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Schreiben in informellen Kontexten

Digitale Alltagschriftlichkeit von Jugendlichen aus soziolinguistischer Perspektive
  • Florian Busch

    Florian Busch ist Assistenzprofessor am Institut für Germanistik der Universität Bern. Seine Forschungsinteressen umfassen Interaktionale Soziolinguistik, Schriftlinguistik, linguistische Onlineforschung sowie Metapragmatik und Sprachideologieforschung.

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Published/Copyright: April 8, 2022

Zusammenfassung

Im Zuge der Digitalisierung des kommunikativen Alltags wandelt sich auch die gesellschaftliche Rolle von Schriftlichkeit. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich Schreibpraktiken entlang der zwei Modi des textorientierten Schreibens und des interaktionsorientierten Schreibens (Storrer 2018) ausdifferenzieren und weshalb sich dieser Prozess insbesondere am literalen Alltag von Jugendlichen beobachten lässt. Um zu argumentieren, dass Jugendliche je nach Schreibkontext von unterschiedlichen Schreibregistern Gebrauch machen, die auf einer metakommunikativen Bewusstheit fußen, gibt der Beitrag schließlich Einblick in die Ergebnisse einer jüngst publizierten Studie zur digitalen Alltagsschriftlichkeit von Jugendlichen.

Abstract

In the course of digitization, the social role and value of writing is changing. This article discusses how literacy practices are differentiated along the two modes of text-oriented writing and interaction-oriented writing (Storrer 2018) and why and how this process can be observed in particular in the everyday life of adolescents. Finally, in order to argue that adolescents make use of different registers of writing, which are grounded in metacommunicative awareness, depending on the communicative context the paper provides insight into the results of a recently published study on adolescents’ digital texting.

Résumé

Alors que nos communications quotidiennes sont marquées par nos pratiques numériques, le rôle social de l’écriture se voit également transformé. L’article montre comment les pratiques d’écriture se différencient selon deux modes communicatifs, l’un orienté vers le texte en tant que produit et l’autre vers l’interaction en tant que processus (Storrer 2018). En particulier, l’article éclaire en quoi ce processus de différenciation se retrouve dans les pratiques numériques d’adolescent·e·s. Afin de montrer en quoi les jeunes font usage de différents registres d’écriture selon le contexte et en quoi ces divers registres témoignent de leur compétence métalinguistique, l’article donne enfin un aperçu des résultats d’une étude récemment publiée sur l’écriture numérique quotidienne des jeunes.

Gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Schriftlichkeit

Die Digitalisierung des kommunikativen Alltags als gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozess geht mit einem Wandel der Funktionen und Erscheinungsformen von Schriftlichkeit einher. Durch die Verbreitung digitaler Medien ist die komplementäre Distribution von gesprochener und geschriebener Sprache in den verschiedenen Kontexten einer Gesellschaft direkt berührt, indem kommunikative Aktivitäten des informellen Nahbereichs, die traditionell als Bastionen der Mündlichkeit galten (vgl. Koch & Oesterreicher 2007), mehr und mehr durch geschriebene Sprache vollzogen werden. Wo in prä-digitalen Zeiten beispielsweise ein Telefonat dem abendlichen Austausch zwischen guten Freundinnen und Freunden diente, sind es heute Textnachrichten, die mittels smartphone-basierter Messenger-Apps – mitunter rund um die Uhr – verschickt werden, um Freundschaften kommunikativ zu pflegen. Damit nehmen die sozialen Anlässe schriftlicher Kommunikation nicht nur in ihrer Häufigkeit zu, sondern gesellschaftliche Literalität wird auch qualitativ von großen Teilen der Bevölkerung in einer neuen Konstellation erfahren: War Massenliteralität in prä-digitalen Zeiten vor allem noch eine Literalität des Lesens (etwa von Zeitungen, Romanen, Hinweisschildern, öffentlichen Bekanntmachungen etc.), erstarkt im digitalen Zeitalter eine Massenliteralität des privaten Schreibens (vgl. Brandt 2015). Die Teilhabe an einer literalisierten Gesellschaft erschöpft sich nicht mehr nur in rezeptiven Praktiken des Lesens, sondern bedeutet zunehmend auch die eigene Produktion geschriebener Sprache – mittels verschiedener Medien, für unterschiedliche Adressatinnen oder Adressaten und anlässlich vielfältiger kommunikativer Zwecke.

