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KI in der Schule: Digitale Lehrkonzepte und Anwendungsbeispiele für den Fremdsprachenunterricht

  • Olivetta Gentilin

    Dr. Olivetta Gentilin studierte an der Universität „CaFoscari“ in Venedig Fremdsprachen (Deutsch, Englisch) und Literaturwissenschaften auf Magister. Nach dem Saatsexamen für die Lehrbefähigung im Sekundärbereich der italienischen Schule nahm sie erneut ein Studium in Technologie und Methodologie der Online-Bildung an der Universität „Università degli Studi di Verona“ auf und wurde an den Universitäten zu Verona und der TU Darmstadt im Fach Germanistik promoviert. Seit 1987 hat sie eine feste Anstellung als Deutschlehrerin, derzeit am Gymnasium „Liceo St. Antonio Pigafetta“ in Vicenza. Dazu leitete sie Fortbildungskurse bei der SSIS (Hochschule für Lehrer Ausbildung) in Venedig.

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Published/Copyright: January 14, 2020
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Zusammenfassung

In diesem Beitrag geht es um eine Methode zum Verständnis literarischer Texte mit Hilfe von maschinell erstellten Analysemodellen. Der Beitrag beschreibt die Methode und reflektiert darüber. Ausgehend von den Ausführungen Morettis wird zunächst die Frage nach alternativen Lesetechniken beantwortet. Mit dem Begriff Distant Reading beschreibt Franco Moretti eine neue Form des Textwissens, wobei das Abstandnehmen vom Text durch den Einsatz digitaler Mittel die Entdeckung von Formen und Modellen ermöglicht und somit zu konkreten Ergebnissen für den Interpreten führt. Im zweiten Teil werden konkrete Beispiele aus der Unterrichtspraxis gezeigt. Schülerinnen und Schüler analysieren das erste Kapitel des Romans Effi Briest und erarbeiten die Fragestellung mithilfe von Voyant Tools. Es handelt sich dabei nicht um digitale Werkzeuge, die rein mechanische Eingaben verlangen, sondern um Instrumente, die Text- und Spracherschließungen unterstützen und durch Häufigkeitsdiagramme Muster erkennen lassen.

Abstract

This essay will outline a method for the understanding of literary texts with the help of machine-generated analysis models. It also supplies some reflections upon said method. Firstly, it explores alternative reading techniques. With “Distant Reading” Franco Moretti has developed a technique for novel analysis by using digital tools. Computers can measure parameters such as sentence length, structure, and lexicon, and to give patterns of textual data to analyse, enabling the interpreter to reach concrete results. Secondly, examples from teaching practices show, how this method can be used in the classroom. Students have analysed the novel Effi Briest and have completed a questionnaire using the web-based reading environment “Voyant Tools”. This instrument builds a support for the text exploitation and reveal patterns through diagrams or other visual elements, rather than provides digital tools that demand purely mechanical tasks.

Résumé

Cet article décrit une méthode de compréhension de textes littéraires à l’aide de modèles d’analysegénérés par machine et ivre également quelques réflexions sur cette méthode. En se basant sur lesexplications de Moretti, l’auteur répond d’abord à la question des techniques alternatives de lecture.Franco Moretti utilise le terme Distant Reading (lecture à distance) pour décrire une nouvelle formed’analyse de texte, dans laquelle l’éloignement du texte par l’utilisation de moyens numériquespermet la découverte de formes et de modèles et conduit ainsi à des résultats herméneutiquesconcrets. La deuxième partie présente des exemples concrets de la pratique pédagogique. Desétudiants analysent le premier chapitre du roman Effi Briest et répondent à des questions à l’aide deVoyant Tools. Il ne s’agit pas d’outils numériques qui nécessitent une saisie purement mécanique, mais d’instruments qui facilitent la compréhension du texte et de la langue et permettent d’identifierdes modèles à l’aide de diagrammes de fréquence.

