Der Lehrer als Erbe der prophetischen Mission
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Johannes Twardella
Zusammenfassung
Gegenwärtig werden unterschiedliche Vorstellungen davon diskutiert, wie die Position des Lehrers im islamischen Religionsunterricht zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse wird in dem vorliegenden Artikel der Frage nachgegangen, wie im Islam die Position des Lehrers gedacht wird. Eine mögliche Antwort auf diese Frage findet sich in den Schriften des aus der Türkei stammenden islamischen Predigers Fethullah Gülen. Seine Überlegungen zur Position des Lehrers werden in dem vorliegenden Artikel mit Bezug auf einen Text aus dem dritten Band der „Smaragdgrünen Hügel des Herzens“, einer Sammlung von Texten Fethullah Gülens zur islamischen Mystik, rekonstruiert. In diesem Text wird der aus dem Koran stammende Begriff der „Rechtleitung“ dergestalt interpretiert, dass die Rechtleitung als ein Erbe betrachtet wird, das von dem Propheten auf den Lehrer übergeht. Mohammed wird in diesem Text von Gülen nicht nur als Prophet begriffen, sondern auch als Lehrer und zwar als derjenige Lehrer, der am Anfang einer Kette von Lehrern steht. Während die Kette der Propheten mit Mohammed als beendet gilt, wird die Kette der Lehrer mit ihm erst begonnen. Das hat zur Folge, dass jeder sich „in die Fußstapfen Mohammeds“ begeben und an seinem Charisma partizipieren kann, der zum Lehrer wird und die Aufgabe der Rechtleitung, so wie sie Gülen definiert, übernimmt. Die Position des Lehrers wird von Gülen also – in einer für den islamischen Religionsunterricht freilich ungeeigneten Weise – unabhängig von allen weltlichen Bezügen gedacht und konsequent religiös legitimiert.
1 Die Frage nach der Position des Lehrers
Bereits seit einiger Zeit ist an Schulen und Universitäten in Deutschland ein Prozess im Gang, der in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden kann: die Etablierung einer islamischen Religionspädagogik. Wie dieser Prozess verläuft, das hängt freilich von zahlreichen Faktoren ab. Zu diesen Faktoren gehört u.a auch, ob es gelingt, eine moderne islamische Theologie zu entwickeln, welche als Fundament für diesen Prozess dienen kann. Des Weiteren hängt sein Gelingen aber auch davon ab, wie die islamische Religionspädagogik gedacht wird.[1] Wie offen die Situation gegenwärtig noch ist, zeigt sich u.a. daran, dass es äußerst unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, welche Position der Lehrer[2] im islamischen Religionsunterricht innehaben sollte.[3]
Aus einer soziologischen Sicht ist die Sache eigentlich klar: Der Beruf des Lehrers ist einer unter vielen in modernen Gesellschaften und lässt sich – mit gewissen Einschränkungen – der Gruppe der Professionen zuordnen. Die zu dieser Gruppe gehörenden Berufe kennzeichnet, dass sie auf der Basis wissenschaftlichen Wissens – wie Ulrich Oevermann es formuliert hat – „universelle Problemfoci“ bearbeiten.[4] Was den Lehrer betrifft, so ist es der Focus der „Aufrechterhaltung und Gewährleistung von leiblicher und psycho-sozialer Integrität des Einzelnen“.[5] Dazu begibt sich der Lehrer in ein Arbeitsbündnis, das zwischen ihm, den Heranwachsenden und ihren Eltern sowie dem Staat bzw. der Gesellschaft besteht. Auf der Basis dieses Arbeitsbündnisses wird sodann im Rahmen der Organisation Schule eine pädagogische Kommunikation mit Heranwachsenden, mit Schülern aufgenommen und zwar mit dem Ziel, dass diese mündig werden. Was aus soziologischer Sicht selbstverständlich zu sein scheint, ist es jedoch keineswegs – aus religiöser Sicht kann die Position des Lehrers ganz anders gesehen werden.
In dem vorliegenden Aufsatz soll am Beispiel eines Textes des islamischen Predigers Fethullah Gülen gezeigt werden, wie die Position des Lehrers aus einer islamischen Perspektive entworfen werden kann. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass dies nicht auch anders möglich wäre, dass diese aus einer islamischen Perspektive nicht auch ganz anders konstruiert werden könnte. Behauptet wird allein, dass hier eine offene Frage besteht und eine Klärung notwendig ist. Bei Gülen wird die Position des Lehrers außerhalb von jedem institutionellen Kontext gedacht. Ihre Legitimation erhält sie dadurch, dass der Lehrer in der Nachfolge des Propheten gesehen wird. Und ein Arbeitsbündnis entsteht, wenn ein Lehrer ein Angebot macht, dass von einer anderen Person aus eigenem Antrieb angenommen wird. Der Lehrer handelt aus Gülens Sicht nicht im Auftrage des Staates, vielmehr wird das Lehrer-Schüler-Verhältnis als unabhängig von allen weltlichen Instanzen gedacht – und kann deswegen potentiell in einen Konflikt mit diesen geraten. – Für den islamischen Religionsunterricht ist zweifelsohne ein anderes Verständnis dieser Position erforderlich.
2 Forschungen zu Gülen und der Hizmet-Bewegung
Fethullah Gülen (geb. 1938) bzw. jene Bewegung, die er ins Leben rief, die „Gülen-„ bzw. „Hizmet-Bewegung“, ist schon mehrfach zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden. Ihren Ursprung hat diese Bewegung bekanntlich in der laizistischen Türkei, wie sie durch Kemal Atatürk geschaffen wurde. Entstanden ist sie aus dem Bemühen, eine Alternative zu der „verwalteten Religion“[6] – welche aufgrund der republikanischen Reformen unter einem Glaubwürdigkeitsdefizit litt -, zu entwickeln, eine Alternative, die auf spiritueller Gewissheit beruht. Zunächst breitete sich diese Bewegung innerhalb der Türkei aus, längst aber ist sie in zahlreichen Staaten präsent, u.a. auch in Deutschland. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt im Bereich der Bildung. Dies zeigt sich in Deutschland vor allem daran, dass neben Vereinen, die sich für den interreligiösen Dialog einsetzen, zahlreiche Bildungseinrichtungen gegründet wurden. In der Türkei hat die Hizmet-Bewegung bekanntlich wesentlich zum Aufstieg und zur Machtentfaltung der sich gegenwärtig an der Regierung befindenden AKP beigetragen, wird dort jedoch inzwischen als eine „terroristische Organisation“ eingestuft und als solche bekämpft.
Aus unterschiedlichen Perspektiven ist die „Hizmet-Bewegung“ in der Vergangenheit bereits wissenschaftlich erforscht worden: An erster Stelle ist die umfangreiche Studie von Bekim Agai zu nennen, in der verschiedene Aspekte – die Biographie Fethullah Gülens, sein Denken sowie die Entwicklung der „Hizmet-Bewegung“, ihre Organisationsform sowie die Motive und Interessen ihrer Anhänger – aus einer islamwissenschaftlichen Perspektive erforscht wurden.[7] Aus einer anderen, nicht islam-, sondern politikwissenschaftlichen Perspektive hat sich jüngst Günter Seufert mit der „Hizmet-Bewegung“ befasst.[8] Sein Interesse ist – vergleicht man es mit demjenigen von Agai, welcher ein umfassendes Bild zu vermitteln intendiert – deutlich begrenzt: Der Fokus von Seufert liegt allein auf der „politischen Vision“ von Gülen, die er zum einen vor dem Hintergrund der Lehren des Naksibendiye-Ordens[9], zum anderen vor dem der Lehren des Gründers der Nurculuk-Bewegung[10] Said Nursi (1876-1960) interpretiert. Gülen vertrete, so lautet Seuferts These, eine „modernisierte Version“ der „naksiben-dischen Lehren“[11], dass die koranischen Normen strikt zu beachten seien und sich der Gläubige – im permanenten Bewusstsein der Präsenz Gottes – für die Gesellschaft und deren sittlichen Verhältnisse engagieren solle. Und von Nursi habe Gülen jene Methoden übernommen, mit denen er seine „Vision einer moralischen Gesellschaft“[12] zu verwirklichen versuche: vor allem die Bildung von „Studienzirkeln“, um eine „fromme Elite“[13] zu schaffen.
