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Neoliberalismus: Über ein intellektuelles Missverständnis

  • Max Trecker

    Studium der Geschichte und Volkswirtschaftslehre an der LMU München und CEU Budapest; Promotion an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien München-Regensburg mit einer Arbeit über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ost und Süd im Kalten Krieg; 20172020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Zeitgeschichte München-Berlin mit einem Forschungsprojekt zur Genese des ostdeutschen Mittelstands nach 1990; seit Mai 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GWZO Leipzig: Bearbeitung einer Teilstudie zu sozialistischen Entwicklungsmodellen für den Globalen Süden im Sonderforschungsbereich 1199 „Processes of Spatialization under the Global Condition“.

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Published/Copyright: April 15, 2023

Abstract

The term neoliberalism is a faithful companion of current public debates. It often serves as a proxy for what is allegedly wrong with society. The term is used to criticize a perceived commodification of spheres of human existence that used to be shielded from a purely economic logic. Recently, the term neoliberalism has become the object of historical research. Its roots have been traced back as far as 1947 or 1918. I argue in this paper that historians have taken a methodologically questionable approach, by departing from the blurry concept of neoliberalism as it is perceived today and trying to trace it back in time as far as possible. Such an approach leads to severe contradictions as economists labelled ex-post as neoliberals were often opposed to neoliberalism as it is currently defined. It is methodologically more sound and analytically more rewarding to start the conception of the term with the economists who self-identified as neoliberals. This approach leads to a more coherent concept of neoliberalism that is better suited for further research and provides a clearer understanding of the history of economic thought in the interwar period and the first postwar years.

JEL Classification: B 250; B 130

1 Hinführung

Der Begriff Neoliberalismus ist bereits seit mehreren Jahrzehnten ein treuer Begleiter des politischen Diskurses. Neoliberalismus nimmt in diesen Debatten in der Regel eine pejorative Bedeutung an. Der Begriff wird häufig mit denjenigen Phänomenen identifiziert, an denen vor allem die westlichen Gesellschaften in der Gegenwart aus Sicht der Kritiker*innen leiden. Er wird im öffentlichen Diskurs mehrheitlich von Personen verwendet, deren Selbstidentifikation mit der politischen Linken erfolgt, um den gesellschaftlichen Status quo zu kritisieren. [1] Getrennt wird der Neoliberalismus hierbei von den positiv konnotierten trente glorieuses der Nachkriegszeit. [2] Letztere seien geprägt gewesen von einem historischen Kompromiss, der den demokratisch legitimierten Wohlfahrtsstaat und gezähmten Kapitalismus in sich vereinigte. Gleichgesetzt wird diese Periode vor der neoliberalen Wende der 1970er Jahre mit dem Schlagwort des Keynesianismus. [3]

Symbolisiert wird der Siegeszug des Neoliberalismus durch die kurz aufeinander folgenden Wahlen von Margaret Thatcher zur Premierministerin Großbritanniens und Ronald Reagans zum Präsidenten der USA. Als inhaltliche Merkmale finden zuvorderst Deregulierung, radikaler Individualismus, Marktfundamentalismus sowie die Kommodifizierung stets größer werdender Lebensbereiche Erwähnung. [4] Als intellektuelle Gallionsfiguren der neoliberalen Wende gelten Milton Friedman, Friedrich Hayek und Ludwig von Mises, aber auch Ökonomen wie James Buchanan. [5] Von diesen vier haben bis auf Ludwig von Mises alle in den 1970er und 1980er Jahren den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten, was als Symbol für den Durchbruch des Neoliberalismus gelten kann. Als Begriff zur Selbstidentifikation spielt Neoliberalismus trotz seines vermeintlichen Triumphes in der Gegenwart keine Rolle. [6]

Die politische Debatte um dessen vermeintlichen Siegeszug hat seit den 1980er Jahren zunehmend Forschende inspiriert, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Die Geschichtswissenschaft ist erst spät auf diesen Zug aufgesprungen. Bis weit in die 2000er Jahre hinein war die Forschung zum Neoliberalismus primär soziologisch inspiriert. Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 ihren Ursprung in den USA nahm, hat der Forschung neuen Schub verliehen, indem sie die Schwächen des gegenwärtigen Systems offengelegt hat. Die Tatsache, dass die Krise von 2007 zu keiner wahrnehmbaren Erneuerung des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells des Westens geführt hat, hat Autoren wie Colin Crouch dazu veranlasst, vom „befremdlichen Überleben des Neoliberalismus“ zu sprechen. [7]

Mehrere Historiker*innen haben ausgehend von diesen soziologisch inspirierten Forschungsansätzen nach 2007 versucht, eine Genealogie des Neoliberalismus nachzuzeichnen. Hierbei haben sich vor allem zwei Deutungsansätze herauskristallisiert: Beispielhaft seien hierfür die Arbeiten von Dieter Plehwe und Quinn Slobodian erwähnt. Während ersterer sich in Kollaboration mit anderen Historiker*innen auf die 1947 gegründete Mont Pèlerin Society konzentriert hat, reicht Slobodians Ansatz weiter in die Vergangenheit zurück. [8] Er erkennt die Ursprünge des Neoliberalismus im Untergang des Habsburgerreichs 1918. Die gemeinsame Prämisse dieser Arbeiten besteht darin, dass der für die Gesellschaft der Gegenwart diagnostizierte Befund eindeutig auf einen Ursprung in der Vergangenheit in Form eines international agierenden neoliberalen Netzwerks zurückgeführt werden kann.

Die Versuche, den Neoliberalismus-Begriff für die historische Analyse fruchtbar zu machen und eine Synthese mit dem Neoliberalismus-Verständnis der Gegenwart zu bilden, haben mehr Probleme geschaffen als gelöst. Der Begriff erscheint hierdurch noch diffuser als er es zur Jahrtausendwende bereits war. Die Frage lautet daher: Wie kann der Begriff operationalisierbar gemacht und sinnvoll für die historische Analyse verwandt werden? Die These lautet, dass die historische Forschung der letzten gut 15 Jahre mehrheitlich von einer falschen Prämisse ausgegangen ist: Indem sie ex- und implizit vom Neoliberalismus-Verständnis der Gegenwart ausgeht, übernimmt sie definitorische Vorannahmen, die sich nur schwer mit dem historischen Phänomen des Neoliberalismus vereinbaren lassen, häufig sogar in Widerspruch hierzu stehen. Um diese Widersprüche übergehen zu können, wird Neoliberalismus als ein „moving target“ definiert, das „sich laufend verändert, anpasst und gerade deshalb so wirkmächtig ist“. [9] Ein solches Verständnis von einer intellektuellen Bewegung als immerwährendem Chamäleon kann nicht befriedigen, sondern muss produktiv weiterentwickelt werden. Im Sinne Kosellecks muss die Geschichte eines Begriffs für eine gewinnbringende historische Analyse im Spannungsverhältnis zu dessen sozialem Entstehungskontext betrachtet werden. [10]

Es handelt sich beim Neoliberalismus um eine Bewegung zur Erneuerung des Liberalismus. Anders als in Teilen der neueren historischen Forschung formuliert, ging es hierbei nicht um eine strikte Trennung der Sphäre des Politischen von derjenigen des Ökonomischen. Eine solche starke Annahme steht im Widerspruch zu den Schriften einer Vielzahl von Neoliberalen, die sich selbst als solche identifiziert haben. Vielmehr bemühten sich die Neoliberalen um eine Neuaushandlung des Verhältnisses zwischen Politik und Ökonomie. Diese Feststellung allein ist zu allgemein, um als hinreichendes Definitionsmerkmal gelten zu können, da bereits die Akteure der „Schottischen Aufklärung“ sich um eine solche Neuaushandlung bemüht hatten. [11] Es ist daher notwendig, den historischen Entstehungskontext des Neoliberalismus zu berücksichtigen und zu definieren, auf welches Krisenphänomen die Neoliberalen eine Antwort geben wollten, und sich genötigt sahen, Liberalismus neu zu denken. Hierauf lassen sich Ansätze in der neuen historischen Forschung zum Thema finden.

Neoliberalismus lässt sich als ein intellektuelles Netzwerk verstehen, das sich als Reaktion auf den Zusammenbruch der globalen Wirtschaftsordnung im Zuge des Ersten Weltkriegs zu formieren begann. [12] Die Weltwirtschaftskrise von 1929 wirkte zusätzlich als Katalysator für die neoliberalen Bemühungen einer Erneuerung des Liberalismus. Die Ideen für eine solche Erneuerung waren vielfältig und offenbaren ein in Teilen inkommensurables Verständnis von Liberalismus, was bereits an dem Verlegenheitspräfix neo deutlich wird. Abstrahierend lässt sich sagen, dass für den Neoliberalismus als reformliberale Kraft zwei politische Ziele kennzeichnend waren: Erstens, ein erneuerter Liberalismus sollte zugleich die Rückkehr sowohl zum Liberalismus des 19. Jahrhunderts als auch zum Regime der Zwischenkriegszeit vermeiden, da in beiden die kulminierten Probleme der 1930er Jahre zu einem bedeutenden Teil begründet lägen. Zweitens, Die Ideale des Liberalismus seien unvereinbar mit einer autokratischen, kollektivistischen Gesellschaft. Das Vordringen solcher Regime – verkörpert durch Mussolinis Italien, Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion – müsse von Liberalen bekämpft werden. Die politischen Auswirkungen des Neoliberalismus sind folglich primär nicht erst in den 1980er Jahren zu suchen, sondern in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Neoliberale haben nach 1945 entscheidend daran mitgewirkt, die zwei in der Zwischenkriegszeit formulierten Hauptziele zu verwirklichen.

Der historische Kompromiss der Nachkriegszeit trägt somit explizit neoliberale Züge. Für die Zeit ab den späten 1950er Jahren ergibt es wenig Sinn, noch vom Neoliberalismus als agens, als aktiver historischer Kraft zu sprechen, da die Ziele des Neoliberalismus zum einen in den Grundzügen bereits verwirklicht waren und zum anderen zentrale Akteure der 1920er und 1930er Jahre in den 1950er Jahren starben oder sich anderen Aktivitäten zuwandten. Dies ist die Kehrseite der Erkenntnisse der neueren historischen Forschung, die die Anfänge des Neoliberalismus zurecht in den Trümmern der Belle Époque sucht. Mit Auflösung und Umbau der historischen Formation der Zwischenkriegszeit, auf die die Neoliberalen eine Antwort geben wollten, endet auch die Geschichte des Neoliberalismus als konkret greifbarer intellektueller Bewegung. Umgekehrt erscheint es höchst zweifelhaft, von zentralen Akteuren der 1980er Jahre wie Milton Friedman als Neoliberale zu sprechen, die den neoliberalen Kompromiss der Nachkriegszeit als zu wenig neoliberal betrachtet und ein Mehr an reiner Lehre in der praktischen Politik gefordert hätten. Akteure wie Friedman haben in ihren Werken ex- und implizit fundamentale Kritik am intellektuellen Fundament des Neoliberalismus geübt. Das Plädoyer für eine Entkoppelung der historischen von der soziologisch inspirierten Forschung zum Neoliberalismus muss keine dauerhafte Abkehr der Zeitgeschichte von den Diskursen anderer Disziplinen nach sich ziehen. Im Gegenteil: Ein klareres historisches Verständnis des Neoliberalismus kann produktiv auf die sozialwissenschaftliche Analyse der Gegenwart rückwirken. Dies wird exemplarisch am Ende des Textes verdeutlicht.