Jugendliche und ihre Schriftlichkeit

Dass sich diese Dynamik der Ausweitung und Ausdifferenzierung von Schriftlichkeit nun insbesondere in jüngeren Bevölkerungsteilen beobachten lässt, hat verschiedene Gründe. So haben zum einen digitale Medien die soziale Lebenswelt jüngerer Nutzerinnen und Nutzer besonders deutlich durchdrungen. Etwa stellte die für die deutsche Bevölkerung repräsentative ARD/ZDF-Onlinestudie jüngst fest, dass 99 Prozent der Befragten zwischen 14 und 29 Jahren regelmäßig smartphone-basierte Messenger-Apps (und hierbei insbesondere WhatsApp) nutzen – während dies in der Altersgruppe von 30 bis 49 immerhin noch 94 Prozent angeben, von 50 bis 69 noch 79 Prozent und ab einem Alter von 70 Jahren nur noch 54 Prozent (ARD/ZDF-Onlinestudie 2021: 33). Wenngleich sich an diesen Zahlen also vor allem auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen abzeichnet, werden Jugendliche und junge Erwachsene doch als besonders affine Nutzerinnen und Nutzer digitaler Medien deutlich. Der Stellenwert, den digitale Kommunikationsmedien im Gefüge der sozialen Lebenswelt der meisten Jugendlichen einnehmen, ist dabei kaum zu überschätzen.

Zum anderen lässt sich anhand der Mediennutzung junger Menschen besonders deutlich die sozio-situative Ausdifferenzierung von Schriftlichkeit beobachten, weil sie in der Regel vor der Vergleichsfolie des Schreibens in institutionellen Bildungskontexten stattfindet. Anders als in den erwachsenen Altersgruppen, deren Umgang mit Schrift je nach eingeschlagenem Berufsweg sehr unterschiedlich ausfällt, beinhaltet der Alltag von Jugendlichen die vergleichsweise homogen verteilte Anforderung, regelmäßig Texte in den Kontexten der Schule zu verfassen. Diese schulische Schriftlichkeit steht im Dienst bildungssprachlicher Praktiken, mit Morek & Heller (2012: 92) gefasst als die „sprachlich-kommunikativen Verfahren der Wissenskonstruktion und -vermittlung“ – hat also spezifische kommunikative Funktionen, die wiederum eine spezifische sprachliche Strukturierung erfordern (vgl. hierzu auch Feilke 2016). So haben schulische Schreibpraktiken die Produktion von Texten zum Ziel, die einen kontext-überdauernden Kommunikationsprozess ermöglichen. Die Wissensinhalte, die in einem solchen „textorientierten Schreiben“ (Storrer 2018: 227) fixiert werden, sollen „über den laufenden Kommunikationszusammenhang hinausgehend“ (ebd.) rekonstruierbar und verstehbar sein. Um dies zu gewährleisten, umfasst textorientiertes Schreiben den Gebrauch verschiedener sprachlicher Mittel: Hypotaktische Satzkonstruktionen und komplexe Nominalgruppen dienen etwa der Verdichtung und dem Explizieren von Information im Text, damit Geschriebenes auch mit wenig kontextuellem Vorwissen zu erschließen ist. Vor allem aber ist es auch die strikte Orientierung am Standard der kodifizierten Rechtschreibnorm, die Variation von Wortschreibungen minimiert und damit ein eindeutiges, überregionales und andauerndes Verständnis innerhalb der Sprachgemeinschaft sichert.