Was die soziologische Forschung betrifft, so ist vor allem die Studie von Helen Rose Ebaugh zu erwähnen, in der diese u.a. der Frage nachgegangen ist, woher die „Hizmet-Bewegung“ ihre finanziellen Mittel bezieht und wie sich das große Engagement ihrer Anhänger erklärt.[14] Die Bewegung erhalte ihre Gelder, so lautet ihre Antwort, vor allem durch Spenden, welche primär aus religiösen Motiven heraus gegeben würden. Und bezogen auf die zweite Frage erklärt Ebaugh, die „Hizmet-Bewegung“ sei schlicht eine zivilgesellschaftliche soziale Bewegung, der es in erster Linie um Erziehung, Bildung und Dialog gehe. Deswegen seien Befürchtungen, die daraus resultieren, dass die „Hizmet-Bewegung“ für Außenstehende wenig transparent ist, letztlich unbegründet. Eine soziologische Interpretation des Deutungsmusters, welches Gülen vertritt, und der Normen, welche mit diesem verbunden sind, steht allerdings noch aus. Auf diese Fragen ist bisher von soziologischer Seite noch keine überzeugende Antwort gegeben worden.
Aufgrund dessen, dass sich die „Hizmet-Bewegung“ in besonderer Weise auf dem Gebiet der Bildung engagiert, haben auch Erziehungswissenschaftler inzwischen begonnen, sich mit dieser zu befassen. Zu diesen gehören auch Thomas Geier und Magnus Frank, die das Forschungsprojekt „Die Pädagogik der >„Gülen-Bewegung“<. Praktiken und Biographien junger Studierender im Kontext des türkisch-islamischen >hizmet<“ durchführen. Der Kooperation mit ihnen verdankt sich der vorliegende Artikel.[15] In ihm wird davon ausgegangen, dass die Analyse der Konstruktion des Lehrers – deren Bedeutung in der Literatur immer wieder hervorgehoben wird, die aber bisher nicht genauer bestimmt wurde – einen Schlüssel zum Verständnis dieser Bewegung bietet.
Darum soll es also im Folgenden gehen: Wie wird der Lehrmeister und wie wird das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Gülen gedacht?[16] Rekurriert wird dabei auf die Methode der Objektiven Hermeneutik.[17] Mit ihrer Verwendung ist verbunden, dass Fragen der Intertextualität weitgehend ausgeblendet werden: Selbstverständlich argumentiert Gülen vor dem Hintergrund der Tradition der islamischen Mystik, auf der Basis von breiten Kenntnissen über diese.[18] Aus der Perspektive der Philologie stellt sich die Frage, welche Texte Gülen rezipiert hat, auf welche er Bezug nimmt und wie er diese eigenwillig neu interpretiert.[19] Doch die Soziologie ist an der Struktur der gedanklichen Konstruktion interessiert und an der Frage, welche praktischen Konsequenzen sich aus dieser möglicherweise ergeben. Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist die Methode der Objektiven Hermeneutik in besonderer Weise geeignet.[20]
3 Ein Text von Gülen zum Thema „Rechtleitung“
Gegenstand der Analyse ist ein Text von Gülen, der aus dem Buch „Smaragdgrüne Hügel des Herzens“ stammt.[21] In diesem aus vier Bänden bestehenden Werk geht es, wie der Untertitel bereits zu erkennen gibt, um „Schlüsselkonzepte in der Praxis des Sufismus“.[22] Als Sufismus wird bekanntlich die islamische Mystik bezeichnet.[23] Von zentraler Bedeutung für den Sufismus ist die Vorstellung von dem mystischen Pfad, den Gläubige betreten können, wenn sie in eine besondere Nähe zu Gott gelangen wollen. Eben von diesem Pfad handeln die „Smaragdgrünen Hügel des Herzens“: In einer Vielzahl von relativ kurzen Texten geht der Autor jeweils auf eine Facette, einen Aspekt dieses Weges ein. Sich einem Lehrer bzw. Lehrmeister anzuschließen, kann als der erste Schritt angesehen werden, den ein Mensch macht, wenn er sich auf den mystischen Pfad begibt.[24]
Der Text beginnt mit einer Überschrift, die zum einen aus zwei (mit der Konjunktion „und“ verbundenen) arabischen Begriffen „Irschad und Murshid“ besteht, zum anderen aus einer in Klammern gesetzten Übersetzung: „Rechtleitung und Rechtleitender/Lehrmeister“. Bevor auf inhaltlicher Ebene die Überschrift analysiert wird, sei – nur kurz – darauf eingegangen, was es bedeutet, dass die Überschrift, ja, nur die Überschrift dem Leser sowohl im Original als auch in einer Übersetzung geboten wird?[25] Faktisch wird eine Übersetzung präsentiert, doch indem die Überschrift auch auf Arabisch zu lesen ist, wird zum einen von Anfang an zu erkennen gegeben, dass der Text in einer bestimmten Tradition steht, und zum Ausdruck gebracht, dass diese geachtet, ja, anerkannt wird. Gleichzeitig wird durch die Übersetzung diese Tradition zugänglich gemacht – auch für diejenigen, die außerhalb ihrer stehen bzw. die kein Arabisch können. Zum anderen kann die Präsentation von Original und Übersetzung auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass eben eine Übersetzung vorliegt. – Und diese kann als exemplarisch dafür verstanden werden, was es bedeutet, „Hizmet“ zu leisten: sich in den Dienst einer Sache stellen und für andere eine Leistung erbringen.
Was bedeuten nun die beiden Begriffe? Der Begriff der „Rechtleitung“ kann verstanden werden als ein solcher, der drei Dinge auf eine spezifische Weise in Bezug zueinander setzt: Zum einen setzt dieser Begriff die Vorstellung eines Weges voraus, einer Strecke bzw. einer Bewegung von einem Punkt zu einem anderen. Mit dieser Vorstellung ist verbunden, dass es ein Ziel gibt. Doch ist nicht ausgemacht, dass derjenige, der die Strecke zurückzulegen beabsichtigt, dieses Ziel auch erreichen wird. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dass er vom Weg abkommt und in die Irre geht. Deswegen ist es erforderlich, dass es eine „Leitung“ gibt. Auf diese ist angewiesen, wer das Ziel erreichen möchte.
Das zweite Element, was vorausgesetzt wird, ist ein Wesen, eine Person, die zu einem bestimmten Ziel möchte, allerdings eben nicht eigenständig dorthin zu gelangen vermag, vielmehr auf Hilfe angewiesen ist. Und das Dritte ist schließlich das oder derjenige, der diese „Rechtleitung“ bieten kann. Wenn es sich um eine Person handelt, stellt sich die Frage, was diese zur Rechtleitung befähigt: ein Wissen über das Ziel, das sie (und nur sie) besitzt? Oder ist es vielmehr eine Kenntnis des Weges? Denkbar wäre aber auch, dass dieses Wissen bzw. diese Kenntnisse von einer Person losgelöst gedacht werden – etwa als „Recht“ bzw. als rechtlicher Kodex, der Rechtleitung bietet.
Vor dem Hintergrund der kommunikationstheoretischen Wende in der Religionssoziologie[26] können die Fragen, die sich nun stellen, folgendermaßen formuliert werden: Wenn Rechtleitung als ein kommunikativer Prozess gedacht wird, wer ist dann der „Sender“, wer der „Empfänger“ und welcher „Code“ wird bei der Kommunikation verwendet?
