Clara Müller (1900–1998)

Clara E. Müller
© Fraunhofer Informationszentrum Raum und Bau, Stuttgart (IRB)
Vor 25 Jahren verstarb Clara Müller. Sie gilt als eine Pionierin der Bau-Dokumentation. 1941 war sie, Anfang 40, als Mitarbeiterin in die neugegründete Baudokumentationsstelle (Prof. Otto Graf) in Stuttgart eingetreten, deren Leiterin sie von 1956 bis zu ihrer Pensionierung 1968 war. In Anwendung damals aktueller und innovativer Methoden hat sie die ursprüngliche Schrifttumsstelle in ihrer 25-jährigen Tätigkeit zu einer modernen, effizienten Informationsstelle ausgebaut. Bauliteratur aus vielen Ländern wurde beschafft und nachgewiesen – sachlich geordnet durch systematische Anwendung der Dezimalklassifikation, inhaltlich ausgewertet durch Referate. Die Vermittlungstätigkeit, auch in Form von Informationsdiensten, war in der Nachkriegszeit wegen vieler zerstörter Gebäude besonders gefragt und fand großen Anklang auch in der internationalen Bauwelt. Als Vizepräsidentin des „International Council for Building Documentation“ war sie gut vernetzt. Ihre Arbeit legte den Grundstein für die heutigen IuD-Aktivitäten des „Fraunhofer Informationszentrum Raum und Bau“ (IRB) mit seinen Datenbanken zum Planen und Bauen.
Einsatz für die Dokumentation
Ausgehend von der Stuttgarter Baudokumentation erweiterte sich Clara Müllers Blick auf bundesweites Parkett. Früh forderte sie eine zentrale Einrichtung für Dokumentation[1], die 1961 durch das Institut für Dokumentationswesen (IDW) realisiert wurde und zur Zwischenstation für die Förderung von Dokumentationseinrichtungen wurde – so wurden die staatlichen Zuschüsse für die DGD über das IDW, später die GID, abgewickelt.[2] Auch im Deutschen Normenausschuß (DNA) und der Fédération Internationale de Documentation (FID) war sie aktiv.
Ein Steckenpferd von Clara Müller war die Dezimalklassifikation – sachlicher Ordnungsstandard der damaligen Zeit. In einem Interview zu ihrem 90.Geburtstag erinnert sie an die vielschichtigen Aspekte der Dezimalklassifikation: „Ich war an vielen Stellen der Welt, ganz gleich ob in Indien oder in England. Ich konnte die Kataloge in den Bibliotheken nutzen, da ich die Dezimalklassifikation verstand. Sie diente auch als Verständigungs- und Definitionsmittel auf einer Reihe von Sitzungen, wenn die Sprachen nicht mehr ausreichten.“[3]
Seit den 1950er Jahren engagierte sich Clara Müller in der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (DGD) in Frankfurt am Main für die Nachwuchsbildung in Dokumentationsstellen, sowohl ehrenamtlich in den Gremien als auch als externe Dozentin in den Kursen des DGD-Gremiums für Nachwuchsbildung. Sie wurde aktives Mitglied im Verein Deutscher Dokumentare (VDD), der 1961 gegründet wurde und durch die Erarbeitung von Tätigkeitsmerkmalen die Entwicklung der Berufsbilder vorantrieb.
Clara Müller im Kuratorium
Innerhalb der DGD war sie Mitglied des Kuratoriums der DGD, das unter Leitung von Dr. Karl Fill die Schulungsaktivitäten von Dokumentaren einleitete, sie wurde seine Stellvertreterin und formte maßgeblich die Aus- und Fortbildungsmaßnahmen der DGD seit den 1950er Jahren mit den Halbjahreskursen seit 1956/7 und der Entwicklung der dokumentarischen Berufsbilder. Zusammen mit Fill leitete sie das Kuratorium, aus dem 1967 das Lehrinstitut für Dokumentation (LID) hervorging. Als es zur Einrichtung des LID in der DGD gekommen war, lehnte sie allerdings die Anfrage, ob sie als Direktorin zur Verfügung stände, ab. Sie stand damals kurz vor ihrem Ruhestand und zog sich aus der aktiven Arbeit zurück.[4] Ein Generationenwechsel bahnte sich an. Als stellvertretende Leiterin begleitete sie die Ausbildungsaktivitäten auch nach der Überführung des Kuratoriums 1968 in den Fachausschuss für Ausbildung, der nun das neugegründete LID unterstützte, bis dieser 1972 wiederum als Fachausschuss für Ausbildung und Fortbildung den gewachsenen Anforderungen entsprechend neu organisiert wurde. Noch 1990, in hohem Alter, verfolgte sie die Aktivitäten der DGD, so mahnte sie die Zugänglichkeit des Archivs an.