Vom textorientierten zum interaktionsorientierten Schreiben

War eine solche bildungssprachliche Literalität bzw. der Erwerbsprozess ebendieser lange Zeit der Dreh- und Angelpunkt jugendlicher Alltagsschriftlichkeit, steht dem nun zunehmend ein smartphone-basiertes, informelles Schreiben mit Freundinnen und Freunden gegenüber. Im Mosaik alltäglicher Schreibpraktiken eines Individuums formiert sich also ein zweiter Schwerpunkt mit gänzlich anderen kontextuellen Eigenschaften – hier geht es weniger um die kontext-überdauernde Fixierung von Wissen in einem Text als vielmehr um den kontextsituierten, interaktiven Austausch im Chat. An die Seite des textorientierten Schreibens der Schule tritt so ein „interaktionsorientiertes Schreiben“ (Storrer 2018) der Freizeit, dessen kommunikatives Ziel vor allem die interaktive Aufrechterhaltung und Bearbeitung sozialer Beziehungen ist. Kennzeichnend hierbei ist der beständige Wechsel zwischen den Beteiligungsrollen: Wer gerade noch eine Nachricht geschrieben und verschickt hat, ist kurz darauf im Empfangsmodus, nur um anschließend erneut in die schreibende Rolle zu schlüpfen. Interaktionsorientiertes Schreiben entfaltet sich in diesem Sinne als ein sequenzielles Wechselspiel.

Entsprechend sind auch die sprachlichen Strukturen, die zu diesem Zweck mobilisiert werden, andere als im textorientierten Schreiben: Etwa weisen Textnachrichten tendenziell einen parataktischen, häufig auch elliptischen Satzbau auf, der den Lesenden aufgrund seiner Verankerung im unmittelbaren situativen Kontext der Interaktion erschließbar ist. Partikeln und Interjektionen, die traditionell als Formen des mündlichen Sprachgebrauchs galten, sind nun auch Mittel des Geschriebenen, um einander Haltungen und Einstellungen zu Geäußertem anzuzeigen und so die gemeinsame Bearbeitung eines Themas zu koordinieren. Und schließlich ist auch der Stellenwert, der der orthographischen Norm bezüglich Wortschreibungen und Interpunktion beigemessen wird, im interaktionsorientierten Schreiben vielfach ein anderer als im textorientierten Schreiben. Nicht die Vereinheitlichung von Wortschreibungen, sondern gerade ihre Varianz zeigt sich hier als Ressource, um Textnachrichten mit kommunikativer und sozialer Bedeutung anzureichern. So werden etwa Buchstaben redupliziert (schööööööön) oder Wörter in durchgängige Majuskeln gesetzt (ENDLICH), um emphatische Markierungen zu produzieren. Teils werden Buchstaben ausgelassen, um typische Phänomene der mündlichen Sprache zu emulieren (ich hab ne Stunde gewartet) und statt einer Großschreibung von Substantiven ist häufig eine konstante Kleinschreibung zu beobachten (treffen wir uns beim bäcker?), die den Schreibvorgang und damit auch den Interaktionsprozess beschleunigt.