Einleitung

Um Künstliche Intelligenz allgemeingültig definieren zu können, seien zuerst die Begriffe „künstlich“ und „Intelligenz“ betrachtet, deren Definitionen sich ebenso als problematisch erweisen, weil es unterschiedliche Beschreibungen dafür gibt.[1] Vereinfachend gesagt, bezeichnet man mit „Künstlicher Intelligenz“ Technologien, die eingesetzt werden, um Computer Probleme bearbeiten zu lassen.[2] Der Terminus erklärt sich daraus, dass es sich dabei um Probleme handelt, die in den Anfängen der Informatik nicht von Computern bearbeitet werden konnten, sondern Menschen vorbehalten waren. In diesem Sinne geht es in diesem Beitrag um eine Methode zum Verständnis literarischer Texte mit Hilfe von maschinell erstellten Analysemodellen. Der Beitrag beschreibt die Methode und reflektiert darüber. Im Vordergrund stehen folgende Fragen:

  1. Welche Lesetechniken bzw. welche neuen Formen der Textbeobachtung werden durch das Einsetzen von KI-Technologien, wie z. B. computergestützte Textanalyse, gefordert und gefördert?

  2. Zu welchen Ergebnissen für die Textanalyse kann die beschriebene Methode führen?

Das Thema wird hier aus der Sicht der Literaturwissenschaft und der Lehr-Lernforschung diskutiert. Ausgangspunkt der Diskussion ist die Beobachtung in der Praxis.

Künstliche Intelligenz durchdringt jeden Bereich unseres Alltags und ist deswegen zur gesellschaftlichen Herausforderung geworden. Auch die Bildungsinstitutionen können sich dieser Herausforderung nicht mehr entziehen, sondern leiten daraus bildungspolitische Konzepte ab. Vom Europarat wird digitale Kompetenz als „key competence[3] betrachtet, die jeder europäische Bürger erlangen sollte, um in der Gesellschaft erfolgreich zu sein. Parallel dazu wachsen in den Bildungs- und Forschungsinstituten Initiativen zur Förderung von MINT-Fächern. Dies hat gleichzeitig zur Folge, dass das Interesse an Geisteswissenschaften schwindet, wie aus statistischen Daten hervorgeht. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2018 gaben 39 Prozent der deutschen Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren an, täglich oder mehrmals in der Woche ein Buch zu lesen.[4] Dagegen behaupteten 97 Prozent der befragten Jugendlichen täglich oder mehrmals pro Woche ein Smartphone oder das Internet zu nutzen.[5] Die Grafik in Abbildung 1 zeigt das allmähliche Absinken der Leserquote in der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren.[6]

Abbildung 1 „Anzahl der Personen in Deutschland, die Bücher lesen“ laut statista.de.
Abbildung 1

„Anzahl der Personen in Deutschland, die Bücher lesen“ laut statista.de.

Mit dem schwindenden Interesse an Literatur verliert die Künstliche Intelligenz aber einen essenziellen Aspekt, denn zur Bildung gehört auch das Verständnis kultureller und sozialer Zusammenhänge. Digitale Ansätze für die Behandlung von Texten können dabei helfen, weitere Zugänge zu technologischen Fertigkeiten einerseits und zur Literaturwissenschaft andererseits zu schaffen und so den Abstand zwischen beiden Feldern zu reduzieren.

Meine Ausführungen lehnen sich theoretisch an den Literaturwissenschaftler Franco Moretti[7] an. In seinen Werken zeigt Moretti, dass literarische Texte digital gelesen werden können und dass diese Form des Lesens zu konkreten Ergebnissen für den Interpreten führen kann. Im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags werde ich konsequent fragen, ob die von Moretti vorgeschlagene Methode erfolgreich in der didaktischen Praxis angewendet werden kann.

Theoretische Begriffe: Distant Reading, Close Reading, Scalable Reading

Natur- und Sozialwissenschaftler basieren ihre Forschung auf Fakten und auf quantitativen Daten. Franco Morettiuntersucht deren Methode, überträgt sie auf die Literaturwissenschaft und eröffnet damit neue Wege zur Betrachtung der Literatur. Er nennt dieses Verfahren Distant Reading:

„Distant Reading“, ein Lesen aus der Entfernung, wobei die Entfernung, das sei hier wiederholt, eine Bedingung der Erkenntnis ist: Sie gestattet es, Einheiten in den Blick zu nehmen, die sehr viel kleiner oder auch sehr viel größer sind als der Text: Kunstgriffe, Themen, Tropen – oder Gattungen und Systeme. Und falls einmal der Text selbst zwischen dem sehr Kleinen und dem sehr Großen verschwinden sollte, dann ist das einer der Fälle, in denen man mit Berechtigung sagen kann, dass weniger mehr ist.[8]

