion und das Normen und Erwartungen setzen einige Besonderheiten von Lexika sind, die es so in Wikipedia nicht gibt.

In den Vorworten der Lexika lässt sich auch ein gewisser Grad an Bewusstheit erkennen, sich als Teil einer speziellen Welt, einer Umwelt zu begreifen. Diese Welt wird so dargestellt, dass sie sehr groß ist, so dass Lexika antreten mussten, daraus etwas zu selektieren. Dieses Verhältnis zur Welt, wie es mit Hilfe von Lexika hergestellt werden soll, wird also in einem gewissen Ausmaß reflektiert. Dies kann LeserInnen etwas Orientierung verschaffen.


Anmerkung

Dem Symposium liegt die Frage zugrunde, ob in Buchform vorliegende aktuelle Soziologie-Lexika als Informationsquelle im Vergleich zu Wikipedia und ähnlichen e-Medien noch zeitgemäß sind.


Literatur

Weber, M. Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage; Mohr: Tübingen, 1972.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-1-14
Erschienen im Druck: 2016-1-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Das Ende klassischer Printmedien? Ein Vergleich soziologischer Einführungswerke und Lexika mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia aus studentischer Perspektive
  6. Zur Literalität der Soziologie durch Lexika und Wikipedia
  7. Die soziologische Wörterbücherei
  8. Essay
  9. Boudons „Unvollendete“ oder: Was macht die Sozialwissenschaft zur Wissenschaft?
  10. Sammelbesprechungen
  11. Repression, Konstitution und Transformation: Das Politische als Neuversammlung gesellschaftlicher Macht
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  13. Die Praxis der Innovationsforschung – im Spannungsfeld von Wissenschaft, Ökonomie, Steuerung und Organisation
  14. Doppelbesprechung
  15. Nach dem Menschen oder nach dem Humanismus?
  16. Einzelbesprechungen
  17. Michael Beetz / Michael Corsten / Hartmut Rosa / Torsten Winkler, Was bewegt Deutschland? Sozialmoralische Landkarten engagierter und distanzierter Bürger in Ost- und Westdeutschland. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2014, 393 S., br., 29,95 €
  18. Nicole Burzan / Silke Kohrs / Ivonne Küsters, Die Mitte der Gesellschaft: Sicherer als erwartet? Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2014, 204 S., br., 25,95 €
  19. Eva Barlösius, Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt. Frankfurt am Main/New York: Campus 2014, 203 S., kt., 24,90 €
  20. Birgit Pfau-Effinger / Sonja Buschka (Hrsg.), Gesellschaft und Tiere. Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis. Wiesbaden: Springer VS 2013, 270 S., br., 29,99 €
  21. Göran Therborn, The Killing Fields of Inequality. Cambridge: Polity 2013, 180 S., kt., 17,50 €
  22. Axel Honneth / Ophelia Lindemann / Stephan Voswinkel (Hrsg.), Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Campus 2013, 303 S., kt., 24,90 €
  23. Peter Isenböck / Linda Nell / Joachim Renn (Hrsg.), Die Form des Milieus. Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Formen der Vergemeinschaftung. Zeitschrift für Theoretische Soziologie (ZTS). 1. Sonderband. Weinheim: Beltz Juventa 2014, 402 S., br., 39,95 €
  24. Volker Kruse, Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. Konstanz: UVK 2015, 288 S., gb., 39,00 €
  25. Fritz Böhle / Sigrid Busch (Hrsg.), Management von Ungewissheit. Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht. Bielefeld: transcript 2012, 385 S., br., 34,80 €
  26. Michael Corsten / Michael Kauppert (Hrsg.), Der Mensch – Nach Rücksprache mit der Soziologie. Frankfurt a. M.: Campus 2013, 320 S., br., 29,90 €
  27. Hendrik Vollmer, The Sociology of Disruption, Disaster and Social Change. Punctuated Cooperation. Cambridge: Cambridge University Press 2013, 276 S., gb., 80,00 €
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2016
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 16.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2016-0003/html
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