Im Kontext des Islam ist in Bezug auf die Position des Senders als erstes an den einen Gott zu denken, der sich an die Menschen als „Empfänger“ mit einer sprachlichen „Botschaft“ wendet, sodann an den Propheten Mohammed, der, weil der eine Gott als allmächtig und deswegen nicht im Irdischen präsent gedacht wird, stellvertretend für diesen die göttliche Botschaft den Menschen übermittelt. Angesichts dessen, dass die Rechtleitung schon seit langem in schriftlich fixierter Form – und damit zeitenthoben – in Gestalt des Koran vorliegt, ist jedoch letztlich jeder im Prinzip dazu in der Lage, die Rechtleitung zu vollziehen bzw. sich vom Koran rechtleiten zu lassen – und eine in der Tradition zu klärende Frage ist dann (gewesen), wer dazu legitimiert ist, die Rechtleitung auf der Basis des Koran (und der Hadithe) zu übernehmen, bzw. welchen Kriterien ein Rechtleitender genügen muss. Im Islam wurde diese Frage (wie in anderen Religionen auch) durch die Ausbildung verschiedener Expertenrollen beantwortet, die arbeitsteilig sich um die Rechtleitung der Laien kümmerten – in Abhängigkeit z.B. davon, um welche inhaltlichen Aspekte es jeweils ging, um Glaubensvorstellungen[27] oder um Normen[28]. Zudem differenzierten sich Expertenrollen in Abhängigkeit von den Modi der Interpretation aus, d.h. neben den Experten, die primär vom Prinzip der Wörtlichkeit ausgingen (Skripturalismus), etablierten sich solche, die nach einem tieferen Sinn, nach anderen Bedeutungsebenen suchten. So bildete sich u.a. die Tradition der islamischen Mystik heraus, die den Islam sowohl spekulativ (bezogen auf theoretische Fragen) als auch praktisch deutete. Und auch im Rahmen der islamischen Mystik entstanden Expertenrollen, vor allem die des Lehrmeisters, dem derjenige sich anzuvertrauen aufgefordert ist, der den mystischen Weg zu gehen beabsichtigt.
Bezogen auf den vorliegenden Text stellt sich also die Frage, wie in diesem die Rolle des Rechtleitenden gedacht wird: Welchen Kriterien muss er genügen, wie wird seine Aufgabe konkret definiert?
4 Rechtleitung mit dem Ziel der „Vervollkommnung“ des Menschen
Der auf die Überschrift folgende Text beginnt nun folgendermaßen:
„Es gibt unterschiedliche Definitionen von Rechtleitung“
Zu der Art der Aussage lässt sich erst einmal festhalten, dass nicht von Rechtleitung erzählt wird, wir also nicht einen literarischen, sondern einen Sachtext vor uns haben. Dieser beginnt ähnlich einem Handbuchartikel, in dem der Stand der Reflexion über einen Begriff in kurzer und prägnanter Weise präsentiert wird. Auch ein solcher könnte in der Weise beginnen: „Es gibt unterschiedliche Definitionen von…“
Handelt es sich bei dem vorliegenden Text also um einen wissenschaftlichen? Angesichts des Inhaltes, um den es hier geht, wäre es durchaus denkbar. Zwar beruht er auf metaphysischen Prämissen bzw. auf Annahmen, die sich letztlich empirisch nicht klären lassen – die Begriffe, die er voraussetzt, sind Signifikanten, deren Signifikat nicht empirisch identifiziert werden kann.[29] Doch könnte in einer wissenschaftlichen Weise darüber gesprochen werden, welche Verwendungsweisen der Begriffe bekannt sind, und diese könnten auf ihre Konsistenz hin geprüft und miteinander verglichen werden. Ein solches Vorgehen scheint hier praktiziert zu werden. Es setzt freilich die Kenntnis der Geschichte der Begriffe voraus und impliziert die Anerkennung der intellektuellen Leistung anderer sowie eine Relativierung des eigenen Standpunktes: Er verdankt sich zahlreicher Vorarbeiten.
„unter anderem: Führung auf dem rechtem Weg;“
Von einem wissenschaftlichem Text würden wir nun allerdings mehr Präzision erwarten: dass nicht nur eine, sondern alle Definitionen angeführt werden, dass die Menge von Definitionen nach bestimmten Gesichtspunkten systematisch geordnet wird, dass erwähnt wird, auf wen die einzelnen Definitionen zurück gehen, dass bibliographische Angaben zu den Quellen, denen sie entnommen sind, gemacht werden etc. Dennoch bleibt eine Analogie zwischen dem vorliegenden und einem wissenschaftlichen Vorgehen bestehen. Denn auch wenn die Standards wissenschaftlichen Arbeitens nicht beachtet werden, so bleibt es doch dabei, dass nicht dogmatisch nur eine Definition präsentiert, sondern der Pluralität von Deutungen Rechnung zu tragen versucht wird.
Inhaltlich gesehen haben wir es hier mit einer Paraphrase des ersten Begriffs zu tun – auf die sodann weitere Paraphrasen folgen. In diesen werden jeweils die Akzente etwas anders gesetzt und zwar in Bezug auf die drei strukturellen Elemente von Rechtleitung: darauf, wer geführt wird – die „Herzen“, die „Gefühle“, die „Gedanken“ oder die „Seele“ -, wohin geführt wird, also was das Ziel ist – „die höchste aller Wahrheiten“, „Gott“ bzw. die „Nähe zu Gott“ – und wie der Prozess selbst gedacht wird – es wird von „Erweckung“ gesprochen, vom „Ausräumen von Hindernissen“, von „seelischem Beistand“ sowie von „Unterstützung“. Auf diese verschiedenen Definitionen folgt sodann eine Formulierung, die eine Generalisierung zu sein scheint:
„Rechtleitung beinhaltet, einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen zu unterweisen und zu schulen;“
Auf den ersten Blick gesehen handelt es sich um den Versuch einer Definition, die insofern allen anderen überlegen ist, als sie allgemeiner formuliert ist und das den verschiedenen Definitionen Gemeinsame herausstellt. Im Hinblick auf den „Adressaten“ der Rechtleitung trifft dies durchaus zu, wenn von „einzelnen Menschen und Gruppen“ gesprochen wird, auf die Bestimmung des Prozesses jedoch nicht: „unterweisen und schulen“ ist etwas Anderes, etwas Neues.
Unabhängig davon, ob mit „unterweisen“ und „schulen“ ein und derselbe Prozess bezeichnet oder von der Vorstellung ausgegangen wird, dass zunächst eine Unterweisung erfolgt, die in der Vermittlung bestimmter Kenntnisse sowie Fähigkeiten besteht, welche sodann „geschult“ werden: Rechtleitung – und wir können jetzt davon ausgehen, dass dies zu der Definition gehört, die der Autor des Textes für die richtige hält – wird hier begriffen als ein Prozess, und zwar ein solcher, der geplant wird und der einer bestimmten Methode folgt. Und zu dem „Programm“ der Rechtleitung gehört offensichtlich nicht nur die Vermittlung von Kenntnissen, sondern auch die Einübung bestimmter Fähigkeiten.
Wenn wir nun berücksichtigen, dass es um Rechtleitung im Rahmen des Islam geht, könnte vermutet werden, dass mit „unterweisen“ die Belehrung über die Glaubensvorstellung und Normen des Islam und mit „schulen“ die Einübung in die Befolgung letzterer, z.B. derjenigen, die in der scharia zusammengefasst sind, gemeint ist. Wird darüber hinaus als Kontext derjenige der islamischen Mystik angenommen, ist die Lesart naheliegend, dass hier von dem mystischen Pfad die Rede ist: Die individuelle Beziehung, welche der Gläubige zu seinem Gott aufnimmt, der mystische Weg, den er einschlägt, ist nicht beliebig, sondern folgt einer bestimmten Methode, einer Methode, die im Rahmen der Rechtleitung ihm übermittelt wird und zwar sowohl als ein Wissen als auch als ein Können.