Der vorliegende Aufsatz ist in folgende Abschnitte gegliedert: In einem ersten Schritt werden die Konturen der Begriffsverwendung in der soziologischen und historischen Forschung anhand neuerer Publikationen aufgezeigt. Hierzu wird auf der einen Seite Andreas Reckwitz Werk „Das Ende der Illusionen“ analysiert, auf der anderen Seite „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ von Philipp Ther sowie „Globalists“ von Quinn Slobodian. Die Auswahl der Werke erfolgt aufgrund ihrer Repräsentativität für neue Forschungstrends. Sie liegt nicht in irgendwelchen signifikanten qualitativen Mängeln begründet, sondern im Gegenteil darin, dass es sich um äußerst wertvolle Beiträge zum intellektuellen Diskurs handelt. Hieran schließt sich eine Aufzählung und Analyse der inhaltlichen Widersprüche zu einem eng gefassten Neoliberalismus-Begriff an, der sich an einem intellektuellen Netzwerk orientiert, dessen Mitglieder den Ausdruck neoliberal zur Selbstidentifikation und nicht nur als Fremdzuschreibung benutzt haben. Darauf folgt die Diskussion der praktischen Bedeutung neoliberaler Netzwerke für die unmittelbare Nachkriegszeit. Seinen Abschluss findet der vorliegende Aufsatz in einer Analyse der sogenannten neoliberalen Wende der 1970er Jahre und der Vorstellung alternativer Interpretationsangebote für diejenigen Phänomene, die gegenwärtig in Politik und Forschung mehrheitlich mit dem Begriff Neoliberalismus assoziiert werden.

2 Der soziologische und der historische Neoliberalismus-Begriff

In „Das Ende der Illusionen“ diagnostiziert Andreas Reckwitz eine allgemeine Enttäuschung über den begrenzten Realitätsgehalt des liberalen Fortschrittsversprechens, das sich bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung in sein Gegenteil verkehrt habe, so dass man dem öffentlichen Diskurs manisch-depressive Züge attestieren könne. [13] Als Vertreter seines Fachs unternimmt Reckwitz den Versuch einer sowohl undogmatischen, differenzierten als auch nüchternen Analyse der Gegenwart. [14] Er grenzt die „industrielle Moderne“ von 1945-1975 stark ab von der „spätmodernen Gesellschaft“. Ein konstitutives Merkmal letzterer sei ein ausgeprägter „Singularismus“ oder auch radikaler Individualismus, der von einem neuen Liberalismus begleitet werde, der auf „Wettbewerb und Differenz, auf eine Dynamisierung und globale Entgrenzung des Sozialen, Ökonomischen und Kulturellen“ setze. [15]

Neoliberalismus bildet für Reckwitz einen wesentlichen ideologischen Baustein der „neuen Mittelschicht“ aus urbanen Akademiker*innen, in denen er die treibende Kraft hinter dem sozioökonomischen Wandel der vergangenen Jahrzehnte sieht. [16] Der Neoliberalismus habe aus „nationalen keynesianischen Steuerungs- und Wohlfahrtsstaaten“ in den 1980er Jahren „neoliberale Wettbewerbsstaaten“ gemacht. Das Ziel staatlicher Politik sei nicht mehr die am Allgemeinwohl orientierte Regulierung von Wirtschaft und Sozialem im nationalen Rahmen, vielmehr stünden die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Subjekte der Wirtschaft im globalen Kontext im Mittelpunkt. Der ausgeprägte „Finanzmarktkapitalismus“ sei eine Begleiterscheinung dieses Paradigmenwechsels. [17]

Reckwitz spricht vom sozial-korporatistischen Paradigma der Nachkriegszeit, das in den 1970er Jahren in die Krise geraten und ab 1980 sukzessive von einem „apertistischen Liberalismus“ verdrängt worden sei, dessen Ausprägung von „neoliberalen Reagonomics“ über New Labour bis zur rot-grünen Bundesregierung der Jahrtausendwende reichte. [18] Das komplementäre Gegenstück zum Neoliberalismus ist laut Reckwitz der „Linksliberalismus“. [19] Es handelt sich hierbei jedoch lediglich um eine etwas anders geartete Ausprägung desselben „Dynamisierungsparadigma“ des „apertistischen Liberalismus“. [20] Die Politik des Neoliberalismus habe entscheidend dazu beigetragen, dort marktförmige Strukturen einzuführen und zu stärken, wo solche in den drei Nachkriegsjahrzehnten nicht oder kaum existiert hätten, wie in den Bereichen Bildung, Kultur, Verkehrswesen und Energieversorgung. Darüber hinaus sei das Prinzip des „Shareholder Value“ auch ein Ausdruck neoliberalen Denkens. [21] Jenes Paradigma, das sich auf neoliberale Politik stützte, sei seit 2010 selbst in die Krise geraten. Laut Reckwitz könne es sich bei dem wünschenswerten Paradigma der Zukunft nur um einen „regulativen, einbettenden Liberalismus“ handeln. [22]

Philipp Ther benennt in „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ als frühe Protagonisten des Neoliberalismus neben Margaret Thatcher und Ronald Reagan, Milton Friedman als wissenschaftlichen Wegbereiter dieser Ideologie. [23] Aus seiner Sicht ist die „Hegemonie des Neoliberalismus“ mit seiner „Triade“ aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung eine wesentliche Folge des Scheiterns des sogenannten ehemaligen Ostblocks und des Wegfalls der Systemkonkurrenz. [24] Ther erwähnt in Anlehnung an vorangegangene historische Forschungsarbeiten die in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründete Mont Pèlerin Society (MPS) als intellektuelle Keimzelle des Neoliberalismus. Die Ursprünge neoliberaler Politik seien nur aus dem unmittelbaren historischen Kontext der Nachkriegszeit heraus zu verstehen: Neoliberale hätten sich gegen eine vom New Deal und damit von staatlichem Interventionismus geprägte westliche Welt gewandt mit einem primär auf die Wirtschaft bezogenen, äußerst staats-skeptischen Freiheitsbegriff. Den intellektuellen Nukleus des Neoliberalismus identifiziert Ther in den „Lehren Hayeks und seiner Mitstreiter“, zu denen er explizit den amerikanischen Publizisten Walter Lippmann zählt. Die Tatsache, dass ihre Ideen erst Jahrzehnte später wirkmächtig geworden seien, erkläre sich dadurch, dass die erste Generation von Neoliberalen sich mit ihren Ideen dezidiert gegen das Paradigma der Nachkriegszeit gestellt habe. [25] Die Thesen Philipp Thers verhalten sich damit höchst komplementär zu den Ideen von Andreas Reckwitz und runden dessen soziologische Forschung historisch ab.

Quinn Slobodian ist mit seinem 2018 veröffentlichten Werk „Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism“ noch einen Schritt weiter gegangen und führt die Anfänge des Neoliberalismus auf das Ende des Habsburgerreiches zurück. Die Ursprünge des Neoliberalismus ließen sich in einem intellektuellen Netzwerk in Wien finden, dessen Schwerpunkt sich in der Zwischenkriegszeit nach Genf verlagert habe. Die Akteure des Neoliberalismus hätten primär das Ziel verfolgt, die Welt des „dominium“ von der des „imperium“ zu trennen, womit der Autor die Trennung des Ökonomischen vom Politischen meint. Mit Hilfe des internationalen Rechts und eines ausgeklügelten Netzwerks an (internationalen) Institutionen sollte die Handlungsmacht des Nationalstaats eingehegt werden. Nationalstaaten sollten weiterhin über kulturelle Angelegenheiten entscheiden können, nicht jedoch über ökonomische. [26]

Neoliberale seien daher keineswegs Gegner staatlicher Strukturen per se, sondern vor allem des Nationalstaats, den sie mithilfe eines „militant globalism“ zu zähmen gedächten. [27] Ausdruck dieses Denkens sei unter anderem die Gründung der nicht zufällig in Genf beheimateten Welthandelsorganisation. Die Jurisprudenz spiele daher eine ebenso gewichtige Rolle im Denken der Neoliberalen wie die Ökonomie. Ohne den Schutz vor demokratischer Selbstbestimmung könne der Kapitalismus, so beschreibt Slobodian die Ideologie des Neoliberalismus, nicht überleben. Jenes Projekt, das auf den Ruinen des Habsburgerreiches begonnen habe, setzte sich bis heute ungebrochen fort. [28] Als Alternativbegriff für Neoliberalismus verwendet Slobodian den Ausdruck „Ordoglobalism“. [29] Damit impliziert er eine Verbindung zwischen der für ihn zentralen „Geneva School“ als Herzkammer des Neoliberalismus und der „Freiburger Schule“ um Walter Eucken, Leonhard Miksch und Franz Böhm.

3 Methodologische Probleme und inhaltliche Widersprüche

Die Debatte um den Neoliberalismus offenbart methodologische Probleme auf dem Feld der historischen Begriffsbildung. Zur Selbstidentifikation ist der Begriff Neoliberalismus primär in den Jahren unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg benutzt worden. [30] Als Begriff zur Fremdzuschreibung erlebt er seit den 1980er Jahren eine exponentiell steigende Verwendung. [31] Diejenigen, die von anderen mit dem Wort neoliberal betitelt werden, lehnen diesen Begriff zur Selbstidentifikation ab. Die Geschichtswissenschaft hat viel Energie verwandt, diese Fremdzuschreibung möglichst weit in der Vergangenheit zu verorten. Das Präfix neo- selbst verfügt hierbei über keine zwingende Semantik. Einem solchen Kompositum eine über hundertjährige Wirkmacht zuzuschreiben, ohne den Entstehungskontext des Begriffs zu berücksichtigen, muss zu methodologischen Bedenken führen und scheint in der Historiographie einzigartig. Es drängt sich der Vergleich zum Neoabsolutismus auf. Dieser findet aus Gründen der begrifflichen und damit auch analytischen Klarheit Anwendung für einen eng begrenzten historischen Kontext – in diesem Fall die Jahre unmittelbar nach der Märzrevolution 1848/49. Analog hierzu ist es angebracht, bei der Begriffsbildung für das historische Phänomen Neoliberalismus bei dessen quellennah identifizierbarem Entstehungskontext zu beginnen. In einem zweiten Schritt muss nach den Grenzen des Neoliberalismus als historischem agens gefragt werden. Hierfür kann nur ein Rahmen und keine tagesgenaue Chronologie definiert werden; es bleibt jedoch zweifelhaft, ob sich am Ende einer solchen Analyse ein über hundertjähriger Referenzrahmen ergibt.