„Aufschließen von Dokumenten“
Clara Müller war eine beliebte Dozentin. Ihr Themengebiet war neben der Dezimalklassifikation das „Aufschließen von Dokumenten“. In der Programmbeschreibung für ein Seminar von 1966 hieß es:
Müller, Clara E., Leiterin der Dokumentationsstelle für Bautechnik in der Fraunhofer-Gesellschaft in Stuttgart, stellv. Vorsitzende des International Building Classification Committee (IBCC). – 7 Stuttgart N, Birkenwalderstraße 134“
„Normen, Auswahlgesichtspunkte, Erfassungstechnik. Erschließungswege, Speicherung, Redaktionelle Probleme der Schrifttumsdienste. Koordination, Aufschließen von Reportliteratur mit Hilfe descriptorischer Ordnungssysteme (Beispiele aus der Praxis großer ausländischer Dokumentationsstellen)“.[5]
In der nach Abschluss einer Schulungsveranstaltung üblichen Kritikrunde mit Verbesserungsvorschlägen für die inhaltliche und didaktische Gestaltung werden in einem Schreiben an den Seminarzuständigen Ernst Lutterbeck lobend Clara Müllers Manuskripte erwähnt: „Zum Kap. III (Manuskripte) ist noch zu sagen, daß die Teilnehmer u. a. Ihnen und Fräulein Clara Müller sehr dankbar sind für die vorbildlich erarbeiteten Manuskripte, die jedem die Möglichkeit der ganz wesentlichen eigenen „Nacharbeit“ geben!“[6]
Clara Müller wurde 1958 auf der 10. Jahresversammlung der DGD in Köln mit der „Goldenen Nadel der DGD“ gewürdigt. 1986 wurde sie zum Ehrenmitglied erklärt. In den Nachrichten für Dokumentation erschienen jeweils ehrende Beiträge. Sie war eine beeindruckende Persönlichkeit, die vielen frühen Dokumentarinnen und Dokumentaren in lebhafter Erinnerung geblieben ist.
Stuttgarter Arbeitskreis
1964 war Clara Müller mitverantwortlich für die Gründung des Stuttgarter Kreises für Dokumentation und Information, der 1986 im AKI Stuttgart aufging. Die regionalen Arbeitskreise – zeitgleich entstand der Berliner Arbeitskreis – waren integrale Bestandteile der satzungsgemäßen Aufgaben der DGD. Der AKI Stuttgart verehrt seine Gründerin und hält das Andenken mit einer Dokumentation an sie wach.[7]
„Fräulein Clara Müller“ – frühes Beispiel einer Frauenkarriere
Ihr beruflicher Nachlass umfasst eine Dokumentensammlung mit fast 50 Ordnern, den sie nach ihrer aktiven Zeit wohlgeordnet an die DGD übergab. Er enthält eine beeindruckende Sammlung zeitgenössischer Texte zur Dokumentation aus verschiedenen Branchen, bis 1912 zurückreichend – auch Ergebnis ihrer guten Vernetzung. Fremdveröffentlichungen sind häufig mit ihren Anmerkungen versehen oder mit persönlichen Bemerkungen des Autors an sie.
Mit ihren Kenntnissen und ihrer Zielstrebigkeit hat sie nicht nur den Frauen im Dokumentationsbereich ein frühes Beispiel gesetzt. Ihre verbindliche, umsichtige Art machte sie zu einer geschätzten Kollegin. Clara Müller gehörte zur ersten Generation von Frauen in der Dokumentation, die eine Führungsposition innehatte.
Der Nachlass von Clara Müller befindet sich im Historischen Archiv der DGI.[8]
Barbara Müller-Heiden
Kontakt: müller-heiden@dgi-info.de
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Editorial
- Die DGI : Mit einem Blick zurück nach vorne
- Jubiläumssymposium 75 Jahre DGD – DGI
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- Geschichte Dokumentation
- Die Entwicklung des deutschen Dokumentationswesens und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (DGD)
- Die DGD als Wegbereiterin informationswissenschaftlicher Dokumentation in Deutschland
- Dokumentarische Fortbildung und das Lehrinstitut für Dokumentation (LID)
- Aus dem Historischen Archiv
- Clara Müller (1900–1998)
- Personalie
- Erinnerung an Prof. Dr. Paul Kaegbein
- Buchbesprechung
- Informationswissenschaft – quo vadis? Grundlagen der Informationswissenschaft Rainer Kuhlen, Dirk Lewandowski, Wolfgang Semar und Christa Womser-Hacker (Hrsg.). – 7., völlig neu gefasste Ausgabe. Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2023. 46 + 958 S. – eBook, Open Access, veröffentlicht: 5. Dezember 2022, ISBN: 9783110769043, https://doi.org/10.1515/9783110769043; Gebunden ISBN 9783110768954, 220,– Euro.
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