„d.h., diejenigen von ihnen, die über die erforderlichen Fähigkeiten und Werte verfügen, von potenziellen Menschen in wahre Menschen zu verwandeln oder sie zum Horizont des vollkommenen Menschseins zu geleiten.“
Mit „d.h.“ wird behauptet, was folgt, sei schon in dem zuvor Gesagten enthalten, sei nur eine Explikation von diesem. Es wird der Eindruck einer bloßen Auslegung erweckt, faktisch aber wird Weiteres behauptet: Zum einen wird die Gruppe der „Adressaten“ eingegrenzt: Adressat können nicht einfach alle Menschen sein, sondern nur diejenigen, die bestimmte „Fähigkeiten und Werte“ schon mitbringen. Die Frage, was hier konkret gemeint ist, lässt sich allerdings nicht beantworten. Wenn tatsächlich eine Einschränkung vorliegt (und zu diesem Schluss muss man angesichts der Satzkonstruktion gelangen), heißt das, dass Rechtleitung hier nicht als ein universales Konzept, sondern als ein partikulares gedacht wird. Ob dies so ist, hängt davon ab, ob bestimmte „Fähigkeiten und Werte“ als etwas angesehen werden, das von der individuellen Entscheidung des Einzelnen abhängig ist oder nicht. Werden diese Fähigkeiten als etwas Angeborenes gedacht und die Werte als etwas, das einem Individuum im Rahmen seiner Sozialisation vermittelt wurde? Oder können Fähigkeiten – bevor sie geschult werden – auf der Basis individueller Entscheidungen auch erworben werden, ebenso wie Werte? Auf jeden Fall ist die Rechtleitung nicht voraussetzungslos, ist sie vielmehr an bestimmte Bedingungen geknüpft.
Zum anderen wird zwischen verschiedenen Menschen bzw. Formen des Menschseins unterschieden. Da ist zum einen der Gegensatz von potenziellem und „wahrem Menschen“, zum anderen der von „unvollkommenem“ und „vollkommenem Menschen“. In dem ersten Gegensatz steckt sowohl die Unterscheidung von „potenziell“ und „real“ bzw. „faktisch“: Jemand ist nicht einfach Mensch, weil er als Mensch geboren wurde, sondern wird erst zum Menschen. Was in ihm als Möglichkeit von Anfang an vorhanden bzw. angelegt war, wird real.[30] Und in diesem Gegensatz steckt auch die Unterscheidung von „wahr“ und „unwahr“. Das hat zur Folge, dass das „reale“ Menschsein mit einem bestimmten Kriterium verbunden wird, wobei „wahr“ entweder „nur“ in dem einfachen Sinne von „eigentlich“ gemeint sein kann oder dem anspruchsvolleren von „an eine bestimmte Wahrheit gebunden“. Hinzu kommt noch die dritte Unterscheidung zwischen „unvollkommenem“ und „vollkommenem Menschen“, wobei fraglich ist, ob damit inhaltlich etwas anderes gemeint ist oder einfach nur eine andere Formulierung für denselben Inhalt, denselben Gedanken geboten wird. Vermutlich ist es nicht falsch, davon auszugehen, dass der Zustand des „wahren“ und der des „vollkommenen Menschen“ sich letztlich nicht unterscheiden.
Entscheidend ist nun, so möchte ich behaupten, dass hier als Ziel der Rechtleitung nicht Gott, nicht die Nähe zu ihm, nicht etwas Jenseitiges (wie die Einkehr ins Paradies) oder Ähnliches erscheint, sondern ein bestimmter, besonderer Zustand des Menschseins. Und dies setzt eben eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, Mensch zu sein voraus. Diese Unterscheidung kann, das zeigte sich oben, nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen, die aber vermutlich alle auf das gleiche Ideal hinauslaufen. Entweder wird dieses Ideal mit (dem Besitz von) Wahrheit verbunden oder mit einer Vorstellung von Perfektibilität. Und beides ist mit unterschiedlichen Implikationen im Hinblick auf den Prozess der Rechtleitung verbunden: Während nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Wahrheit einem „Adressaten“ einmal vermittelt wird oder er einmal diese erfährt und fortan „in der Wahrheit lebt“, ist mit der Vorstellung der Vollkommenheit eher der Gedanke an einen langsamen, womöglich sehr aufwändigen und anstrengenden Prozesses der „Vervollkommnung“ verbunden, eben der allmählichen Annäherung an das Ideal.
5 Der Lehrer als „Mittlerfigur“
„Als Rechtleitung darf aber auch die Einladung verstanden werden, die ein vollkommener Lehrer (…) all jenen Menschen ausspricht, die über das Potenzial verfügen, sich auf einer bestimmten Stufe des Menschseins wie wahre Menschen zu verhalten.“
Wurde zuvor primär auf den ersten der beiden Begriffe aus der Überschrift eingegangen, kommt nun auch der zweite ins Spiel und zwar dadurch, dass der Begriff der Rechtleitung weiter erklärt wird: Auch die „Einladung“ eines „vollkommenen Lehrers“ sei eine Variante von Rechtleitung. Damit vervollständigt sich allmählich ein bestimmtes Bild: Da ist zunächst der Adressat der Rechtleitung. Er wird hier beschrieben als jemand, der das Potenzial hat, zum „wahren Menschen“ werden zu können.[31] Der Prozess der Rechtleitung wird sodann bestimmt als eine „Einladung“, was folgendermaßen zu interpretieren ist: Wie oben bereits ausgeführt wurde, legt der Begriff der Rechtleitung nahe, dass der Rechtleitende der Aktive, der Dominante ist und der Adressat sich rechtleiten lässt, also eher passiv bleibt. Indem nun die Rechtleitung als Einladung bezeichnet wird, wird eine Konkretisierung vorgenommen, welche eine Korrektur verlangt: Der Rechtleitende ist zwar insofern aktiv, als er die Einladung ausspricht, es liegt jedoch bei dem Adressaten zu entscheiden, ob er die Einladung annehmen möchte oder nicht. Und wenn er dies macht, wenn er sich dafür entscheidet, dann, so ist zu vermuten, ist zwar weiterhin auch der Rechtleitende aktiv: Er führt. Doch ist auch der Adressat ebenfalls in seiner Aktivität gefordert, denn er muss den Weg, der zum Ziel des „wahren Menschseins“ führt, letztlich selber gehen.
Entscheidend ist nun, dass der „Sender“ der Rechtleitung als ein Lehrer bzw. als ein „vollkommener Lehrer“ bezeichnet wird. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Rolle des Experten, desjenigen, der den rechten Weg weist, spezifisch definiert wird. Was das impliziert, kann man sich klar machen, wenn man diese Expertenrolle als idealtypische mit anderen Rollen bzw. Positionen vergleicht, die Rechtleitung bieten. Dafür soll hier zunächst auf Webers Unterscheidung zwischen drei „Mittlerfiguren“ aus seiner Religionssoziologie rekurriert werden, auf seine Unterscheidung zwischen Zauberer, Priester und Prophet.[32] Weber hat diese drei Figuren miteinander verglichen, weil sie – auf einer abstrakten Ebene – letztlich die gleiche Aufgabe für die Gesellschaft erfüllen: Sie vermitteln, wie Weber es formuliert, zwischen einer je spezifischen Gemeinschaft und einer „Hinterwelt“, sie sind zuständig für die Kommunikation der Gemeinschaft mit dieser. Sie bieten Deutungen und mit diesen Deutungen sind jeweils normative Aussagen verbunden, also Aussagen darüber, was die Mitglieder der Gemeinschaft tun können, dürfen oder auch müssen.