Textorientiertes und interaktionsorientiertes Schreiben unterscheiden sich also mitunter massiv auf einer solchen sprachstrukturellen Ebene. Dass beide Schreibmodi für Jugendliche eine hohe Alltagsrelevanz aufweisen, hat daher in der Vergangenheit immer wieder medienpessimistische Diskurse entfacht, die einen negativen Einfluss digitaler Schreibmedien auf die schulische Schriftlichkeit von Schülerinnen und Schülern befürchteten. Zwar konnten linguistische Untersuchungen nachweisen, dass solche negativen Interferenzen mitnichten vorliegen (für das Deutsche ist etwa die Studie von Dürscheid, Wagner & Brommer 2010 einschlägig) – dennoch wird das digitale Schreiben von Jugendlichen immer wieder nicht nur als defizitär, sondern auch als problematisch für die Standardschriftlichkeit der Schule konzeptualisiert. Hierfür scheint einerseits ein fehlendes Verständnis verantwortlich zu sein, dass auch Schreibungen des interaktionsorientierten Schreibens funktional sind, also zielgerichtet dem Gelingen von Kommunikation unter bestimmten kontextuellen Bedingungen dienen. Andererseits lagen bislang nur wenige linguistische Erkenntnisse darüber vor, anhand welcher kontextuellen Dimensionen Jugendliche selbst die Angemessenheit von Schreibungen wahrnehmen und bewerten – ob und in welcher Weise Jugendliche ihre Alltagsschriftlichkeit als Nebeneinander von verschiedenen Schreibregistern differenzieren und organisieren.

Neue empirische Ergebnisse zu Schreibregistern

Beiden Aspekten widmet sich eine jüngst publizierte Studie aus einer soziolinguistischen Perspektive (Busch 2021). Anhand empirischer Daten rekonstruiert die Untersuchung, wie norddeutsche Jugendliche im Alter zwischen 12 und 19 Jahren ihren Schriftgebrauch kontextsensitiv anpassen – also je nach Schreibsituation ein bestimmtes Schreibregister ziehen, um sozial angemessen zu kommunizieren. Die Studie vollzieht einerseits nach, wie in den verschiedenen Schreibkontexten jeweils unterschiedliche Sprachstrukturen realisiert werden, und andererseits, wie die untersuchten Jugendlichen diesen Wechsel zwischen den Schreibregistern bewusst reflektieren und metasprachlich steuern. Damit zeigt sie für die Gruppe der untersuchten Jugendlichen, dass keinesfalls ein Verschwimmen zwischen den Modi des textorientierten und des interaktionsorientierten Schreibens zu befürchten ist. Deutlich wird stattdessen, dass die Ausdifferenzierung von Schreibanlässen im sozialen Alltag der untersuchten Individuen mit einer Ausdifferenzierung der metakommunikativen Reflexionen einhergeht – das eigene alltägliche Schreiben also bewusster in seiner Relation zu kontextuellen Faktoren wie der genutzten Medientechnologie, den anvisierten adressierten Personen und den intendierten kommunikativen Zwecken wahrgenommen wird.

Um diesen Dynamiken auf die Spur zu kommen, wurden Textportfolios von 23 Jugendlichen erhoben, die jeweils sowohl Schultexte als auch WhatsApp-Chats enthalten, um so den intraindividuellen Vergleich von Schreibregistern zu ermöglichen. Insgesamt bestehen die Textportfolios aus 77 Schultexten (mit ca. 23.000 Wörtern) und ca. 19.000 WhatsApp-Nachrichten (mit ca. 152.000 Wörtern). Diese Textsammlung wurde nach linguistischen Kriterien mit ca. 61.500 Codierungen angereichert, um systematisch nachzuvollziehen, wie der Gebrauch von Schriftzeichen (Buchstaben, Interpunktionszeichen sowie auch Emoticons und Emojis) zwischen den Schreibkontexten variiert. Dieses Vorgehen offenbart einerseits die rein distributiv-quantitativen Unterschiede von Formen zwischen den Schreibregistern, ermöglicht aber vor allem auch die detaillierte qualitative Analyse dieser Schreibformen im kommunikativen Prozess. So konnte etwa ermittelt werden, dass auch Schreibungen, die nur sehr selten für einen Schreibkontext belegt sind, dort doch eine sehr spezifische kommunikative Funktion erfüllen können (die sich mitunter gerade aus der Seltenheit und damit gesteigerten kommunikativen Auffälligkeit einer Form ergibt).