Als Wortneuschöpfung ist der Begriff Neoliberalismus keinesfalls originell. Seine Verwendung im Kontext einer Bewegung zur Erneuerung des Liberalismus ist eng geknüpft an das „Colloque Walter Lippmann“, das im August 1938 in Paris stattfand. [32] Bereits in dem vom französischen Philosophen Louis Rougier verfassten Einladungstext kam der Zweck des Treffens deutlich zum Ausdruck: die Erörterung, unter welchen Bedingungen eine Rückkehr zu einer liberalen Ordnung möglich sei, die sich zugleich vom „Laisser-faire-Liberalismus“ unterscheide. [33] Im Mittelpunkt des Kolloquiums stand das 1937 von Walter Lippman veröffentlichte Buch „The Good Society“, dessen Thesen zusammen mit den Reformideen anderer Teilnehmer diskutiert werden sollten. Unter den Teilnehmern befanden sich neben Ludwig Mises und Friedrich Hayek auch Personen wie Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke. Die beiden letztgenannten sollten entscheidenden Anteil an der Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik haben. Die Mehrheit der Teilnehmenden stammte jedoch aus Frankreich. Das Präfix neo- zur Bezeichnung neuer sozialer und politischer Bewegungen erfreute sich besonders in Frankreich der Zwischenkriegszeit einer besonderen Beliebtheit, wie an zeitgenössischen Wortneuschöpfungen wie „Neosozialismus“, „Neosyndikalismus“ sowie „Neo-Saint-Simonisnus“ deutlich wird. [34]

Aufgrund der zentralen Stellung Walter Lippmanns und seines Buchs „The Good Society“ auf dem Kolloquium lohnt sich ein Blick auf die Thesen dieses für die Formation des Neoliberalismus zentralen Werks. Bereits in der Einleitung zeichnet Lippmann eine scharfe Trennlinie zwischen dem Liberalismus der Schottischen Aufklärung von Adam Smith und David Hume sowie dem britischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. In den letzten Lebensjahren des 1903 verstorbenen Herbert Spencer sei der Liberalismus zu einer „monstrous negation“ verkommen „raised up as a barrier against every generous instinct of mankind“. [35] Auch wenn der „Laisser-faire-Liberalismus“ des 19. Jahrhunderts seine unbestreitbaren Errungenschaften habe, so habe er sich selbst überlebt, da er seit seinem Sieg über Zunftwesen und Merkantilismus keine progressive Kraft mehr sei, sondern lediglich eine Rechtfertigung für einen unhaltbaren Status quo. [36] Im Verständnis Lippmanns habe Smith mit seinen Ideen mehr gemeint als lediglich das gleiche Recht von Reich und Arm, auf dem Markt ein günstiges Geschäft abschließen zu können. Den Gedanken von liberalen Vordenkern wie Mill und Spencer, das gesellschaftliche Leben ließe sich allein durch das juristisch abgesicherte Prinzip des „Laisser-faire“ regeln, bezeichnet Lippmann als „so obvious an error that it seems grotesque“. [37]

Lippmann sieht jedoch auch progressive Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre kritisch und erkennt in ihnen Wegbereiter einer potentiell autoritären, kollektivistischen Gesellschaft. Hier zeigt Lippmann Vorbehalte gegenüber einer demokratischen Ordnung, die nicht durch Gesetze eingehegt und reguliert werde. Es sei eine Fiktion, ein momentanes Stimmungsbild der Gesellschaft für die ewigwährende Meinung der ganzen Nation zu halten. Wer versuche, gesellschaftliche Probleme primär über eine Ausweitung der Befugnisse der Exekutive zu regeln – egal ob per parlamentarischem Mehrheitsbeschluss legitimiert oder nicht, führe das Land auf den Pfad einer autoritären kollektivistischen Gesellschaft. [38] Der größte Lehrmeister des Kollektivismus sei nicht Karl Marx gewesen, sondern diejenigen, die ihre Partikularinteressen über Privilegien der Exekutive versucht hätten durchzusetzen. [39] Die Kritik an „Partikularinteressen“ und der Aushebelung von Marktmechanismen durch die Exekutive war hoch anschlussfähig an die Debatten der neoliberalen Ökonomen aus Deutschland. [40]

Die Leitsätze Lippmanns könnten im Sinne Slobodians interpretiert werden: „dominium“ und „imperium“ müssten durch starke antidemokratische juristische Barrieren voneinander getrennt werden. Eine solche Interpretation würde jedoch am Kern der Lippmann‘schen Gedanken vorbeigehen. Lippmann leugnet die gesellschaftlichen Probleme der 1930er Jahre nicht, gerade dies wirft er selbst den klassischen Liberalen des 19. Jahrhunderts vor. Es kommt ihm vielmehr auf die Methode an. Die Probleme einer modernen Industriegesellschaft können nicht gelöst werden, indem die Politik versuche, die Gesetze der Marktwirtschaft und der Industriellen Revolution zu ignorieren. Dies widerspricht jedoch, so Lippmann, nicht einer gesetzlichen Regulierung von Märkten im Interesse eines besseren sozialen Ergebnisses, ohne den Marktmechanismus außer Kraft zu setzen. [41] So müsse zwar die Mobilität von Kapital gefördert werden, nicht jedoch von Menschen. Den Menschen ein ewiges Nomadendasein aufzuzwingen, könne kein valides gesellschaftliches Ziel sein. Dies sei auch keineswegs nötig, da gerade der technische Fortschritt es ermögliche, die Segnungen der Arbeitsteilung in vormals abgelegene Gebiete der Welt zu bringen. [42]

Die Kapitalgesellschaft sei kein Naturphänomen, sondern ein menschengemachtes Konstrukt, das von gesetzlich abgesicherten Privilegien profitiere. Speziell aus diesem Grund könne und müsse die Gesellschaft diesen Privilegien Pflichten gegenüberstellen. [43] Die Bekämpfung von Monopolen, Kartellen und ökonomischen Partikularinteressen sorge für eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung. [44] Lippmann plädiert für eine progressive Besteuerung, um hiervon öffentliche Dienstleistungen, Investitionen und Unterstützung für „Modernisierungsverlierer“ zu finanzieren. Wichtig sei hierbei, dass diese Hilfen nicht dafür genutzt würden, um Strukturen zu konservieren, die vom technischen Fortschritt und zunehmender Arbeitsteilung überholt seien. Ziel der Umverteilung von Einkommen müsse es sein, Dienstleistungen und Hilfen bereitzustellen, die Armut nicht verwalten, sondern deren Ursachen bekämpfen. [45] Der Unterschied zwischen seinem reformliberalen Konzept und einem kollektivistischen System besteht in ökonomischer Hinsicht für Lippmann darin, dass er die Wirtschaft über eine „Marktpolizei“ steuern möchte, die die positiven Auswirkungen des Marktmechanismus und der Arbeitsteilung verstärkt und die negativen Folgen bekämpft. Der Kollektivismus, so Lippmann, wolle den Marktmechanismus zerstören. [46] Die Demokratie eigne sich am besten für die Umsetzung eines liberalen Reformprogramms. Die Vertreter einer solchen Demokratie dürften sich jedoch nicht als per Mehrheitswahlrecht legitimierte Ersatzkönige verstehen. Demokratie, so Lippmann, „administers justice among men who conduct their own affairs”. [47] Während autoritäre, kollektivistische Regime über Dekrete der Exekutive regierten, könnten Demokratien das öffentliche Leben über die Formulierung gegenseitiger Rechte und Pflichten der Subjekte der Gesellschaft regeln. [48]

Bei Lippmann spielt, wie in der historischen Neoliberalismusforschung angenommen, die Jurisprudenz eine zentrale Rolle. Jedoch geht es bei Lippmann explizit nicht darum, „imperium“ und „dominium“ durch ausgeklügelte juristische Schranken voneinander zu trennen; Lippmann kommt es auf die Methode der Lenkung wirtschaftlicher Prozesse durch die Politik an. Er gesteht vor allem der Legislative und Judikative bedeutende sozioökonomische Kompetenzen zu, sofern die Eingriffe den Marktmechanismus als zentrales Lenkungsinstrument gesellschaftlicher Prozesse nicht außer Kraft setzen. Der Staat dürfe zu diesem Zweck aktiv in bestehende Einkommens- und Vermögensverhältnisse eingreifen. Dies verdeutlicht, dass der Neoliberalismus eines Walter Lippmanns nicht vereinbar ist mit einem Reckwitz‘schen Dynamisierungsparadigma oder den Neoliberalismusdefinitionen der neueren historischen Forschung. Vielmehr handelt es sich um einen regulativen, einbettenden Liberalismus. Walter Lippmann kann schwerlich als Ausnahme bezeichnet werden.

Bei Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zeigt sich ein ähnliches Bild. In der Forschung wird häufig Alexander Rüstow als Ideengeber für den Begriff Neoliberalismus auf dem Colloque Walter Lippmann genannt. [49] Unabhängig davon bieten sich in seinem Werk und dem Wilhelm Röpkes viele Anknüpfungspunkte an die Ideen Walter Lippmanns. Beide sahen im Liberalismus des 19. Jahrhunderts vielmehr eine Ursache für die Probleme ihrer Zeit als Inspiration für die Zukunft. Eine der wichtigsten intellektuellen Quellen ihrer Ansichten fanden sie in dem Soziologen Franz Oppenheimer. [50] Oppenheimer versuchte in seinem Werk eine Synthese aus Sozialismus und Liberalismus und stützte sich hierbei auf Denker wie Saint Simon, Proudhon und Comte. [51] In seinen Schriften über den „Dritten Weg“ vertrat er die Meinung, dass es neben den Wahlmöglichkeiten Kommunismus und Kapitalismus – und damit zwischen Gleichheit oder Freiheit – noch eine dritte Möglichkeit gebe. [52] Im Gegensatz zur Behauptung der Anhänger des Kapitalismus handle es sich bei dieser Gesellschaftsordnung keineswegs um eine der „freien Konkurrenz“, sondern um „gefesselte Konkurrenz“, deren wesentlicher Zweck in der Konservierung des Status quo einer unrechtmäßigen Vermögensverteilung bestehe; diese gründe sich primär auf Gewalt, nicht auf Leistung. Daher forderte er eine progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen sowie gleichzeitig eine Beseitigung von Markthemmnissen, die lediglich der Aufrechterhaltung von Privilegien einzelner Bevölkerungsgruppen dienen. Ziel müsse es sein, den Marktmechanismus zu stärken und möglichst gleiche Ausgangsbedingungen für alle herzustellen. [53] Oppenheimer war zugleich Doktorvater Ludwig Erhards und laut Erhards Aussage zeitlebens auch wichtigste Inspirationsquelle für sein Handeln. [54] Der Neoliberalismus ist zwar im Kern dezidiert antimarxistisch; wie das Beispiel Franz Oppenheimers zeigt, gibt es im neoliberalen Denken gleichzeitig starke sozialistische Einflüsse.

Rüstow und Röpke hatten bereits vor ihrer erzwungenen Migration aus Deutschland 1933 in engem Kontakt mit dem Nukleus der später so genannten Freiburger Schule um Walter Eucken gestanden. Hierbei war es ihnen Anfang der 1930er Jahre um die Suche nach Wegen zur Erneuerung des Liberalismus gegangen. [55] Die französischen Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann hingegen agierten aus einem anderen historischen Kontext heraus, wie der Klärung ihres Verhältnisses zur „Volksfrontregierung“. [56] Dies verdeutlicht, dass sich die meisten Neoliberalen weder ausschließlich noch primär als „Globalisten“ sahen, als globale Akteure, die die Ebene des Nationalstaats entweder nicht beachteten oder nur als etwas betrachteten, das gebändigt werden müsse. [57] Der intellektuelle Hintergrund und das elaborierte Personennetzwerk, in dem sich die Neoliberalen bewegten, zeigt die Schwierigkeit, von einer bestimmten, exakt lokalisierbaren, mehrere Jahrzehnte währenden Schule des Neoliberalismus zu sprechen. Das Kolloquium Walter Lippmann endete mit einem gemeinsamen Thesenpapier, das sich eng an den Thesen von „The Good Society“ orientierte und von der Mehrheit der Teilnehmer unterstützt wurde. [58] Wichtig bleibt festzuhalten, dass Neoliberalismus als in den Quellen erfassbare Bewegung zur Erneuerung des Liberalismus eng an das Colloque Walter Lippmann geknüpft ist.