Darüber hinaus verbindet diese Figuren, dass sie alle drei jenes Problem lösen müssen, das sich mit ihrer kommunikativen Aufgabe stellt, nämlich den Mitgliedern der Gemeinschaft glaubhaft machen zu müssen, dass sie tatsächlich im Kontakt mit der „Hinterwelt“ stehen, also einen privilegierten Zugang zu dieser haben. Und sie müssen diese glauben machen, dass dasjenige, was sie inhaltlich vermitteln, richtig und tatsächlich zu befolgen ist. Laut Weber bewältigen die drei Experten dieses Problem jeweils auf sehr unterschiedliche Weise: Der Zauberer verwendet für seine Kommunikation mit einer „Hinterwelt“, die als von übersinnlichen Mächten, von Geistern, Göttern und Dämonen bevölkert vorgestellt wird, magische Mittel. Die Glaubwürdigkeit des Propheten, der nur das Wort als kommunikatives Mittel hat, mit dem er sich stellvertretend für den einen Gott an eine Gemeinschaft wendet, hängt davon ab, ob und inwiefern es ihm gelingt, charismatisch zu wirken. Die Tätigkeit des Priesters hingegen beruht darauf, dass ein Ensemble von Glaubensvorstellungen und Normen bereits besteht. Er verwaltet den Kanon, prüft und reflektiert ihn im Hinblick auf seine innere Konsistenz und wacht über die Einhaltung der mit ihm verbundenen Konformitätsverpflichtungen. Seine Glaubwürdigkeit ist zwar durch das Amt, welches er innehat, weitgehend verbürgt, dennoch ist er nicht frei von der Erfordernis, stets aufs Neue glaubwürdig zu wirken.
Das Verhältnis zwischen diesen drei Experten bzw. Mittlerfiguren ist laut Weber aufgrund dessen, dass sie letztlich die gleiche Aufgabe erfüllen, dies aber auf sehr unterschiedliche Weise machen, eines der potentiellen Konkurrenz. Im Islam ist dieses Konkurrenzverhältnis auf spezifische Weise ausgebildet, nämlich dadurch, dass das Prophetentum Mohammeds in seiner privilegierten Stellung gegenüber der Konkurrenz deutlich abgehoben wird[33]: Es wird im Koran in die eine Richtung dadurch abgegrenzt, dass mehrfach betont wird, Mohammed sei kein Zauberer. In die andere Richtung wird die Prophetie Mohammeds vom Priestertum mit der Vorstellung abgegrenzt, Mohammed sei „das Siegel der Propheten“. D.h., keiner nach ihm kann das Privilegium für sich in Anspruch nehmen, in unmittelbarem Kontakt mit der „Hinterwelt“ zu stehen. Expertentum kann es nur noch auf der Basis dessen geben, dass die Kommunikation beendet, sprich: dass es keine Offenbarung mehr gibt, da die Religion vollendet sei.[34]
Es hat nun den Anschein, als ob mit dem „vollkommenen Lehrer“ – idealtypisch betrachtet – eine weitere Expertenrolle im Islam konstruiert wird. Das würde implizieren, dass ein weiterer Konkurrent auf den Plan tritt, allerdings einer, der schwerlich mit dem Propheten konkurrieren kann – sonst müsste er für sich beanspruchen, eine neue Quelle der Offenbarung gefunden zu haben –, der aber eine Konkurrenz im Hinblick auf die anderen religiösen Experten im Islam, die „Priester“, also die Imane, Hocas und Mullahs darstellt.
Was unterscheidet nun aber einen Lehrer von einem Priester, allgemein gesprochen: von einem Geistlichen? Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf der Basis eines Kanons, einer bereits gegebenen Tradition agieren. Und beide Rollen beruhen auf einer Differenz in Bezug auf das Verhältnis zur Tradition, der Differenz zwischen Laien und Experten. Interpretiert werden kann diese als Ergebnis einer Arbeitsteilung: Die Gesellschaft hat eine spezifische Rolle ausgebildet für die Pflege der Tradition, die Wahrung des Kontaktes zur Hinterwelt. Der Unterschied zwischen einem Lehrer und einem Geistlichen besteht aber nun darin, dass bei letzterem das Verhältnis zwischen dem Experten und den Laien auf Dauer gestellt ist, während das Lehrer-Schüler-Verhältnis daraufhin angelegt ist, dass es irgendwann endet.
Und an ein solches Ende ist offensichtlich auch in dem vorliegenden Text gedacht: Wenn der Mensch zu einem „vollkommenen“ geworden ist, dann impliziert dies, dass er keiner Rechtleitung durch einen Lehrer mehr bedarf (sonst wäre er nicht vollkommen).
6 Der Lehrer als Träger der göttlichen Mission
Nachdem herausgearbeitet wurde, worin das Ziel der Rechtleitung besteht – der „vollkommene“, der „wahre“ Mensch – und sich gezeigt hat, dass dem Lehrer bzw. Lehrmeister die Aufgabe der Rechtleitung zugeschrieben wird, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie die Figur des Lehrers näher bestimmt wird. Die Antworten, die der Text auf diese Frage gibt, sollen jedoch nicht mehr dadurch gewonnen werden, dass weiter der Linearität des Textes gefolgt wird. Vielmehr soll der restliche Text jetzt unter systematischen Gesichtspunkten, die sich aus den bisherigen Analysen ergeben, ausgewertet werden. Da ist zunächst die Frage, ob die obige Deutung zutreffend ist und der Lehrer tatsächlich als eine Mittlerfigur zu verstehen ist. Sie lässt sich klären, indem jene Textstellen näher betrachtet werden, in denen das Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem/n Propheten thematisch ist.
In dem Text heißt es an einer Stelle etwa, der Lehrmeister sei jemand, der wisse, dass er „dem Pfad des Propheten folgt“.[35] Wie ist das zu verstehen? Denkbar wäre, dass mit dem „Pfad des Propheten“ die sunna des Propheten gemeint ist. Vielen Muslimen gilt diese, also die Lebensweise des Propheten, wie sie sich aus den hadithen erschließt, als vorbildlich. Mohammed ist – um es mit Max Weber zu formulieren – für sie nicht nur ein ethischer Prophet, der kundgetan hat, wie zu handeln sei, sondern auch ein exemplarischer Prophet, der paradigmatisch vorgeführt hat, wie ein Muslim sein Leben führen sollte.
Wenn mit dem „Pfad des Propheten“ allein die sunna gemeint wäre, würde von einem Lehrmeister also letztlich nichts anderes erwartet als von jedem anderen Muslim auch. Nachfolge meint hier jedoch mehr. Sie impliziert aus der Sicht von Gülen, dass der Lehrer ein „legitimer Erbe des Propheten Mohammed“[36] ist bzw. ein „Erbe der Mission der Prophetenschaft“[37]. Diese Formulierungen basieren auf der Unterscheidung zwischen der Mission und demjenigen, dem sie übertragen wurde, also einer Aufgabe und einer Person. Es gibt eine von jedem Beauftragten unabhängige Aufgabe, die letztlich allein auf Gott zurückgeführt werden kann – eine göttliche Mission. Diese wurde lange Zeit allein an Propheten erteilt. Nach dem Tod Mohammeds, dem letzten der Propheten, besteht sie weiter, wird nun allerdings eben nicht mehr an Propheten, sondern an Lehrer vergeben. Als Träger der „göttlichen Mission“ werden sie also tatsächlich als herausgehobene Mittlerfiguren gedacht.
Es ist nun aber freilich nicht so, dass Gülen zufolge jeder Mensch ohne weiteres zum Träger der besagten Mission werden kann, auch nicht jeder Lehrer, sondern nur derjenige, der bestimmte „Qualitäten“ hat, nämlich solche, „die sonst die Propheten auszeichnen“ (13). Der Lehrmeister, wie Gülen ihn hier entwirft, besitzt „Qualitäten“, wie sie auch andere Träger der göttlichen Mission besaßen, z.B. Mohammed. Umgekehrt wird dieser nun von Gülen auch zum Lehrer erklärt. Ja, Mohammed sei, so heißt es, der „bedeutendste aller Lehrmeister“ (16). Was aber sind nun die Qualitäten eines Lehrmeisters?