Das Zitat lässt sich besser erklären, wenn wir Distant Reading mit Close Reading vergleichen. Close Reading ist ein intensiviertes Lesen, das sich auf Einzeltexte beschränkt. Durch das Distant Reading werden hingegen größere Textmengen quantitativ analysiert, ohne dass ein detailliertes Lesen einzelner Texte vorausgesetzt wird. Um es mit den Worten Morettis zu sagen, werden die Texte nach Indizien durchkämmt: „Man bestimmt ein eigenständiges formales Merkmal und folgt dessen Metamorphosen in einer ganzen Reihe von Texten“.[9] Auf diese Weise werden Umrisse, Strukturen, Beziehungen und Abhängigkeiten unter den beobachteten Elementen ersichtlich und mit Diagrammen grafisch visualisiert.[10] Im Verlauf seiner Studie Kurven, Karten und Stammbäume liefert Moretti methodische und operative Anweisungen, die seine Methode besser illustrieren:

  1. eine konkrete und gezielte Fragestellung, die darauf abzielt, Kriterien für das Sammeln von Daten festzulegen

  2. Vielfalt der Forschungsquellen

  3. Vielfältigkeit der Methoden von der quantitativen Beobachtung bis hin zum morphologischen Denken.

Diese methodischen Aspekte sollen schrittweise erklärt werden:

  1. Eine konkrete und gezielte Fragestellung: Moretti schlägt durch computergestützte Analysen einen quantitativen Zugriff auf die Literatur vor. Wenn es aber darum geht, Daten einzusammeln und Grundeinheiten zu beschreiben, muss die Literaturforschung klar vor Augen haben, welche Daten sie untersuchen möchte, sowie die Informationsquelle, mit der sie ihr Verfahren begründen kann.[11]

  2. Vielfalt der Forschungsquellen: Moretti baut seine Recherche auf mehreren Studien auf, um die Zuverlässigkeit der gesammelten Daten sicherzustellen. Daten können mit anderen geteilt und auf verschiedene Weise kombiniert werden. In diesem Sinne definiert er die quantitative Arbeit als „Kooperation“.[12]

  3. Vielfältigkeit der Methoden: Eine erfolgreiche Methode kann sich nicht ausschließlich auf quantitative Beobachtung beschränken, der Interpret soll auch in der Lage sein, andere Werkzeuge zu benutzen, die es ihm ermöglichen, eine formale Analyse durchzuführen: „Die quantitative Herangehensweise fördert also die Probleme ans Tageslicht, der Weg über die Form führt zu ihrer Lösung“.[13]