4 Die Bedeutung des Neoliberalismus in der Nachkriegszeit

Praktische Bedeutung erlangte der Neoliberalismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Hierfür ist es entscheidend, sich den historischen Kontext am Ende des Zweiten Weltkriegs vor Augen zu führen: Mit dem sogenannten Dritten Reich war ein politisches und ökonomisches Gebilde zusammengebrochen, das von vielen (Neo-)Liberalen als Inbegriff des autoritären Kollektivismus betrachtet wurde. Die Niederlage dieses Regimes war nur unter Beteiligung der Roten Armee möglich gewesen, was der Ideologie des Staatssozialismus zu beträchtlicher Popularität im Nachkriegseuropa verholfen hatte. Aus Sicht der Neoliberalen konnte es sich im Sinne der Bewegung, die sich auf dem Colloque Walter Lippmann formiert hatte, beim Eintausch des nationalsozialistischen durch das sowjetischen Gesellschaftsmodell nur um die Wahl zwischen Scylla und Charybdis handeln. Die Neoliberalen hatten anfänglich einen schweren Stand im Nachkriegseuropa. Bei der überraschend deutlichen und schnellen Umsetzung eines bedeutenden Teils ihrer Ideen halfen ihnen nicht nur der heraufziehende Kalte Krieg und die Unterstützung durch Militär und Politik der USA, sondern vor allem die Reaktivierung ihres weit verzweigten intellektuellen Netzwerks. Aber auch hier operierten Neoliberale nicht primär auf globaler Ebene, sondern auf der des Nationalstaats.

Auf jenes Territorium bezogen, das später zur BRD wurde, bedeutet dies Folgendes: In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierten sowohl in den von Deutschen besetzten Verwaltungspositionen als auch in der Publizistik diejenigen Stimmen, die für eine Plan- oder eine Gemeinwirtschaft eintraten und somit für eine starke Wirtschaftslenkung durch den exekutiven Arm des Zentralstaats und eine weitgehende Außerkraftsetzung des Marktmechanismus. [59] Diesen Ansichten traten sowohl publizistisch als auch in der Politikberatung die Freiburger Schule und vor allem Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke entgegen. Letztere hatten am Colloque Walter Lippmann teilgenommen und bereits vor Kriegsausbruch in Austausch mit dem Kreis um Walter Eucken gestanden. In seinem 1949 veröffentlichten Buch „Zwischen Kapitalismus und Kommunismus“ blieb Rüstow sowohl den Ideen Oppenheimers als auch Lippmanns treu. Neben einer klaren Polemik gegen Planwirtschaft und „Manchester-Kapitalismus“ entwarf er die Agenda für einen Liberalismus, der sich an der Schottischen Aufklärung, also primär an Smith und Hume orientieren solle. Den sozialistischen Kritikern an der Wirtschaftsordnung und Vermögensverteilung der Gegenwart gab er grundsätzlich recht. [60] Die Erneuerung des Liberalismus müsse daher die Kritik der Sozialisten aufnehmen, ohne ihre – aus seiner Sicht falschen – Lösungsansätze zu übernehmen. [61] Nur die Marktwirtschaft der „vollständigen Konkurrenz“ könne dies leisten. Diese müsse abgesichert werden durch einen „liberalen Interventionsstaat“, der nicht als „Hemmungsintervention“ quer zu den Marktgesetzen in das Wirtschaftsgeschehen eingreife, sondern „als konforme Anpassungsintervention in der Wirkungsrichtung der Marktgesetze“. [62]

Hieraus leitete er unter anderem folgende politische Forderungen ab: Die Schaffung einer staatlichen Marktpolizei zur Sicherung eines fairen Wettbewerbs, die grundsätzliche Umstellung der Agrarpolitik auf Förderung eines hochproduktiven Kleinbauerntums, die Abschaffung der GmbH und Reformierung der AG zur Durchsetzung der „wirtschaftlichen Vollverantwortlichkeit“, die progressive Besteuerung überoptimaler Unternehmensgrößen, die Überarbeitung des Patent- und Steuerrechts, verpflichtende Sozialversicherungen und Freihandel. [63] Die hieran erkennbare Skepsis gegenüber Großunternehmen, vor allem gegenüber Kapitalgesellschaften, stellt eine Lehre aus der Weimarer Republik dar. Bereits Ende der 1920er Jahre gelangten spätere Neoliberale wie Rüstow und Röpke – aber auch Eucken – zu der Einsicht, dass Wirtschaftsakteure mit besonders großer Marktmacht gewillt und fähig seien, diese in politische Macht zu wandeln, was sowohl den Funktionsmechanismus der Marktwirtschaft als auch die Gesellschaft an sich destabilisieren müsse. [64] Dies erklärt die Präferenz für einen starken Staat und leistungsfähige mittelständische Strukturen. Interessant ist Rüstows pragmatisches Verhältnis zum Thema Sozialisierungen, das für viele Neoliberale typisch ist: Er fordert die Sozialisierung aller Wirtschaftszweige, die aus natürlichen oder technischen Gründen zu einem Monopol tendieren, wie der Schienenverkehr oder „Public Utilities“. Darüber hinaus spricht er sich – auch aus politischen Gründen – für eine Sozialisierung der Rüstungsindustrie aus. [65] Ein wesentlicher Punkt, in dem Rüstow – aber auch Röpke – sich von anderen Neoliberalen unterschieden, war ihre ausgeprägte soziologische Kritik an der mangelnden Integrationskraft der modernen Gesellschaft sowie am Großstadtleben. [66]

Ungeachtet dieser Einschränkung war die Kritik Rüstows und Röpkes in vielen Punkten anknüpfungsfähig an die Ideen Alfred Müller-Armacks, der den Ausdruck Soziale Marktwirtschaft prägen sollte. Müller-Armack sah in ihr den „Dritten Weg“, die Möglichkeit, die Fehler von Kapitalismus und Kommunismus zu vermeiden. [67] Es ging ihm explizit nicht um eine Rückkehr zu einer Marktwirtschaft nach dem Ideal des Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Die Akteure der Freiburger Schule um Walter Eucken teilten ebenso wie Müller-Armack, Rüstow und Röpke die Grundannahmen, die von anderen Neoliberalen wie Röpke und Rüstow sowie der absoluten Mehrheit der Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann vertreten wurden. Laut Leonhard Miksch, einem der engsten Mitarbeiter Euckens, handele es sich beim Neoliberalismus nicht um eine Rückkehr zum Liberalismus des 19. Jahrhunderts; der Neoliberalismus sei umgekehrt gerade in Opposition zu diesem entstanden und als Synthese der Liberalismuskritik. [68]

Walter Eucken war der einzige Neoliberale, dem es gelang, eine eigene, eng mit einer Universität verbundene Schule zu gründen, in dessen Zentrum sich sein Lehrstuhl an der Universität Freiburg befand. [69] Zu seinen engsten Mitarbeitern gehörten neben Miksch noch Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth. Von Vorteil erwies sich für die Freiburger Schule, dass keiner ihrer Protagonisten während der Zeit des Nationalsozialismus ins Exil gehen musste. Dies hat bereits in den 1950er Jahren zu kritischen Fragen geführt, inwiefern die Beteiligten nicht nur innerhalb der nationalsozialistischen Strukturen, sondern auch für das Regime gearbeitet haben. [70] So berechtigt die Frage auch ist, so vorsichtig muss gerade die historische Forschung mit Werturteilen umgehen. [71]

Die Akteure der Freiburger Schule waren gewiss keine Widerstandskämpfer und mehrheitlich dem Weimarer Parlamentarismus gegenüber in seiner Spätphase kritisch eingestellt. [72] Damit fanden sie sich während der Jahre der Weltwirtschaftskrise in einer Mehrheitsposition wieder. In der Forschung ist suggeriert worden, einige ihrer Vertreter hätten sich dem nationalsozialistischen Regime angedient oder dies zumindest in Erwägung gezogen und gehofft, die wirtschaftliche Nachkriegsordnung nach einem Sieg des nationalsozialistischen Staates mitgestalten zu können. [73] Als kontrafaktische Möglichkeit kann dies nicht ausgeschlossen werden. Hierbei muss aber stets berücksichtigt werden, dass die Akteure Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen und nicht über das Ex-Post-Wissen von Historiker*innen verfügen. Auch ist es unrealistisch anzunehmen, dass jedem die Möglichkeit der Emigration offensteht. Fakt ist, dass die Wirtschaftswissenschaft im deutschsprachigen Raum vom NS-System zu großen Teilen ignoriert wurde und es kein spezifisch nationalsozialistisches Erbe in den Wirtschaftswissenschaften gibt. Als Technik konnte die ökonomische Theorie politische Aussagen im positiven wie negativen Sinn unterlaufen. [74] Die Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit ähnelten denen der Zwischenkriegszeit. [75] Die Tatsache, dass nach Kriegsende führende Neoliberale im deutschsprachigen Raum wie Eucken, Rüstow und Röpke sich bereits aus der Zeit vor 1933 kannten und sich in ihren Analysen weitgehend einig gewesen waren, spricht gegen die These, dass der Neoliberalismus wesentliche Charakteristika des nationalsozialistischen Systems inkorporiert habe.