7 Das Wissen des Lehrers: religiös, wissenschaftlich und spirituell
Vor dem Hintergrund dessen, was zuvor über die Rechtleitung gesagt wurde, könnte erwartet werden, dass die Qualifikation, die ein Lehrmeister besitzen sollte, darin besteht, dass er über ein spezifisches Wissen verfügt, vor allem über ein „fachliches Wissen“. Tatsächlich heißt es im Text, ein „vollkommener Lehrer“ sei jemand,
„der ein lückenloses Wissen über die äußeren und inneren Aspekte der Religion besitzt“
Das Wissen, welches hier angesprochen wird, ist ein religiöses Wissen. Es ist beim Lehrer im Gegensatz zum Laien, der nur Weniges, Unzusammenhängendes weiß, ein „lückenloses“. Worin es genau besteht, was also mit den „inneren und äußeren Aspekten der Religion“ gemeint ist, ist schwer zu sagen: die inneren und äußeren Aspekte der Religiosität, der gelebten Religion, also dasjenige, was Außenstehende an einem Gläubigen wahrnehmen können, und die Religiosität, die dieser in seinem Innern trägt? Oder steht der Begriff hier für Religion im Sinne von Kanon und Ritual, die jeweils in unterschiedlicher Weise verstanden werden können, von denen ein Außenstehender ein anderes Wissen hat als jemand, der mit ihnen lebt, der die „Binnenperspektive“ kennt? Oder wird hier zwischen verschiedenen Graden der Erschließung der Religion aus der Binnenperspektive unterschieden, womöglich zwischen exoterischem und esoterischem Wissen?
Wie dem auch sei: Im Rückgriff auf die Typologie der Mittlerfiguren lässt sich festhalten, dass dieses Wissen den Lehrer wohl nicht von einem Geistlichen unterscheidet. Auch von letzterem kann erwartet werden, dass er ein solches Wissen besitzt. Anders gesprochen: Was den Lehrer zum Lehrer macht, seine besonderen pädagogischen Qualifikationen, werden hier (noch) nicht angesprochen.
Vom Lehrer heißt es nun weiter, er habe nicht nur Koran und Sunna studiert, sondern auch das „Buch des Universums“[38]. Zu dem religiösen Wissen kommt also noch ein weiteres, ein weltliches Wissen. Wie ist das zu verstehen? Der Lehrer sollte sich mit der Natur, ja auch mit den Naturwissenschaften beschäftigt haben und dazu in der Lage sein, die Natur zu „lesen“. Die Natur wird so zu einem Ensemble von Zeichen, von Signifikanten. Doch worauf verweisen diese, wie sind sie zu interpretieren? Im Koran findet sich die Vorstellung, dass sie alle, dass sämtliche Signifikanten in der Natur auf ein Signifikat verweisen, nämlich auf Gott, den Schöpfer als dem einen Signifikaten. Es ist zu vermuten, dass diese Vorstellung hier im Hintergrund steht – auch wenn sie nicht explizit angeführt wird. Entscheidend ist jedenfalls, dass der Lehrmeister nicht nur umfassende Kenntnisse in den religiösen, sondern auch in „bestimmten positiven Wissenschaften“[39] besitzt.
Schließlich ist noch von einem weiteren Wissen die Rede, von „spirituellem Wissen“, welches ein „vollkommener Lehrmeister“ besitze. Was aber ist ein „spirituelles Wissen“? Ist es ein Wissen über spirituelle Dinge und sind mit letzteren einfach jene Dinge gemeint, welche oben bereits erwähnt wurden, die „äußeren und inneren Aspekte der Religion“? Oder geht es um andere, eben um im engeren Sinne spirituelle Dinge? Oder ist hier von einem Wissen die Rede, das einfach qualitativ anders ist als ein nicht spirituelles, ein normales (weltliches oder religiöses, exoterisches oder esoterisches) Wissen?
Vom Lehrer heißt es auch, er solle eine „spirituelle Persönlichkeit“ sein. Heißt das, dass durch den Erwerb von Wissen, von spirituellem Wissen eine Veränderung der Persönlichkeit stattfindet bzw. ein Übergang in einen anderen Zustand, nämlich denjenigen von einem „Geist“ durchdrungen bzw. beseelt zu sein? Das würde bedeuten: Das spirituelle Wissen ist ein solches, das nicht einfach gelernt, sondern auf eine spezifische Weise angeeignet wird und zwar dergestalt, dass der Empfänger schließlich nicht mehr derselbe, sondern ein anderer geworden ist, durchdrungen von Geistigem. Dieses ist dann zu einem Bestandteil, ja zum Kern seiner Identität geworden. Und darin, so scheint es, unterscheidet er sich von anderen Mittlerfiguren: Was er weiß, woran er glaubt, das verkörpert er „vollkommen“, sein Wissen und sein Handeln entsprechen einander, er lebt seine Religion, ja, er besitzt eine „Meisterschaft“ in der Ausübung der Religion (wobei wieder an beide Möglichkeiten gedacht werden kann, die sunna und den mystischen Pfad) – und darauf beruht seine Glaubwürdigkeit. Und dieser Zustand, der – wie gesagt – durch den Erwerb von Wissen erreicht wird, dieser spirituelle Zustand wird schließlich als ein solcher gesehen, der durch eine besondere „Nähe zu Gott“[40] gekennzeichnet ist.
8 Rechtleitung als Heilsweg
Immer wieder unterstreicht Gülen in dem Text, dass der Lehrmeister auf der einen Seite – aufgrund seiner besonderen Qualitäten sowie der göttlichen Mission, die er erfüllt – besonders herausgehoben sei, auf der anderen Seite jedoch eine enorme Verantwortung auf ihm laste. Die Kehrseite der Herausgehobenheit bestehe in einer Verpflichtung, deren Wahrnehmung eine enorme Anstrengung bedeute, etwas, das ein Mensch kaum zu leisten in der Lage sei. Doch sei aus dieser nicht das Recht auf eine diesseitige Belohnung abzuleiten, vielmehr sei sie in vollkommener „Selbstverleugnung“[41] zu praktizieren – der Lehrmeister erwarte keine diesseitigen Gratifikationen, sondern handle nur, um Gottes Wohlgefallen zu erhalten.
An anderer Stelle wird die Bedeutung der Rechtleitung, ihr „Wert“ als „Heilsweg“, jedoch noch differenzierter thematisiert. Da heißt es:
„Wenn irgendwas das Prädikat verdient, außerordentlich dauerhaft in dieser Welt und außerordentlich verdienstvoll in der Welt des Jenseits zu sein, dann ist es ohne Zweifel die Rechtleitung.“[42]
Worum geht es? Es geht um die Frage der Qualifikation menschlicher Tätigkeiten, mithin auch möglicher Dienste (hizmet), die ein Mensch leisten kann – in der Verbindung von Herausgehobenheit und der Zurückstellung eigener Belange (eigener auf das Diesseits bezogener Interessen und Bedürfnisse). Genauer gesagt, geht es um deren Qualifikation als außerordentlich „dauerhaft“ und als außerordentlich „verdienstvoll“. Was heißt das? Das eine bezieht sich auf „diese Welt“, also das Diesseits. Die Frage ist: Wie schafft es ein Mensch, etwas zu tun, das im Diesseits nicht sofort wieder vergeht, das zwar nicht ewig hält, aber doch „außerordentlich dauerhaft“ ist. Dabei wird unterstellt, Menschen könnten eben diesen Wunsch haben, den Wunsch, angesichts dessen, dass alles Irdische der Zeitlichkeit, der Vergänglichkeit unterworfen ist, etwas Zeitloses, Zeitenthobenes zu schaffen.
Das andere bezieht sich aus Jenseits. Die Frage, auf welche eine Antwort gegeben wird, lautet: Was wird in der Welt des Jenseits als „außerordentlich verdienstvoll“ anerkannt? Welcher Dienst wird dort gewürdigt bzw. besonders gewürdigt? Auf beide Fragen lässt sich, so wird behauptet, letztlich keine klare, keine apodiktische Antwort geben. Genauer gesagt, auf der einen Seite besteht ein Zweifel, wird eine Unsicherheit markiert: Nichts ist letztlich sicher. Auf der anderen Seite aber wird eine absolute Gewissheit formuliert („ohne jeden Zweifel“): Wenn überhaupt irgendetwas das Prädikat „außerordentlich dauerhaft“ und „außerordentlich verdienstvoll“ verdient, dann nur eins: die Rechtleitung.