Beispielsweise zeigt sich der Satzpunkt <.> als das mit Abstand häufigste Interpunktionszeichen des schulischen Schreibens (auf 1.000 Wörter fallen 72,1 Punkte), während dieselbe Form in den WhatsApp-Chats nur marginal belegt ist (auf 1.000 Wörter nur 3,7 Punkte). Im inter­aktions­orientierten Schreiben der Jugendlichen kann geradezu eine Norm zur Auslassung von Punkten beobachtet werden – insbesondere am Ende von WhatsApp-Nachrichten bleiben die Sätze in der Regel entweder ganz ohne abschließende Zeichensetzung oder werden durch andere Interpunktionszeichen, etwa das Ausrufezeichen, besonders häufig aber durch Emojis abgeschlossen. Bemerkenswert ist nun, dass sich die wenigen Punkte, die sich trotz dieser Gebrauchstendenz an den Enden von WhatsApp-Nachrichten finden lassen, als mehr als bloße kommunikativ neutrale Gliederungssignale herausstellen: Sie signalisieren die emotionale Verstimmtheit der Schreibenden. Ob eine Nachricht „Lass uns später telefonieren J“ oder „Lass uns später telefonieren.“ lautet, macht für den Fortgang der Interaktion einen wesentlichen Unterschied. Der Punkt – der im schulischen Schreiben der untersuchten Personen nicht unauffälliger sein könnte – kann im WhatsApp-Schreiben derselben Individuen als salientes schreibstilistisches Mittel analysiert werden, das emotionale Distanz und Unwillen zum weiteren kommunikativen Austausch signalisiert und dementsprechend von den jeweiligen Kommunikationspartnerinnen und -partnern behandelt wird (vgl. hierzu auch Androutsopoulos & Busch 2021).

An Beispielen wie diesen kann die Studie aufzeigen, dass man dem Schreiben in informellen Kontexten nicht gerecht wird, es in einer defizit-orientierten Perspektive als bloße Abweichung vom Standardschreiben zu analysieren. Stattdessen wird deutlich, wie die Jugendlichen stilistische Schreibvariation je nach Kontext funktional einsetzen, um kommunikativ erfolgreich zu handeln. Schrift kommt im beobachteten Alltag der Jugendlichen der Status eines variablen Werkzeugs zu, mit dem soziale Beziehungen definiert und organisiert werden.

Schreibregister in der metakommunikativen Reflexion

Mit 16 der Jugendlichen aus der Gruppe der Textportfoliospenderinnen und -spender wurden darüber hinaus sieben Gruppeninterviews geführt (insgesamt ca. 7,5 Stunden Gesprächsaufnahmen). In den Interviews reflektierten diese ihre Schreibgewohnheiten und die Variation von Schreibungen in der Schule und in digitalen Medien. Die Interviews zeigen ein hohes Maß an metasprachlicher Reflexionskompetenz. Variation von Schreibungen hat in der Bewusstheit der Probandinnen und Probanden einen Status als alltagsrelevantes Phänomen, das ständig sozial und kommunikativ interpretiert wird. Die Grenzen zwischen verschiedenen Schreibregistern sind den interviewten Personen daher auch sehr bewusst. Schreibregister zeigen sich also als metakommunikativ ausdifferenziert. Während grundsätzlich zunächst zwischen dem „Scheiben in der Schule“ und dem „Schreiben in der Freizeit“ unterschieden wird, wird gerade das freizeitliche Schreiben auf einer zweiten Ebene als sozial untergliedert wahrgenommen. Dabei spielen verschiedene Dimensionen eine Rolle: Auch im digitalen Schreiben werden Schreibungen vornehmlich daran angepasst, mit wem man schreibt, in welchem Medium man schreibt, zu welchem kommunikativen Anlass man schreibt und welche individuelle Einstellung man zu standardsprachlichen Normen anzeigen möchte.