Im Rahmen der Freiburger Schule ergänzen sich vor allem die Arbeiten Mikschs und Böhms. Während Miksch sich mit Fragen der „Marktordnung“ aus Sicht der Ökonomie befasste, nahm Böhm die Perspektive des Juristen ein. [76] Im Zentrum ihrer Analysen stand – ähnlich wie bei anderen Neoliberalen inner-und außerhalb des deutschsprachigen Raums – eine starke Skepsis gegenüber dem Leitbild des homo oeconomicus, die Einsicht, dass Märkte sich nicht selbst regulieren könnten und folglich die Notwendigkeit eines starken Staates. Jener Staat müsse – so Miksch – Wirtschaft und Gesellschaft stets über das Prinzip der „Rechtsordnung“ regeln, nie über das Prinzip des „Verwaltungszwangs“. [77] Mit ersterem meint Miksch die Regelung möglichst vieler Einzelfälle durch ein allgemeines Gesetz, mit letzterem die Regelung von Einzelfällen durch Einzelfallentscheidungen der Exekutive. Das Prinzip des „Verwaltungszwangs“ sei anfällig für Manipulation und Willkür und daher abzulehnen. Hierin weist Miksch eine große Ähnlichkeit mit anderen Neoliberalen auf, vor allem mit den von Walter Lippmann in „The Good Society“ geäußerten Thesen. Die demokratische Staatsform eigne sich laut Miksch am besten zur Durchsetzung neoliberaler Reformen, sofern sie das öffentliche Leben über das Prinzip der „Rechtsordnung“ regele. [78] Ähnlich äußerte sich Franz Böhm in seinen Publikationen. Politische Demokratie und Wettbewerbswirtschaft ergänzten einander, weil es sich bei beiden um Instrumente zur Minimierung der Machtkonzentration in den Händen einzelner handele. [79]

Manche Meisternarrative zur Entstehungsgeschichte des Neoliberalismus beginnen mit der Gründung der Mont Pèlerin Society im Frühjahr 1947 mit Friedrich Hayek an der Spitze als Formierung einer „Gegenelite“ zum herrschenden „keynesianischen“ Grundkonsens der Nachkriegszeit. [80] Diese „Gegenelite“ habe erst in den 1970er Jahren – in der Krise des alten Paradigma – Deutungshoheit erlangt und seitdem entscheidend Entwicklungen in Politik und Gesellschaft mitbestimmt. Auf den ersten Blick erinnert die Gründung der Mont Pèlerin Society an eine Wiederaufnahme des Colloque Walter Lippmann, das mit der Gründung eines Zentrums zur Erneuerung des Liberalismus geendet hatte. Ihr traten neben Röpke und Rüstow, die bereits am Colloque Walter Lippmann teilgenommen hatten, auch Personen wie Walter Eucken bei, die zuvor nur indirekt in Kontakt zu den Akteuren des Colloque Walter Lippmann gestanden hatten. [81] Es ist höchst fraglich, die Aktivitäten der Gründungsmitglieder als gegen einen bestimmten Konsens der Nachkriegszeit gerichtet anzusehen. Zwar gab es in fast ganz West- und Südeuropa 1947 starke sozialistische Bestrebungen und im Fall Frankreichs und Italiens auch kommunistische Parteien, von einem Konsens kann hier aber nicht gesprochen werden, schon gar nicht von einem keynesianischen. Die Gründungsmitglieder der Mont Pèlerin Society einte das Bestreben, für eine Erneuerung des Liberalismus und gegen autoritäre kollektivistische Tendenzen einzutreten. Wie ein solch erneuerter Liberalismus aussehen sollte, darüber herrschte 1947 keine Klarheit.

Bereits das Hauptanliegen des Colloque Walter Lippmann hatte darin bestanden, nach den Überlebenschancen des Liberalismus als gesellschaftlicher Kraft zu fragen. Erst wenn diese positiv beantwortet wurden, konnte sich hieran die Suche nach den Fehlern des Liberalismus der Zwischenkriegszeit anschließen. Zu Anfang des Colloque hatten einige der Teilnehmer selbst an der grundsätzlichen These, der Liberalismus sei prinzipiell überlebensfähig, starke Zweifel. [82] Diese Zweifel mussten zwischen 1938 und 1947 notwendigerweise noch gewachsen sein. Daher erforderte die Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit primär Zweckbündnisse zwischen all jenen, die ein Überleben – beziehungsweise eine Wiedergeburt – des Liberalismus für wünschenswert hielten. Diese grundsätzliche Kooperationswilligkeit stand daher bei der Gründung eines internationalen Netzwerks wie der Mont Pèlerin Society an oberster Stelle. Ob alle Teilnehmenden notwendigerweise dieselbe Diagnose über die Fehler des Liberalismus der Zwischenkriegszeit teilten, war insofern irrelevant, als viele der Gründungsmitglieder aktiv in den Wiederaufbau ihrer Heimatstaaten involviert waren. Der primäre Aktionsrahmen ihres Handels kann daher nicht im Globalen verortet werden, sondern muss auch auf der Ebene des Nationalstaats gesehen werden. Von neoliberal globalists zu sprechen ist allein schon aus raumsoziologischen Gründen fragwürdig, da Akteure in mehreren Räumen operieren können und global und national weder eine zwangsläufige Dichotomie bilden noch die einzigen zwei existenten Raumkonzepte darstellen.

Weit mehr noch als die Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann stießen die Gründungsmitglieder der Mont Pèlerin Society auf große Schwierigkeiten, sich auf ein gemeinsames Programm und eine politische Agenda zu einigen. [83] Unter der Präsidentschaft Hayeks wurde auf den Treffen der Mont Pèlerin Society kaum über den „Dritten Weg“ gesprochen, was bereits 1947 zu scharfen Auseinandersetzungen führte, wie an der Kritik des französischen Ökonomen Maurice Allais zu sehen ist. [84] Der Fall Maurice Allais, der 1988 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, zeigt auch, dass Neoliberalismus und bestimmte Formen der wirtschaftlichen Planung durchaus miteinander vereinbar sein können. Allais nannte sein diesbezügliches Konzept, für das er in den 1950er Jahren eintrat, „planisme concurrentiel“. [85] Zwar waren in der Anfangszeit der Mont Pèlerin Society viele Neoliberale Mitglied der Gesellschaft, dies macht die Mont Pèlerin Society jedoch nicht notwendigerweise zu einer neoliberalen Gesellschaft, vor allem nicht für den gesamten Zeitraum von 1947 bis zur Gegenwart. Viele Neoliberale traten in den 1950er Jahren wieder aus der Mont Pèlerin Society aus wie Walter Lippmann. Gerade die historische Forschung ist hier gut beraten, sich an die Grundsätze der Quellenkritik zu halten. Die Tatsache, dass Friedrich Hayek – angeblich intellektuelle Gründungsfigur des Neoliberalismus – in „The Constitution of Liberty“ ausdrücklich der Mont Pèlerin Society dankt und Ludwig Mises als deren intellektuelle Vaterfigur beschreibt, konstituiert keinen hinreichenden Grund, seine Aussagen unkritisch zu übernehmen. [86] Im Falle der Rolle Ludwig Mises handelt es sich sogar eindeutig um ein Overstatement. Starke Divergenzen zwischen den Zielen zentraler Akteure des Neoliberalismus und Mitgliedern der Mont Pèlerin Society zeigten sich besonders ab den 1960er Jahren, als die Gesellschaft in steigendem Ausmaße unter den Einfluss sowohl des Kreises um Milton Friedman als auch der „Foundation for Economic Education“ sowie des „Institute of Economic Affairs“ geriet. [87]

Der viel kolportierte Gegensatz zwischen Neoliberalismus und Keynesianismus existiert nicht in den Quellen derer, die sich in den 1930er und 1940er Jahren selbst für neoliberal hielten. Die Teilnehmer des Colloque Walter Lippmann standen Keynes’ Ideen mehrheitlich weder stark ablehnend noch positiv gegenüber. Neben Teilnehmern, die ihm skeptisch gegenüberstanden, gab es auch solche, die seinen Ideen gegenüber aufgeschlossen waren oder – wie Walter Lippmann – mit Keynes befreundet waren und ihn ausdrücklich lobten. Auf dem Colloque stand Keynes zu keinem Zeitpunkt im Zentrum der Diskussion. [88] Es darf nicht vergessen werden, dass das, was gemeinhin keynesianischer Grundkonsens der Nachkriegszeit genannt wird, mit den ursprünglichen Ideen von Keynes nur mittelbar zu tun hat. Neben Franco Modigliani hat besonders Paul Samuelson eine selektive Interpretation und Weiterentwicklung der Ideen von Keynes popularisiert. Die hierbei entstandene neoklassische Synthese hat sich in den späten 1950er Jahren in den westlichen Wirtschaftswissenschaften als Mainstream durchgesetzt. Was hierbei von Keynes übrigblieb, hat Joan Robinson – nicht zu Unrecht – als „bastard-keynesianism“ bezeichnet. [89] Von einem keynesianischen Grundkonsens der Nachkriegszeit zu sprechen ist, daher sehr ungenau und verdeckt andere Einflüsse. Der historische Kompromiss der Nachkriegszeit ist zu einem wesentlichen Teil auch ein neoliberaler gewesen. Das von Andreas Reckwitz sozial-korporatistisch genannte Paradigma der drei Nachkriegsjahrzehnte stellt eine Synthese aus korporatistischen Traditionen der Vorkriegszeit und neoliberalen Erneuerungsbestrebungen dar. Neoliberale haben in der Nachkriegszeit in entscheidenden Positionen die Entwicklung in West- und Südeuropa als auch in den USA mitbestimmt.

Auf die Bundesrepublik Deutschland bezogen, bedeutet dies Folgendes: Zwar gilt Ludwig Erhard als Vater der Sozialen Marktwirtschaft, der Begriff geht jedoch auf Müller-Armack zurück und am Erfolg des Konzepts waren viele Personen beteiligt. Entscheidend waren im deutschen Fall intellektuelle Netzwerke, deren Akteure nach Kriegsende an ihre Arbeit der Vorkriegszeit anknüpfen und sich gegenseitig vertrauen konnten. Die intellektuelle Biographie des Wirtschaftsministers Erhard verweist bereits auf das Erbe Franz Oppenheimers. Alexander Rüstow wurde 1954 Vorsitzender der „Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“. Alfred Müller-Armack wurde 1952 ins Bundeswirtschaftsministerium berufen. Franz Böhm kandidierte 1953 für den Bundestag, dem er bis 1965 für die CDU angehörte. Die CDU übernahm 1949 mit den „Düsseldorfer Leitsätzen“ das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in ihr Parteiprogramm. Die SPD folgte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Nur die liberale FDP tat dies erst 1971 mit den „Freiburger Thesen“, von denen sie sich nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition wieder abwenden sollte. [90] Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft ist in der neueren Forschung als inhaltliche „Leerformel“ bezeichnet worden. Zwar stehe sie für ein sozioökonomisches Ordnungskonzept, das Marktwirtschaft mit Umverteilung vereine; der Begriff sage aber nichts aus über das wünschenswerte Maß an Umverteilung. [91] Das ist richtig, aber gleichzeitig zu polemisch gedacht. Gerade daran, dass ein Paradigma universell akzeptiert ist und in einer linken und rechten politischen Variante existiert, zeigt sich im Reckwitz‘schen Sinne dessen Stärke und tiefe gesellschaftliche Verankerung. Die Soziale Marktwirtschaft muss hierbei als westdeutsches Etikett und Symbol eines Paradigmas gewertet werden, das selbst keine spezifisch westdeutschen Züge trägt. Die Soziale Marktwirtschaft ist in ihren Grundlagen die nationale Ausformung eines transnationalen neoliberalen Netzwerks.

In anderen westlichen Ländern ergibt sich ein ähnliches Bild wie in der frühen Bundesrepublik. Neoliberale haben hier entscheidend an der Weichenstellung für die Nachkriegsordnung mitgewirkt. Luigi Einaudi, der ebenfalls zum Colloque Walter Lippmann eingeladen war, wurde erster Staatspräsident der neu gegründeten Republik Italien. Walter Lippmann unterstützte in den 1960er Jahren die Politik Kennedys und besonders Johnsons „Great Society“. Robert Marjolin wurde 1948 zum Generalsekretär der OEEC ernannt. Roger Auboin amtierte von 1938 bis 1958 als Präsident der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Jacques Rueff fungierte als Wirtschafts- und Finanzberater im Stab von Charles de Gaulle sowie als Richter an den Vorgängerinstitutionen des Europäischen Gerichtshofs. Es ergibt daher keinen Sinn, hinter dem Neoliberalismus eine von der Macht ausgeschlossene alternative Elite zu sehen, die sich in den späten 1940er Jahren zuerst auf dem Mont Pèlerin formierte, um dann in der Krise der 1970er ihre Chance zu sehen und das in der westlichen Welt herrschende Paradigma umzustürzen. Dies war schlicht deshalb unmöglich, weil die Neoliberalen das Paradigma der Nachkriegszeit bereits verkörperten und zum Establishment der westlichen Welt gehörten. Umso wichtiger ist die Frage, was demnach unter der vermeintlichen neoliberalen Wende der 1970er Jahre zu verstehen ist. Hierfür ist es sinnvoll, den intellektuellen Hintergrund sowie die Selbstidentifikation der drei Nobelpreisträger und angeblichen Vordenker des Neoliberalismus Hayek, Friedman und Buchanan näher zu analysieren und alternative Deutungsmöglichkeiten anzubieten.