Das heißt: Nicht nur demjenigen, der sein Leben auf das Jenseits ausgerichtet hat und dort belohnt werden möchte, ist zu empfehlen, Rechtleitung zu praktizieren – sie ist unter allen möglichen Heilswegen der sicherste. Sondern auch, wer diesseitig orientiert ist, hier etwas erreichen möchte und an das Jenseits nicht denkt (oder an es nicht glaubt), dem ist die Rechtleitung ebenfalls zu empfehlen. Kurz: In jedem Fall sollte man rechtleiten!
9 Didaktik und pädagogischer Bezugt
Und was wird über die Pädagogik des Lehrmeisters und über das Lehrer-Schüler-Verhältnis gesagt? Gülen äußert sich zu dieser Frage kaum, in seinem Text finden sich allenfalls einige Bilder, die auf eine bestimmte Pädagogik schließen lassen. So heißt es über den Lehrmeister:
„Er schlägt eine Brücke zwischen dem, was verkündet werden soll, und den Empfängern der Verkündigung.“[43]
Das Bild der Brücke steht für die Didaktik des Lehrers. Es impliziert, dass es eine Distanz, eine Kluft zwischen der „Botschaft“ und dem Adressaten gibt. Diesem ist nicht geholfen, wenn er abstrakt mit der Botschaft konfrontiert wird, vielmehr muss die Distanz, welche zwischen ihm und der Botschaft liegt, erst einmal überwunden werden. Wie dies geschieht, wie also die Brücke beschaffen sein sollte, das wird nicht gesagt – denkbar wäre, dass sie in einer Modifikation der Botschaft besteht, in ihrer Didaktisierung, oder der Lehrer selbst ist diese Brücke. Entscheidend ist ja doch, dass deutlich wird: Voraussetzung für die Rechtleitung ist nicht allein, was schon oben hervorgehoben wurde: die umfassende Kenntnis der „Sache“. Vielmehr ist ebenso wichtig, dass der Lehrer seine/n Schüler kennt. Entsprechend heißt es vom Lehrer auch, er sei jemand,
„der seine Zuhörerschaft oder seine Anhänger einschließlich all ihrer charakterlichen Merkmale genau kennt.“[44]
Beides muss also gegeben sein: eine Kenntnis der Sache sowie eine solche der „Schüler“, um eine „Brücke“ schlagen, d.h. eine Vermittlung leisten zu können. Und im Hinblick auf die pädagogische Praxis wird gesagt:
„Er nimmt sie unter die Schwingen seines Mitgefühls“
Die pädagogische Praxis, die Lehre wird hier in das Bild eines Flugs gebracht: Beide, der Lehrer und der Schüler fliegen. Doch letzterer nicht allein aus eigener Kraft, vielmehr wird er mitgenommen, unter die Flügel genommen – und kann so im Windschatten des Lehrers leichter vorankommen. Dasjenige, was diese Hilfe möglich macht, wird als „Mitgefühl“ des Lehrers bezeichnet, seine Fähigkeit zur Empathie. Dadurch dass er mitfühlt, dass er dazu in der Lage ist, die Perspektive seines Schülers einzunehmen, kann der Lehrer diesem den Weg erleichtern.
Und weiter heißt es: Der Lehrer
„teilt Freud und Leid mit ihnen“
Wenn der Schüler leidet, dann leidet auch der Lehrer. Und wenn der Schüler sich freut, dann freut sich auch der Lehrer. Und der Lehrer
„beglückwünscht sie zu ihren Leistungen und sieht über ihre Fehler und Schwächen hinweg.“
Der Lehrer unterstützt die Schüler auf ihrem Weg und zwar allein in einem positiven Sinn. Er weiß zwar, dass die Schüler auch Fehler machen, auch Schwächen besitzen. Doch geht er darauf nicht ein, vielmehr übersieht er sie. Nur Positives wird wahrgenommen – und zwar so, dass dies nicht als Erfolg des Lehrers erscheint (obwohl es das zweifellos auch ist), sondern entweder als eine alleinige Leistung des Schülers selbst oder als ein Geschenk, das dieser erhalten hat. Letztlich sei nämlich die Rechtleitung, das Vorwärtskommen auf dem Weg zu Gott sowie das Erreichen des Ziels ein Geschenk Gottes.
10 Fazit
An dieser Stelle soll die Analyse abgebrochen werden (obwohl sich noch vieles ergänzen ließe) und ein Fazit gezogen werden. Ausgehend von der Frage, wie im Denken von Fethullah Gülen die Figur des Lehrers entworfen wird, wurde ein Text aus der Sammlung „Smaragdgrüne Hügel des Herzens“ analysiert. Es zeigte sich, dass Gülens Lesart des Islam alles andere als fundamentalistisch ist. Zwar bezieht Gülen sich in seiner Argumentation durchaus auf die Fundamente, auf die Frühzeit des Islam, doch macht er dies in einer besonderen Art und Weise: Während fundamentalistische Lesarten des Islam kennzeichnet, dass sie sich unmittelbar auf die Frühzeit des Islam beziehen, die folgende Geschichte der Auslegung der heiligen Schriften ignorieren und diese, d.h. den Koran und die Hadithe, wörtlich interpretieren[45], wurde bei der Analyse des Textes aus den „Smaragdgrünen Hügeln des Herzens“ rasch deutlich, dass Gülen die Geschichte der Auslegung sehr gut kennt und seine eigene, nicht dogmatische Lesart im Wissen um die Vielzahl früherer Deutungen entwickelt. In dem vorliegenden Text zeigte sich vor allem auch, dass ihm die Geschichte der islamischen Mystik vertraut ist. In deren Tradition kann Gülens Konstruktion des Lehrers gesehen werden.
Gülen kann durchaus als ein Hermeneut betrachtet werden – für ihn ist letztlich alles ein Zeichen, das auf anderes verweist. Alles in der Welt hat ihm zufolge tendenziell einen „doppelten Boden“: Nicht nur Worte müssen gedeutet werden, auch hinter den Phänomenen der Natur öffnet sich ein tiefer Raum für Interpretationen. Und nicht zuletzt „verdoppelt“ sich der Mensch: Das Innenleben des Subjekts wird für ihn zu einem großen Thema (und zum Gegenstand systematischer Reflexionen). Präzisierend ist jedoch hinzuzufügen, dass er zwar hermeneutisch denkt, jedoch das Verfahren der Hermeneutik seinerseits nicht systematisch reflektiert. Im Unterschied zu den „Denkern der Reform“[46], vor allem zu Abu Zaid, ist ihm nicht daran gelegen, eine methodologische Begründung für die Neuinterpretation der grundlegenden Texte des Islam zu bieten.[47] Zum anderen ist festzuhalten, dass die Methode der Hermeneutik nicht – zumindest nicht in den „Smaragdgrünen Hügeln des Herzens“ – für eine Deutung der heiligen Schriften, vor allem für die des Koran, genauer gesagt, nicht für dessen Deutung zum Zweck der Entwicklung einer modernen Theologie genutzt wird. Vielmehr wird sie primär dazu verwendet, Modelle für die Praxis aus den Texten zu gewinnen (denen eine eher konservative Theologie implizit ist).
Auf dem Weg über eine – selektive – Deutung der Frühgeschichte des Islam entwickelt Gülen ein Narrativ – ein Narrativ, welches letztlich die Folie darstellt, vor deren Hintergrund er die Gegenwart interpretiert. Von diesem Narrativ ist ein Element in dem ausgewählten Text thematisch, das Modell des Lehrers. Auf dieses wurde in der obigen Analyse der Fokus gelegt. Es beruht, das zeigte sich im Laufe der Analyse, auf einer Differenzierung zwischen Person und Auftrag bzw. zwischen Qualitäten, die einer Person zugeschrieben werden können, und der göttlichen Mission – um letztere übernehmen zu können, muss jemand bestimmte persönliche Qualitäten besitzen. Auf diese persönlichen Qualitäten bzw. Eigenschaften kommt es an, wer diese hat, der konnte in der Zeit vor Mohammed ein Prophet werden und kann heute ein Lehrer sein. Mohammed war beides, Lehrer und Prophet. Die Vorstellung vom „Siegel der Propheten“ besagt in der Lesart von Gülen nun, dass diese Synthese nach Mohammeds Tod nicht mehr möglich ist und es „nur noch“ Lehrer geben kann.