Was Moretti mit dieser Aussage meint, soll im Folgenden exemplifiziert werden. Als Moretti die Verbreitung amerikanischer Filme in den Jahren 1986 bis 1995 untersuchte, stellte er fest, dass die Komödie zu dieser Zeit ein sehr verbreitetes Genre in den USA war, sie wurde aber am wenigsten exportiert. Die vergleichende Sprachanalyse mit den Übersetzungen ins Japanische, Ägyptische und Spanische trug zur Aufklärung bei, indem gezeigt werden konnte, dass der Witz der Ausdrücke, die den Stil einer Komödie prägen, in der Übersetzung verloren geht.[14] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die quantitative Beobachtung Fragen anregt, die mithilfe der Sprachanalyse beantwortet werden können. Ein weiteres methodisches Beispiel für die Verbindung von quantitativem Zugriff und formaler Analyse liefern Morettis Überlegungen zu 7.000 Titeln britischer Romane aus den Jahren 1740 bis 1850. Anhand zweier verschiedener Diagramme vergleicht Moretti die Verbreitung der Romane auf dem Buchmarkt mit der Länge der Titel. Der Vergleich ergab, dass die Größe des Marktes umgekehrt proportional zur Titellänge der Romane ist und dass der Markt als entscheidender Faktor für die Verkürzung der Titel betrachtet werden kann. Je mehr Romane auf dem Markt erscheinen, desto enger wird der Raum, in dem sie sichtbar werden. Ein Titel soll prägnant und auffällig sein, damit sich der neue Roman schnell eine Marktnische verschaffen kann. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Funktion der einzelnen Wörter im Titel: Wie können wenige Wörter stellvertretend für einen Roman stehen? Zur Beantwortung dieser Frage arbeitete Moretti mit einer Methode, die die Titelwörter einer genaueren Analyse unterzieht und nach ihrer grammatikalischen Funktion definiert. Er teilt die am häufigsten wiederkehrenden Titel in drei Hauptgruppen ein: 1. Eigennamen ohne Artikel; 2. Die Kombination von Artikel und Substantiv sowie die von Artikel, Adjektiv und Substantiv; 3. Abstrakte Begriffe.[15] Diese Kategorisierung führt zu neuen Erkenntnissen über die Konstruktion und über den Sinn der Romangeschichte. Zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen, nämlich die von Romantiteln mit Eigennamen und mit der Kombination Artikel plus Substantiv. Die Datensammlung und ihre Auswertung bezeugen, dass in der Jahrhundertwende einer von sieben Romantiteln ein weiblicher Eigenname ist. Von 1796 bis 1800 handelt es sich vorwiegend um den Vornamen einer Frau, der gleichzeitig auf die Heldin des Romans und auf die Tatsache hindeutet, dass sie keinen Ehepartner hatte. In den späteren Jahren erhielt die Heldin neben dem Vornamen auch den Nachnamen. Auf Basis dieser Beobachtung ist laut Moretti nachweisbar, dass die Unterschiede im Gebrauch des Eigennamens die soziale Veränderung in der Gendergeschichte widerspiegeln. Während im Roman des 18. Jahrhunderts die Frau lediglich als Hauptfigur einer Liebesgeschichte galt, wurde ihr in dem Bildungs- und Industrieroman des früheren 19. Jahrhunderts eine Rolle im öffentlichen Leben zugestanden, daher wurden Romane mit Überschriften wie Jane Eyre oder Mary Burton veröffentlicht.[16] Das zweite Beispiel zeigt, inwiefern die quantitative Stilanalyse zur Klärung gesellschaftlicher Verhältnisse, die im Roman geschildert werden, beitragen kann. Dies zeigt Moretti am Vergleich des antijakobinischen Romans (1790–1815) mit der hundert Jahre später erschienenen Gattung der Neuen Frau. In diesem Fall funktioniert die aus der Datenbeobachtung entnommene Regel nicht. Solche Fälle sind für die Literaturwissenschaft am interessantesten, denn sie werfen weitere Fragen auf: Warum gilt die Feststellung, dass kurze Titel häufiger mit dem bestimmten Artikel vorkommen, für den antijakobinischen Roman aber nicht für die Romane der Neuen Frau, in denen die Häufigkeit des unbestimmten Artikels als Titelwort auffällt? Moretti erklärt den Unterschied zwischen beiden Titeln, indem er sich auf den Gebrauch des Artikels bezieht. Der bestimmte Artikel weist auf ein Substantiv hin, das uns schon bekannt ist. Als Beispiel erwähnt Moretti die antijakobinischen Romane The Banished Man, The Parisian, The Democrat. Diese Kombination einer Personenbezeichnung mit dem bestimmten Artikel macht den historischen Leser auf die ihm bekannten Menschentypen aufmerksam und warnt vor ihnen. Der unbestimmte Artikel verweist dagegen auf das Unbekannte. Romane, die einen solchen Titel haben, wie z. B. A Hard Woman, A Daughter of Today, stellen den Leser vor neue Herausforderungen. Dies erklärt Moretti wie folgt: „Wir denken, wir wissen, was Ehefrauen und Töchter sind, aber tatsächlich wissen wir es nicht und müssen sie ganz neu verstehen.“[17] Titel mit unbestimmten Artikeln vor weiblichen Personenbezeichnungen kündigen eine Veränderung der Rolle der Frau an. Der Leser wird somit mit folgenden Fragen konfrontiert: Wer ist diese Frau? Warum ist sie so, wie es im Titel angegeben wird? Was meinen die anderen Personen?

Die bisher beschriebenen Beispiele haben gezeigt, dass Moretti die Technik des Distant Reading mit anderen Interpretationstechniken zu verbinden versucht. In diesem Sinne ist auch die Definition „Quantitativer Formalismus“[18] zu deuten, die er für seine Methode verwendet. Gleichzeitig verweist er mit diesem Versuch auf die Grenze seiner Methode. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau argumentiert er kritisch: „Distant Reading liefert Material für die Analyse. Distant Reading ist eine Technik, die es mir erlaubt, auf neue Fragen zu stoßen. Es ist keine Interpretationstechnik.“[19] Die Frage, wie sich das intensive Lesen einzelner Texte mit der Analyse von größeren Textmengen gewinnbringend kombinieren lässt, spielt nicht nur eine zentrale Rolle in den Forschungstheorien, sondern gehört zur alltäglichen Praxis der Geisteswissenschaften. Die eine Lesetechnik schließt die andere nicht aus. Der von dem Altphilologen Martin Mueller geprägte Begriff des Scalable Reading versucht dies konzeptuell zu erklären. Er definiert Scalable Reading als gelungene Kombination zwischen Close und Distant Reading:

Scalable reading, then, does not promise the transcendence of reading, – close or otherwise — by bigger or better things. Rather it draws attention to the fact that texts in digital form enable new and powerful ways of shuttling between ‘text’ and ‘context’. Who could complain about tools that let you rapidly expand or contract your angle of vision?[20]

Zur Erklärung seiner Definition bezieht er sich auf die App Google Earth. Mit Google Earth können Dinge vergrößert und verkleinert werden. So zeigen sie verschiedene Eigenschaften auf, wenn man sie aus verschiedenen Entfernungen betrachtet. Wichtige Elemente einer in die App eingegebenen Ortschaft werden nur sichtbar, wenn man sie herauszoomt, auch wenn dann weniger Details zu sehen sind.[21]

Um die Diskussion über den Begriff Distant Reading abzurunden, soll abschließend auf die Vorteile der Methode hingewiesen werden. Erstens gibt Moretti in seinen Ausführungen operative Anweisungen, die konkret anwendbar sind, z. B.: Man nimmt eine Einheit, man beobachtet die Häufigkeit ihres Auftretens und man verfolgt die Transformationen in einem einzelnen oder in mehreren Texten. Man könnte Spaziergänge und Reiseziele einer Hauptfigur auflisten und sie in einen geografischen Raum platzieren, wie Moretti suggeriert.[22] Digitale Werkzeuge visualisieren die Ergebnisse der so gesammelten Daten in Karten-Diagrammen und helfen dabei, die Eigenschaften des Ortes, in dem die Romangeschichte spielt, herauszufinden und zu beschreiben.[23] Man könnte ebenso ein technisches Erzählmittel oder ein sprachliches Element wie z. B. ein Wort, einen Eigennamen, den Artikel oder ein Adjektiv unter die Lupe nehmen, um Frequenzen oder Beziehungen zu anderen Elementen im Text durch Diagramme zu veranschaulichen. Die Modellierung von Strukturen und Sinnzusammenhängen bietet einen zweiten weiteren Vorteil der von Moretti angewendeten Methode. Grafische Darstellungen sind „intuitiv verständlich“[24] und erleichtern die Erfassung des Forschungsobjekts. Sie funktionieren wie „eine kognitive Metapher.“[25] Kognitive Metaphern sind laut Lakoff und Johnson Metaphern, die auf unserer Erfahrung basieren und zur Konstruktion unseres Wissens beitragen. Wir benutzen sie in der alltäglichen Sprache, ohne uns dessen bewusst zu sein.[26] In diesem Sinne können Visualisierungen als Gehirnkonstruktionen betrachtet werden, die uns dabei helfen, die Realität zu interpretieren. Der dritte Vorteil besteht darin, dass sich die so erstellten Modelle aus unterschiedlichen Perspektiven erklären lassen. In der didaktischen Praxis können die Schülerinnen und Schüler ihre Schwerpunkte selbst wählen und sich damit auseinandersetzen. Diese kurze Übersicht der Vorteile ermöglicht den Übergang zur nächsten Fragestellung: Kann die vorgeschlagene Methode des Distant Reading konsequent in der Didaktik angewendet werden? Diese Leitfrage wird im nächsten Abschnitt behandelt.

KI in der Schulpraxis

Wir leben in einer digitalen Welt: Wir verfügen über digitale Mittel und digitale Datensammlungen, unsere Texte sind und werden zunehmend digitalisiert. Aus diesen Gründen lässt sich die Frage, ob digitale Lesetechniken im Sinne von Moretti und Mueller in der Schule anwendbar sind, nur positiv beantworten. Dieser Abschnitt wird sich daher vor allem mit der Frage befassen, wie sich eine solche Methode in die Praxis umsetzen lässt. Dabei soll hier folgende Fragestellung behandelt werden:

  1. Welche digitalen Mittel erweisen sich für den Literatur- und Fremdsprachenunterricht als geeignet?

  2. Wie kann man digitale Tools dabei produktiv einsetzen? Was funktioniert? Was funktioniert nicht? Was muss noch verfeinert werden?