5 Das Wesen der neoliberalen Wende der 1970er Jahre

Von den drei genannten ist Hayek der älteste. Zusammen mit seinem intellektuellen Mentor Ludwig Mises nahm er 1938 ebenfalls am Colloque Walter Lippmann teil, was ihn auf den ersten Blick zum Neoliberalen prädestiniert. Doch weder Hayek noch Mises teilten die Prämissen Lippmanns. Mises lehnte sogar jegliche substantielle Kritik am Liberalismus des 19. Jahrhunderts ab. [92] Weder Hayek noch Mises haben sich mit dem Begriff Neoliberalismus selbstidentifiziert. Von anderen Neoliberalen wie Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke wurden beide fachlich zwar durchaus geschätzt, aber nicht als Neoliberale verstanden. Rüstow bezeichnete die Ideen von Hayek und Mises abschätzig als „Paläoliberalismus“. [93] Der Meinungsstreit zwischen Neoliberalen wie Rüstow, Röpke und Eucken auf der einen, sowie Hayek – und vor allem Mises – auf der anderen Seite, reichte bis zu dem gescheiterten Versuch zurück, dem Verein für Socialpolitik 1928 eine neue inhaltliche Ausrichtung zu geben. [94] Im Gegensatz zu den Neoliberalen, die sich selbst als solche verstanden, blieb der Einfluss von Altliberalen wie Mises und Hayek auf die praktische Politik in den drei Nachkriegsjahrzehnten äußerst gering. [95] Dasselbe gilt auch für Friedman und Buchanan. Auch wenn Hayek sich konzilianter im Ton zeigte als Ludwig Mises, so werden in seinen beiden Hauptwerken „The Road to Serfdom“ von 1944 sowie „The Constitution of Liberty“ von 1960 wesentliche Unterschiede zu jenen Thesen deutlich, die auf dem Colloque Walter Lippmann mehrheitlich positiv aufgenommen worden waren. Es handelte sich daher nicht primär um persönliche Unstimmigkeiten, sondern inhaltliche Differenzen, die durch Zweckbündnisse wie in der Mont Pèlerin Society nur temporär überbrückt werden konnten.

In seinem Werk “The Road to Serfdom” von 1944 geht Hayek von Thesen aus, die sich konträr zu denen Walter Lippmanns verhalten. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs geschrieben warnt Hayek in seinem Buch vor dem „deutschen Geist“. Die Deutschen an sich seien als Volk nicht aggressiver oder bösartiger als andere Völker, der „deutsche Geist“ jedoch drohe, auch von der angelsächsischen Welt Besitz zu ergreifen. Die reale Gefahr geht laut Hayek von allen deutschen Denkern seit Hegel aus. In die Tradition Hegels ordnet Hayek unter anderem Karl Marx, Friedrich List, Gustav Schmoller, Werner Sombart sowie Karl Mannheim ein, die er zu Vordenkern des Sozialismus erklärt. Die sozialistische Idee sei zwar nicht in Deutschland erfunden, jedoch um die Jahrhundertwende und vor allem während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland perfektioniert worden. [96] Erstes „Opfer“ dieses speziellen deutschen „Exportwunders“ sei Russland geworden. Die zwei Weltkriege hätten die Ausbreitung des deutschstämmigen Sozialismus nicht verhindern können. Auch die Siegermächte Großbritannien und USA hätten nach 1918 zunehmend sozialistische Züge angenommen. Er betont hierbei seinen Status als – deutschsprachiger – Ausländer, der wegen seines Außenseiterstatus ein besonders feines Gespür für sein Gastland habe und deshalb umso mehr bedauere, dass die britische Gesellschaft sich nicht mehr ihrer eigenen historischen Kraft in Form ihres liberalen Erbes bewusst sei und dieses von vielen sogar offen in Frage gestellt werde. [97]

Hayek äußert in „The Road to Serfdom” starke Sympathien für den britischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis etwa 1870 hätten sich die Ideen auf der Welt von West nach Ost, von Großbritannien ausgehend auf der ganzen Welt verbreitet. [98] Ab 1870 sei Deutschland das wesentliche intellektuelle Zentrum der Welt gewesen und der Sozialismus habe seinen Siegeszug angetreten. Er wendet sich gegen all jene, die den britischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts verurteilen und sieht in ihnen eine Reinkarnation der früheren Wegbereiter des Sozialismus in Deutschland verkörpert, die eine Generation zuvor die Grundlagen für den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland gelegt hätten. [99] Dies kann durchaus als Warnung sowohl an Neoliberale als auch an andere demokratische Reformbewegungen in Europa und Nordamerika verstanden werden. [100] Auch wenn es nicht mehr möglich sei, zur Realität des 19. Jahrhunderts zurückzukehren, so sollte die Gesellschaft laut Hayek wenigstens nach der Verwirklichung der liberalen Ideale dieser Zeit streben. [101] Diese Grundannahme steht in Widerspruch zur Mehrheitsmeinung der Teilnehmer am Colloque Walter Lippmann und in Widerspruch zum Denken all jener Neoliberalen, die in der Nachkriegszeit aktiv daran mitgewirkt haben, eine Rückkehr zur Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts zu verhindern. Größere Schnittpunkte mit dem neoliberalen Paradigma zeigt Hayek in „The Road to Serfdom“ im Bereich der epistemologischen Kritik an zentralstaatlicher Planung und teilweise auf dem Feld der praktischen Politik. [102] So tritt Hayek in seinem Buch für eine allgemeine, staatlich gestützte, Gesundheitsversicherung ein. [103]

In seinem 1960 veröffentlichten Werk „The Constitution of Liberty” knüpft Hayek an seine Thesen aus „The Road to Serfdom“ an. Im Vorwort des Herausgebers der Neuauflage des Buches in der Chicago University Press aus dem Jahr 2011 heißt es explizit, die überwiegend negative Reaktion auf „The Road to Serfdom“ habe Hayek veranlasst, seine Ansichten noch einmal ausführlicher darzulegen, um seine Kritiker zu überzeugen. [104] Auch wenn Hayek und seine Ideen später ein Revival erleben sollten, scheiterte dieser Versuch. „The Constitution of Liberty“ erhielt überwiegend negative Rezensionen und konnte unmittelbar nach der Veröffentlichung weniger Aufmerksamkeit generieren als „The Road to Serfdom“. [105] Die Grundidee in den beiden Büchern ist nahezu identisch: Die Ideale des Liberalismus des 19. Jahrhunderts seien in großer Gefahr, durch ein zunehmend dominanter werdendes sozialistischen Paradigma verdrängt zu werden. Dies müsse nahezu automatisch dazu führen, dass die westlichen Gesellschaften in autoritären Kollektivismus abgleiten. Ebenso wie 1944 stimmt Hayek 1960 ein melancholisches Lamento an und hofft auf eine Wiedergeburt der von ihm favorisierten freiheitlich-liberalen Ideale. [106] Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Hayek diese in der Nachkriegsordnung nicht verwirklicht sieht und damit die Errungenschaften des Neoliberalismus entweder nicht anerkennt oder sogar als im Kern sozialistisch verurteilt.

Hayeks Konzeption von Freiheit ist eng angelehnt an die Ideen britisch-stämmiger Liberaler aus dem 19. Jahrhundert wie Lord Acton oder John Stuart Mill. Freiheit bedeutet für Hayek die Freiheit von Zwang in einem engen, individuellen Sinn; idealerweise dürfe kein Mensch auf einen anderen Menschen Zwang ausüben. Weitergehende Auffassungen von Freiheit, die sich an liberalen und sozialistischen Reformbewegungen des späten 19. und 20. Jahrhunderts orientieren, lehnt er kategorisch als Antithese zu seinem Freiheitsbegriff ab. [107] Die Vertreter des von ihm kritisierten Verständnisses von Freiheit setzten Freiheit mit materiellem Wohlstand gleich. Ein solches Verständnis schließe automatisch die Forderung nach umfangreicher Umverteilung von Einkommen und Vermögen ein. [108] Diese Engführung des Freiheitsbegriffs und die prinzipielle Ablehnung von Umverteilungsmaßnahmen in „The Constitution of Liberty“ machen Hayek zum intellektuellen Gegenspieler der Neoliberalen, die mehrheitlich einem breiter gefassten Freiheitsbegriff anhingen und die sich aus den Veränderungen des 19. Jahrhunderts ergebende Einkommens- und Vermögensverteilung zumindest kritisch beargwöhnten. Hayeks Ansichten stehen nicht nur im Gegensatz zum neoliberalen Idealtypus der Debatten der 1930er und 1940er Jahre, sondern auch im Gegensatz zum neoliberalen Realtypus wie er sich im Nachkriegseuropa herausgebildet hatte.

“The Constitution of Liberty” bietet starke Anknüpfungspunkte an Milton Friedmans Arbeiten aus den 1960er und 1970er Jahren. In „Capitalism and Freedom“ aus dem Jahr 1962 bezeichnet sich Friedman als Liberaler im Sinn des 19. Jahrhunderts. Das oberste Ziel müsse die Maximierung der Freiheit des Individuums sowie eine Reduzierung der Rolle des Staates in der Wirtschaft sein, um die Position des Individuums zu stärken. [109] Es fällt nicht schwer, eine Verbindung zwischen dieser Denktradition und Margaret Thatchers berühmtem Ausspruch „there is no such thing as society; there are individual men and women“ herzustellen. Auch passt die Verklärung des 19. Jahrhunderts gut zu dem politischen Programm konservativer politischer Bewegungen in Großbritannien und den USA, die sich an dem relativen Bedeutungsverlust ihrer Länder nach 1945 störten und ihr „goldenes Zeitalter“ im 19. Jahrhundert oder zumindest in der Zeit vor 1945 verorteten. Friedmans Freiheitsverständnis ähnelt stark demjenigen Friedrich Hayeks. [110] Friedman lehnt eine weitgehende Regulierung, geschweige denn Sozialisierung, von Monopolen ab; es sei das Beste, Monopole privater Firmen unangetastet zu lassen, staatliche Monopole seien unter allen Umständen zu beseitigen. [111] Öffentliches Eigentum sei vor allem dort gerechtfertigt, wo die individuelle Abrechnung der Nutzung aus praktischen Gründen schwer möglich sei; Friedman nennt hier unter anderem Stadtparks, eine Kontrolle aller direkten und indirekten Nutznießer wäre hier im Gegensatz zu Nationalparks nur schwer praktisch umzusetzen. [112] Im Bereich des Bildungswesens –um ein anderes Beispiel zu nennen – könne der Staat zwar Eltern verpflichten, für ein Minimum an Grundbildung bei ihren Kindern zu sorgen, er dürfe jedoch weder in der grundständigen noch der höheren Bildung über ein Monopol verfügen und dieses Angebot keinesfalls kostenlos zur Verfügung stellen. [113] Selbst bei einem Thema wie der „Rassentrennung“ im Schulsystem solle sich der Staat am besten komplett heraushalten und diese Frage dem Markt überlassen, der ein weit besserer Garant für Diversität sei als der Staat. [114] Damit verkörpert Friedman das „Deregulierungsparadigma“ der post-1970er Jahre nach Andreas Reckwitz nahezu par excellence.