Der Lehrer hat als Mittlerfigur die göttliche Mission von dem Propheten „geerbt“. Vergleicht man ihn mit dem Propheten, so lässt sich festhalten, dass für beide gilt, nicht über weltliche Macht, sondern nur über die Macht des Wortes zu verfügen.[48] Wie der Prophet Gefolgschaft nicht erzwingen konnte, so vermag der Lehrer Gülen zufolge niemanden dazu zu zwingen, sich in die Rolle eines Schülers zu begeben und ihm zu folgen. Entsprechend wird, so könnte man sagen, das Lehrer-Schüler-Verhältnis als eines gedacht, das auf einem „Arbeitsbündnis“ (Oevermann) beruht, welches von beiden Beteiligten freiwillig eingegangen wird. In dem asymmetrischen Verhältnis zwischen dem Lehrer und dem Schüler ist ersterer auf der einen Seite herausgehoben: Er führt und übernimmt die Verantwortung für jemand anderen, eben für den Schüler. Er stellt dabei aber, so Gülen, seine eigenen Interessen und Bedürfnisse vollkommen zurück – und seine „Selbstverleugnung“ geht so weit, dass er nicht einmal sich selbst das Ergebnis seiner Bemühungen, die Entwicklung seines Schülers zuschreibt.
Als Voraussetzung auf Seiten des Lehrmeisters wird angesehen, dass dieser ein umfassendes Wissen besitzt. Dieses wird inhaltlich nicht nur als ein religiöses, sondern auch als weltliches Wissen bestimmt. Hinzu kommt, dass es ein Wissen sein soll, das nicht bloß erlernt und damit einfach reproduzierbar ist. Vielmehr soll es ein spirituelles sein, das subjektiv angeeignet wurde und zum Bestandteil der „ganzen Person“ des Lehrers geworden ist. Der Lehrer verkörpert dieses Wissen, verkörpert Spiritualität – und seine Glaubwürdigkeit wird als darauf beruhend gedacht. Darüber hinaus wird der Lehrer als jemand vorgestellt, der sein Gegenüber genauestens kennt und deswegen dazu in der Lage ist, zwischen diesem und der Religion – die durch eine Kluft voneinander getrennt sind – eine Brücke zu schlagen.
Auch im Hinblick auf den Schüler werden einige Dinge vorausgesetzt: Er muss bestimmte Fähigkeiten besitzen, bestimmte Werte teilen. Doch weder werden diese genauer bestimmt, noch wird spezifiziert, wie jemand zu diesen gelangt – so dass sich letztlich die Frage stellt, ob nicht ein jeder zu einem Schüler werden kann.
Das Ziel, welches durch die Rechtleitung – basierend auf einem pädagogischen Bezug, der durch die Empathie des Lehrers getragen ist – erreicht werden soll, ist zum einen ein diesseitiges, immanentes: die Entwicklung der Persönlichkeit, orientiert am Ideal des „vollkommenen Menschen“. Um ein solcher zu werden ist eine methodische Arbeit am Selbst erforderlich. Wie diese aussehen kann bzw. soll, darüber gibt der ausgewählte Text keine Auskunft – wohl aber andere Texte der Sammlung „Smaragdgrüne Hügel des Herzens“. Sie beschreiben eine Vielzahl von Techniken des Selbst, mit deren Hilfe das Individuum sein Verhältnis zu sich selbst, zu seinem Inneren, zu seiner Umwelt sowie zu Gott entwickeln und systematisch „bearbeiten“ kann. Zum anderen kann das Ziel aber auch ein religiöses, ein jenseitiges sein: die Belohnung durch Gott im Jenseits.
Was wird nun den Menschen empfohlen zu tun, was kann derjenige machen, der eines dieser Ziele erreichen möchte? Zum einen wird jedem nahege-legt, sich in die Rolle eines Schülers zu begeben und sich Wissen anzueignen. Dieses Wissen kann ein religiöses sein und seine Aneignung mündet dann gegebenenfalls in eine mit den Normen des Islam konforme traditionelle Lebensweise. Dieses Wissen kann auch ein solches sein, dass sich speziell aus dem Studium der Texte von Gülen, z.B. den in den „Smaragdgrünen Hügeln des Herzens“ versammelten ergibt. Das kann dazu führen, dass der Rezipient dieser Texte die dort beschriebenen Techniken praktisch umsetzt – und auf diese Weise zu einer methodischen Kontrolle seines Denkens, Fühlens und Handelns gelangt. Nicht zuletzt kann dieses Wissen aber auch ein weltliches sein. Wie dem auch sei: In jedem Fall wird der Gläubige dazu angehalten, zu lernen, sich zu bilden und zwar vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass die Akkumulation von Wissen letztlich zu einer Gewissheit im Glauben führen werde. Ja, angesichts von faktisch vorhandenen Zweifeln wird dem Gläubigen geraten, diese auf dem Weg über die Aneignung von Wissen zu überwinden – und diese Überwindung aller Zweifel, die vollkommene Gewissheit wird als ein Geschenk Gottes gesehen. Tatsächlich könnte hierin jedoch die Dialektik der „Hizmet-Bewegung“ bestehen: dass die Akkumulation von Wissen, vor allem von weltlichem Wissen, dass das Sich-Einlassen auf die positiven Wissenschaften genau das Gegenteil bewirkt, nämlich die Abkehr von der Religion und eine individuelle Säkularisierung des Gläubigen und dass die Einübung von mystischen Techniken in eine methodische Lebensführung mündet, die die Subjekte dazu in der Lage versetzt, in den Funktionssystemen moderner Gesellschaften erfolgreich zu agieren.
Zum anderen wird den Menschen empfohlen, einen „Dienst“ zu leisten bzw. sich für andere oder für eine Sache zu engagieren. Dieser Dienst kann – das wurde zu Beginn der Analyse deutlich – z.B. darin bestehen, dass ein Text übersetzt und damit anderen zugänglich gemacht wird. Er kann aber auch zahlreiche andere Formen annehmen. Eine der vielen Möglichkeiten wurde schließlich insofern besonders hervorgehoben, als behauptet wurde, sie stelle einen wenn auch nicht absolut sicheren, so doch den sichersten unter allen denkbaren „Heilswegen“ dar: der Dienst als Lehrer. Dieser Weg steht prinzipiell jedem offen: Jeder, der sich Gülen anschließt, jeder, der Mitglied der „Hizmet-Bewegung“ wird, kann zunächst zum Schüler und sodann im nächsten Schritt zum Lehrer werden. Während die Kette der Propheten mit Mohammed beendet ist, ist die Kette der Lehrer prinzipiell offen – jedem steht es frei, sich in diese einzureihen.
Die praktischen Konsequenzen des Deutungsmusters, welches hier partiell analysiert wurde, können also unterschiedlich sein: Zum einen können sie darin bestehen, dass die Gläubigen sich bilden. Dann stellt sich die Frage, ob bzw. wie lange sich die Spannung aufrecht erhalten lässt, einerseits an einer religiösen Überzeugung – aus der sich die Motivation für die Bildungsbemühungen speist – festzuhalten und andererseits sich auf die Eigenlogik verschiedener Wissensgebiete sowie auch auf diejenige verschiedener Praxisfelder einzulassen. Zum anderen besteht die Möglichkeit, Lehrer zu werden. Dieser Weg ist besonders attraktiv, da er es zum einen für den Einzelnen ermöglicht, am prophetischen Charisma zu partizipieren. Zum anderen gilt er als ein besonders sicherer Heilsweg. Insofern die Position des Lehrers aber religiös legitimiert wird, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass diese in einen Konflikt mit anderen „Mächten“ gerät – vor allem in einen Konflikt mit der politischen Macht.
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