Letzterer Punkt mag angesichts der kulturpessimistischen Diskurse, die das freizeitliche Schreiben von Jugendlichen immer wieder als Gegenpol zum normgerechten Schreiben der Schule konstruieren, überraschen. Für die Gruppe der untersuchten Personen zeigt sich allerdings deutlich, dass Rechtschreibung auch im digitalen Schreiben unter jugendlichen Freundinnen und Freunden ein hohes soziales Prestige besitzt. Zwar ist die Toleranz gegen Normverstöße im digitalen Schreiben relativ groß (erkennbare Tippfehler stören also wenig), allen befragten Personen ist jedoch auch in der digitalen Kommunikation wichtig, nicht als inkompetente Schreiberinnen und Schreiber wahrgenommen zu werden. Damit ergibt sich, dass die Variationsbreite im digitalen Schreiben zwar höher als in der Schule ist, aber dennoch an normative Grenzen stößt. Beispielsweise sind durchgängige Kleinschreibungen von Substantiven und die Auslassung von Kommata üblich – der unorthographische (Nicht-)Gebrauch von Dehnungs- und Schärfungsschreibungen (zum Beispiel nähmlich oder willst du mitkomen?) oder auch verschriftete Auslautverhärtungen (ich hap statt ich hab) bleiben aber auch im digitalen Schreiben sozial sanktioniert und werden als „peinlich“ empfunden. Gerade deswegen ist den Probandinnen und Probanden wichtig, dass ihre Schreibungen als intentional erkannt werden können. Typische digitale Schreibpraktiken, wie die Wiederholung von Buchstaben (zum Beispiel heeeeeeey statt hey) gewinnen ihre kommunikative Funktion gerade daraus, dass sie als intentionale Schreibvarianten und eben nicht als „Fehler“ erkennbar sind.

Fazit

Der linguistische Blick auf Schreibpraktiken in unterschiedlichen Medien und die jeweiligen metakommunikativen Reflexionen, die diese Schreibpraktiken im kommunikativen Alltag organisieren, deckt also ein differenziertes Bild auf: Holzschnittartige Vorstellungen, die ein normgerechtes Standardschreiben einem defizitären Schreiben in digitalen Medien gegenüberstellen, werden der kommunikativen Praxis von Menschen in einer digitalisierten Gesellschaft nicht gerecht. Technologien des interaktionsorientierten Schreibens weisen mittlerweile eine so hohe gesellschaftliche Durchdringung auf, dass Nutzerinnen und Nutzer dementsprechend nicht die eine „Internetsprache“, sondern eine Vielzahl funktionaler und kontextuell angepasster Schreibregister heranziehen, um ihre kommunikativen Aufgaben zu bewältigen. Je nach Medienplattform, adressierter Gruppe und kommunikativer Handlung gelten ihnen hierfür unterschiedliche Angemessenheitsnormen, die dann eben durchaus auch einen hohen Geltungsanspruch orthographischer Normen beinhalten können. Dies gilt auch und besonders für schreibende Jugendliche, deren Alltag einerseits durch die normativen Anforderungen der Schule ohnehin die ständige kritische Reflexion der eigenen Schriftlichkeit beinhaltet und andererseits in besonderer Weise durch digitale Medien sozial konstituiert ist.

Über den Autor / die Autorin

Prof. Dr. Florian Busch

Florian Busch ist Assistenzprofessor am Institut für Germanistik der Universität Bern. Seine Forschungsinteressen umfassen Interaktionale Soziolinguistik, Schriftlinguistik, linguistische Onlineforschung sowie Metapragmatik und Sprachideologieforschung.

Literatur

Androutsopoulous, Jannis; Busch, Florian (2021): Digital punctuation as an interactional resource. The message-final period among German adolescents. Linguistics & Education 62. DOI: 10.1016/j.linged.2020.100871.10.1016/j.linged.2020.100871Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2022-04-08
Erschienen im Druck: 2022-04-06

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/iwp-2022-2213/html?lang=en
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