Es stellt sich die Frage, was Milton Friedman mit dem historischen Phänomen des Neoliberalismus gemein hat. Die Antwort muss lauten, dass es mehr Trennendes als Verbindendes gibt. Friedman selbst verhält sich – zumindest in seinen Hauptwerken – im Vergleich zu Autoren wie Hayek intellektuell intransparent. Dennoch muss klar sein, dass es sich bei Friedman – analog zu Hayek – um einen ausgezeichneten Kenner der Geschichte des Liberalismus handelt. Die Widersprüche zwischen Friedmans Ideen und den Ideen führender Neoliberaler der 1930er und 1940er sind zum einen auf rein sachlicher Ebene evident. Friedman spricht sich gegen die Besteuerung von Vermögen und gegen progressive Einkommenssteuern aus. [115] Es sei zudem ein Akt von „Paternalismus“, auf Erwachsene den „Zwang“ auszuüben, eine Kranken- oder Rentenversicherung abzuschließen, Individuen müssten auch das Recht haben, Fehler zu begehen. [116] Auch wenn Friedman Walter Lippmann in „Capitalism and Freedom“ mit keinem Wort erwähnt, sind einige Spitzen gegen ihn in dem Buch jedoch offensichtlich. Diese ergeben sich zum einen aus dem historischen Kontext heraus: Friedman wendet sich gegen den Mainstream der 1960er Jahre und greift speziell jene Intellektuelle an, die sich in den Dienst der Demokratischen Partei gestellt hätten. [117] Walter Lippmann war einer derjenigen Intellektuellen, die die Sozialpolitik Kennedys und Johnsons in den 1960er Jahren aktiv unterstützt haben. [118]

Zudem widmet Friedman in „Capitalism and Freedom” der Rehabilitierung Herbert Spencers viel Raum, auch wenn er Spencer ebenso wie Walter Lippmann nicht namentlich im Manuskript erwähnt. Er wählt hierzu eine Idee Spencers, die Lippmann in „The Good Society“ an zentraler Stelle verwendet, um den Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts zu diskreditieren. Laut Spencer habe der Staat zwar das Recht, jemanden wegen des unerlaubten Betretens von privatem Grund zu bestrafen, er müsse sich aber aus der Regulierung von Berufen wie dem des Arztes heraushalten. Wenn demnach jemand, der sich als Arzt ausgibt, seinen Patienten durch grobe Fahrlässigkeit umbringe, dürfe die Witwe ihn nicht verklagen und die staatliche Justiz die betreffende Person auch nicht bestrafen. [119] Lippmann kritisiert an Spencer, dass es sich in letzterem Fall nicht um ein System der natürlichen Freiheit handele, sondern das Nichteingreifen des Staates ebenso ein bewusster Akt sei wie das Eingreifen im Fall des Landfriedensbruchs; in dem einen Fall werde der Täter bestraft und in dem anderen geschützt. [120] Friedman greift dieses Beispiel auf, obwohl es für seine wesentlichen Thesen selbst zu illustrativen Zwecken bessere Beispiele, wie die Rolle der Industriegewerkschaften und deren Einfluss auf die Politik, gegeben hätte, und unterstellt denjenigen, die den Zugang zum Arztberuf regulieren möchten, sinistre Motive. [121]

Milton Friedman hat seine Karriere als public intellectual in besonderem Maße darauf aufgebaut, den historischen Kompromiss der Nachkriegszeit und damit auch den Neoliberalismus in seinem Fundament zu erschüttern. Hierbei ist er weit weniger skrupulös vorgegangen als Friedrich Hayek und hat bewusst auf das Mittel der Provokation gesetzt. Die hierbei von ihm geäußerten Thesen standen in den meisten Fällen den Thesen des Colloque Walter Lippmann diametral entgegen. Dies gilt auch für seinen berühmtesten Essay, der am 13. September 1970 in der New York Times veröffentlicht wurde und als Startschuss für den Shareholder-Value-Kapitalismus gilt. Die These „the social responsibility of business is to increase its profits” ist unvereinbar sowohl mit der Sozialbindung des Eigentums in der Sozialen Marktwirtschaft als auch mit Walter Lippmanns Definition der Rolle von Kapitalgesellschaften. [122] Laut Lippmann handelt es sich bei Kapitalgesellschaften um künstliche Konstruktionen, denen per Gesetz Privilegien zugestanden worden seien. Die Gesellschaft dürfe diese daher regulieren und ihnen auch gesellschaftliche Zielvorgaben machen.

James Buchanan hat das Licht der Öffentlichkeit weit weniger gesucht als Hayek und vor allem Friedman. In seiner Nobelpreisrede aus dem Jahr 1986 beschreibt Buchanan die Entdeckung der Arbeiten des schwedischen Ökonomen Knut Wicksell kurz nach Abgabe seiner Dissertation an der Universität von Chicago 1948 als sein intellektuelles Erweckungserlebnis. [123] Das Genialische an Wicksell, so Buchanan, sei dessen Versuch gewesen, den Kern der ökonomischen Theorie des Liberalismus auf den öffentlichen Sektor zu übertragen. [124] Buchanan avancierte im Zuge seiner Entdeckung mit seinen weiteren Werken zu einer der zentralen Figuren der public-choice theory. Die verschiedenen Individuen würden auf dem „Markt der Politik“ als homines oeconomici versuchen, ihr wohlverstandenes Eigeninteresse zu maximieren; die gemeinsame Suche nach einem überindividuellen „Guten“ spiele hierbei keine Rolle. [125] Damit Politik den Marktmechanismus repräsentieren könne, müssen politische Entscheidungen über die Erhebung und Verteilung von Steuern durch die öffentliche Hand einstimmig erfolgen. Auf diese Weise reproduziere Politik öffentliche Allokationsentscheidungen als einstimmigen, freiwilligen Kontrakt zwischen Individuen, ohne dass eine numerische Mehrheit zu Zwangsmaßnahmen greifen müsse, um die Minderheit zu einer Handlung zu „zwingen“. [126]

Buchanans Theorie liegt eine sehr selektive Interpretation und Weiterentwicklung der Ideen Wicksells zugrunde, die den historischen Kontext weitgehend unberücksichtigt lässt. Wicksells Werk ist stark von seiner Auseinandersetzung mit dem britischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts beeinflusst, dessen Ideen und Ideale er für sein Heimatland versucht, fruchtbar zu machen. Wicksells Motivation zur Entwicklung seines „Einstimmigkeitsprinzips“ bei öffentlichen Budgetfragen war eigentlich ein emanzipatorisches Anliegen: Das Wahlrecht im Königreich Schweden hat Ende des 19. Jahrhunderts den sozial und ökonomisch besser gestellten Schichten ein großes politisches Übergewicht über die unteren Klassen garantiert. Dies führte dazu, dass eine kleine Oberschicht in Legislative und Exekutive die von ihr favorisierten Ausgabenprojekte durchsetzen konnte; finanziert wurden diese Projekte jedoch nicht von der Oberschicht selbst über direkte Steuern, sondern über indirekte Konsumsteuern, die die unteren Schichten überproportional stark belasteten. Anstatt dieses im Kern aus Wicksells Sicht hoffnungslos willkürliche und ungerechte System lediglich evolutionär zu verändern, hat er nach einem komplett neuen Verteilungsmechanismus gesucht. [127] Untrennbar verbunden mit seinem System der „Verteilungsgerechtigkeit“ war für Wicksell eine gerechte Ausgangsverteilung von Vermögen. Über die Umverteilung von Vermögen sollte separat mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden. [128] Die eng gefasste Annahme eines homo oeconomicus ist mit neoliberalem Denken nicht vereinbar. Anders sieht es bei dem sozialrevolutionären Aspekt des ideologischen Ursprungs der public-choice theory Buchanans aus. Dieser ist durchaus anknüpfungsfähig an die Ideen eines Franz Oppenheimers.

Was Hayek, Friedman und Buchanan eint, ist – neben starken inhaltlichen Übereinstimmungen – das Gefühl, in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten zu einer marginalisierten Gruppe von Denkern gehört zu haben, gefolgt von einer Phase der verspäteten Anerkennung ihres Wirkens in den 1970er und 1980er Jahren. Friedman hat dies deutlich reflektiert im Vorwort zur Neuauflage von „Capitalism and Freedom“ aus dem Jahr 2002. Friedman beschreibt hierin Barry Goldwater und Ronald Reagan als „two men with essentially the same program and the same message“. Was den Unterschied zwischen der Niederlage des einen und dem Sieg des anderen ausgemacht habe, sei der veränderte Zeitgeist begründet auf der zunehmenden Enttäuschung über die angeblich sozialistischen Experimente der Nachkriegszeit. Sein eigenes Verdienst erkennt Friedman nachträglich darin, als Avantgarde einer neuen Zeit den intellektuellen Boden für die 1980er Jahre bereitet zu haben. [129] Auch bei Buchanan sind Anflüge eines triumphalistischen Gefühls in den 1980er Jahren festzustellen. [130] In diesen Fällen kann durchaus von einer Art Gegenelite gesprochen werden, die in den 1970er und vor allem in den 1980er Jahren ins Zentrum des politischen Diskurses rückte. Diese Wende steht allerdings in keinem positiven Verhältnis zum Neoliberalismus.

6 Alternativen zur bisherigen Begriffsbildung

Weit mehr als bei Walter Lippmann oder den deutschen Neoliberalen findet sich eine ausgeprägte Demokratieskepsis bei Autoren wie Friedrich Hayek, Milton Friedman und James Buchanan, die damit auch weit besser dem soziologisch inspirierten Neoliberalismusverständnis in der Forschung entsprechen. Ihre Demokratieskepsis speist sich zum einen aus den praktischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Wenn ein so tief im 19. Jahrhundert verwurzelter historischer Akteur wie Friedrich Hayek das Regime eines Kaisers Napoleon III. demjenigen eines plebiszitär legitimierten Reichskanzlers Hitler vorzieht, sollte die historische Forschung des 21. Jahrhunderts sich mit moralischen Werturteilen über Hayeks Geisteshaltung zurückhalten. [131] Intellektuell verweist die Demokratieskepsis von Hayek, Friedman und Buchanan jedoch auf die Tradition des britischen Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts und die Zeit der Aufspaltung des Liberalismus in zwei große Lager: derjenigen, die sich in der Tradition Mills und Spencers sahen und derjenigen reformorientierten Liberalen, die durch ein Eingreifen des Staates die sozialen Probleme der Moderne lösen wollten. Das Liberalismusverständnis der letztgenannten Gruppe fand seinen Ausdruck im Regierungshandeln von Herbert Henry Asquith und Lloyd George.

Dieser Reformliberalismus der Jahrhundertwende ist auch von vielen Neoliberalen kritisiert worden; jedoch nicht wegen dessen Zielen, sondern vor allem wegen dessen Methodik. Aus Sicht von Autoren wie Walter Lippmann sei es ein Fehler gewesen, vornehmlich über die Exekutive sozioökonomische Prozesse steuern zu wollen. Bei Autoren wie Hayek klingt dies deutlich anders. Hayek unterscheidet in „The Constitution of Liberty“ zwischen dem Konzept von „legality“ und „rule of law“. [132] Ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdiene, entziehe sowohl der Exekutive als auch der Legislative die Zuständigkeit zur Regelung bestimmter Bereiche des öffentlichen Lebens. Dies entspricht noch am ehesten der Unterscheidung zwischen „imperium“ und „dominium“. [133] Hiermit stellt sich Hayek explizit gegen Lippmann und andere Neoliberale. Lippmann hatte sich zwar in „The Good Society“ einen demokratischen Reifungsprozess der Gesellschaft gewünscht, den Primat der Legislative über die Judikative dennoch betont.

Autoren wie Hayek, Friedman und Buchanan verwerfen in ihren Schriften den Reformliberalismus der Jahrhundertwende und sind primär in der Tradition Mills und Spencers zu sehen. Es wäre falsch, sie als reine Epigonen Spencers zu betrachten; sie als Neoliberale zu verstehen, führt jedoch zu einer absurden Situation: Demzufolge hätte der Neoliberalismus in den 1970er und 1980er Jahren sich selbst zerstört, denn es war gerade der neoliberale Kompromiss der Nachkriegszeit, den diese drei Autoren – pars pro toto betrachtet – vollständig überwinden und nicht bloß graduell verbessern wollten. Friedman und Hayek, die bereits in den 1960er Jahren bekannte Figuren des öffentlichen Lebens in den USA waren, sind in dieser Zeit nicht als Neoliberale fremdidentifiziert worden. Öffentlich sichtbar wurde dieser Bruch unter anderem im Zuge des US-Wahlkampfes 1964, in dem Milton Friedman Barry Goldwater als dessen Wirtschaftsberater unterstützte. Dies führte zu einer Philippika durch Paul Samuelson in der New York Times, in der er Friedman und Hayek als Libertäre brand-markte und ihnen vorwarf, den realitätsfernen Phantasien eines Lord Actons und Herbert Spencers anzuhängen. [134] Samuelson – seinerseits der erste US-Amerikaner, der den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt – hätte sie auch als Neoliberale bezeichnen können, wenn dies der Realität entsprochen hätte. Er tat es nicht.

Friedrich Hayek hat im Schlussteil zu „The Constitution of Liberty“ über verschiedene Möglichkeiten der Begriffsbildung in seinem Kapitel „Why I am not a Conservative“ reflektiert. Den Begriff „Libertärer“ hat Hayek zur Selbstidentifizierung ebenso abgelehnt wie den Begriff „Konservativer“, der Begriff „Liberaler“ hingegen sei durch intellektuellen Missbrauch seiner eigentlichen Bedeutung enthoben, auch wenn er für ihn am besten passen würde. [135] Das Wort Neoliberaler hat er gar nicht erst in Erwägung gezogen. Hayek – ebenso wie Friedman und Buchanan – sind tief in den Traditionen des britischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts verwurzelt. Sie eint die Auffassung vom Wesen des Menschen als homo oeconomicus, ein eng gefasster Freiheitsbegriff und eine Skepsis gegenüber der Demokratie. Sie stehen in der Erbfolge eines Herbert Spencer, nicht jedoch in der eines Lloyd George. Eine alternative – historisch fundierte – Begriffsbildung muss dies berücksichtigen.

Hierfür ist es angebracht, begrifflich an jene liberale Denker anzuknüpfen, die sich zur Jahrhundertwende in der Tradition Herbert Spencers und in strikter Opposition zu den Reformliberalen ihrer Zeit sahen. Analog zu Hayek, Friedman und Buchanan haben sie sich als eine Art Gegenelite betrachtet und die Massendemokratie ihrer Zeit äußerst skeptisch betrachtet. Verkörpert wurde diese intellektuelle Strömung durch den Liberalen und Parlamentsabgeordneten Auberon Herbert. Herbert hat 1906 an der Universität Oxford einen Vortrag zu Ehren Spencers gehalten, aus dem zwei Jahre später die Schrift „The Voluntaryist Creed“ entstanden ist. In ihr präsentiert sich Herbert als einen geläuterten Liberalen, der als Parlamentarier in einer nach dem Mehrheitswahlrecht funktionierenden Demokratie versucht habe, sich für das „common welfare“ einzusetzen. Ein persönliches Gespräch mit Spencer habe ihn jedoch davon überzeugt, dass es falsch sei, mit Hilfe der „great machine“ anderen Mitmenschen seinen Willen aufzuzwingen. [136]

Herberts Manifest des „voluntaristischen Liberalismus“ weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Ideen Hayeks, Friedmans und Buchanans auf, beziehen sie sich doch auf dieselben britischen liberalen Vordenker, deren Ideen sie evolutionär weiterzuentwickeln trachten. Herbert grenzt sich hierbei bewusst vom Anarchismus ab und benutzt einen ähnlich eng gefassten Freiheitsbegriff. Er fordert die Freisetzung der Kräfte des Individuums. [137] Er lehnt sowohl das Konzept der Selbstverwaltung als auch der repräsentativen Regierung ab, da diese stets andere ermächtige, Zwang über die Mitmenschen auszuüben. Idealerweise werde das öffentliche Leben ausschließlich durch den freiwilligen Zusammenschluss von Menschen analog zum Privatvertrag organisiert; dazu gehöre auch, dass Menschen freiwillig übereinkommen, Steuern zu zahlen. [138] Die Parallelen zu Wicksell, der sich etwa zeitgleich in England aufhielt, als Herbert sein Werk verfasst hat, sind unübersehbar. Herbert reflektiert seine Klassenzugehörigkeit in seinem Manifest klar: Das bisherige politische System in Großbritannien habe vor allem der vermögenden Oberschicht genutzt, dies drohe nun zu kippen; die unteren Schichten würden bald dasselbe System gegen die Oberschicht wenden. Um sich nicht des Vorwurfs auszusetzen, sich nur so lange an die Spielregeln zu halten, wie es ihnen selbst nutze, sollte die besitzende Klasse das richtige tun, solange sie noch über die politische Macht verfüge. [139] Das von Herbert vorgeschlagene Modell passt – anders als der historische Neoliberalismus – perfekt in das Schema der strikten Trennung von „imperium“ und „dominium“. Hierbei grenzt sich Herbert scharf vom Anarchismus ab und verordnet sein System in der liberalen Tradition. [140] Aufgrund der großen Nähe von Herberts Ideen zu denen der Vordenker der vermeintlichen neoliberalen Wende der 1970er Jahre ist es sinnvoll, alternativ den Begriff voluntaristischer Liberalismus zu verwenden und den Neoliberalismus als historisches Phänomen zu betrachten, das im Gegensatz zu den Ideen des voluntaristischen Liberalismus steht und dessen Blütephase in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu verorten ist.

Bereits in den 1950er Jahren hatte sich die intellektuelle Kraft des Neoliberalismus größtenteils erschöpft. Die Freiburger Schule – die einzige universitär verankerte Denkfabrik des Neoliberalismus – war bereits zu Anfang der 1950er Jahre weitestgehend zerfallen, ihre führenden Akteure entweder verstorben oder in die Politik gewechselt. [141] Für die Weiterentwicklung der Volkswirtschaftslehre in der Bundesrepublik waren die deutschen Neoliberalen von untergeordneter Bedeutung. [142] Dies wird untermauert durch eine Betrachtung der ökonomischen „Feindforschung“ im anderen deutschen Staat. Ostdeutsche Wirtschaftswissenschaftler haben in den 1950er Jahren intensiv zum westdeutschen Neoliberalismus geforscht. [143] Bezeichnenderweise verschwindet der Begriff Neoliberalismus in den ostdeutschen Akten zur westdeutschen Wirtschaftsforschung im Laufe der 1960er Jahre. [144]

7 Fazit

Es bleibt abschließend zu klären, wie Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft von einem eng gefassten historischen Neoliberalismusbegriff profitieren können. Die vorhergehende Analyse hat gezeigt, dass das bisherige Neoliberalismusverständnis historisch kaum haltbar ist. Diese Einsicht ändert für sich erst einmal nichts an der Validität der einzelnen Punkte der soziologischen Analyse der Gegenwart. Sie muss jedoch zu einer Modifikation der Interpretation dieser soziologischen Beobachtungen führen. Dies lässt sich gut am anfangs ausführlich beschriebenen Beispiel von Andreas Reckwitz „Das Ende der Illusionen“ illustrieren. Das von ihm diagnostizierte seit den 1970er Jahren dominierende Deregulierungsparadigma passt zu den Ideen von Hayek, Friedman und Buchanan; es passt nicht zu den Ideen von Walter Lippmann, Alfred Müller-Armack oder Alexander Rüstow. Aus guten Gründen äußert Reckwitz die hoffnungsvolle Erwartung, das sich in der Krise befindliche Deregulierungsparadigma müsse durch ein Regulierungsparadigma abgelöst werden, dessen Konturen noch nicht klar vernehmbar seien. Auch wenn – wie Reckwitz sagt – dieses Paradigma ungleich dem Regulierungsparadigma der Nachkriegszeit sein müsse, so lohnt sich ein genauer Blick hierauf.

Eine solche Analyse ist gut beraten, den Neoliberalismus positiv in ihre Überlegungen einzuschließen. Die Theoretiker und Praktiker des Neoliberalismus standen vor strukturell durchaus vergleichbaren Problemen wie diejenigen Intellektuellen und Politiker*innen, die sich kritisch mit der Gesellschaft der Gegenwart auseinandersetzen: eine Weltwirtschaftskrise, deren Folgen vor allem die gesellschaftlich Schwachen zu tragen hatten und nicht diejenigen, die diese Krise primär verursacht haben; ein zunehmendes Legitimitätsproblem des politischen Systems, wachsende politische und ökonomische Ungleichheit und damit auch eine zunehmende Ungleichheit der Lebenschancen verschiedener Bevölkerungsgruppen; selbst zur Problematik des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Umwelt finden sich bei Walter Lippmann umfangreiche Überlegungen. [145] Allein aus den genannten Gründen kann die Soziologie – ebenso wie andere Sozialwissenschaften – von einem undogmatischen Umgang mit dem historischen Phänomen des Neoliberalismus profitieren.

About the author

Max Trecker

Studium der Geschichte und Volkswirtschaftslehre an der LMU München und CEU Budapest; Promotion an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien München-Regensburg mit einer Arbeit über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ost und Süd im Kalten Krieg; 20172020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Zeitgeschichte München-Berlin mit einem Forschungsprojekt zur Genese des ostdeutschen Mittelstands nach 1990; seit Mai 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GWZO Leipzig: Bearbeitung einer Teilstudie zu sozialistischen Entwicklungsmodellen für den Globalen Süden im Sonderforschungsbereich 1199 „Processes of Spatialization under the Global Condition“.

Published Online: 2023-04-15
Published in Print: 2023-05-25

© 2023 Max Trecker, published by De Gruyter

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