Es gilt zunächst zu begründen, warum sich Visualisierungstools wie Voyant Tools als besonders geeignet für die Anwendung im Unterricht erweisen. Voyant Tools ist Teil des Buchprojekts Hermeneutica. Computer-Assisted Interpretation in the Humanities von Stéfan Sinclair und Geoffrey Rockwell und ist ein mit Java programmiertes, webbasiertes Werkzeug für die Textanalyse.[27] Dieses Tool ist open-source und kann frei heruntergeladen und auf dem eigenen Rechner installiert werden. Es verfügt über unterschiedliche Funktionen, einige davon werden kurz beschrieben: Beim Öffnen des Tools ist es möglich, eigene Dateien oder Dateien aus dem Netz hochzuladen und somit ein Korpus aufzubauen, das anschließend analysiert und visualisiert wird. Unter Optionen kann die gewünschte Sprache ausgewählt werden; eine Stoppwortliste ermöglicht, Funktionswörter auszuklammern, die zum Zweck der Analyse nicht von Bedeutung sind. Alternativ kann eine benutzerdefinierte Liste zusammengestellt werden. Für die grafische Darstellung stehen 23 verschiedene Analysetools zur Verfügung. Die Funktion Export ermöglicht, die Adresse der hergestellten Seite (URL) sowie die HTML- oder PNG-Dateien zu exportieren und sie anderen Dateien hinzuzufügen (siehe Abbildung 2).[28]

Abbildung 2 Option und Tools der Open-Source-Software Voyant Tools.
Abbildung 2

Option und Tools der Open-Source-Software Voyant Tools.

Voyant Tools bietet einige Vorteile für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern. Erstens lässt es sich nach einer kurzen Einführung intuitiv nutzen. Nach einer einzigen Unterrichtsstunde können die Kinder bereits mit dem Tool umgehen. Zweitens lenkt Voyant die Aufmerksamkeit auf Sachinhalte und Strukturen und veranschaulicht sie, deshalb unterstützt das Tool auch Lernende mit geringeren Sprachkenntnissen dabei, Texte produktiv zu erarbeiten. Drittens ermöglicht es die gleichzeitige Behandlung mehrerer Texte in einem Korpus und schließlich eignet es sich für die Gruppenarbeit. Dank der Vielfalt der angebotenen Visualisierungstools können die Schülerinnen und Schüler ihre Werkzeuge selbst wählen und autonom damit arbeiten.[29]

Zur Bearbeitung der zweiten Fragestellung soll ein didaktisches Experiment präsentiert werden, das ich mit meiner Klasse der gymnasialen Oberstufe durchgeführt habe (Klassengröße 27, Sprachniveau in der deutschen Sprache: A2-B1). Im Rahmen einer umfassenden Unterrichtseinheit zum Thema „Frauenrollen im Spiegel der deutschen Literatur“ wird das erste Kapitel des Romans Effi Briest analysiert. Die Schülerinnen und Schüler haben den Roman als Hausaufgabe in den Sommerferien gelesen, denn der Roman gehört zum Kanon der Schullektüre. In den Unterrichtsstunden werden die Schülerinnen und Schüler zunächst in kleine Gruppen aufgeteilt und erarbeiten dann ein Arbeitsblatt mithilfe von Voyant Tools. Anschließend präsentieren sie ihre Ergebnisse. Am Ende der Unterrichtsreihe werden sie in einem fokussierten Interview nach den verschiedenen Aspekten der ausgeführten Aktivitäten befragt. Zur besseren Übersicht wird die Beschreibung des Lehrdesigns tabellarisch zusammengefasst (Tabelle 1).

Tabelle 1

Lehrdesign zur Analyse des Romans Effi Briest.

Thema der UnterrichtseinheitFrauenrollen im Spiegel der Deutschen Literatur
Thema der dargestellten UnterrichtsstundenMutter-Tochter-Verhältnis im Roman Effi Briest
ZielgruppeGymnasiale Oberstufe (DaF)
Lernziele:– Texte zu ausgewählten Fragestellungen interpretieren

– wesentliche Figurenmerkmale nennen

– Entwicklung der Figuren in Bezug auf ihr Verhältnis beschreiben

– Sprachfertigkeiten üben

– über Voyant-Tools kritisch reflektieren
Aktivitäten

Sozialform: Gruppenarbeit

Im Plenum

Einzelarbeit
– Erarbeitung einer Fragestellung mithilfe von Voyant Tools

– Präsentation der Ergebnisse

– Ein qualitatives Interview beantworten

Unter der Voraussetzung, dass die Einarbeitung in das Tool bereits erfolgt ist, werden für die Aktivitäten zwei Unterrichtsstunden vorgesehen. Im Zentrum der ersten Unterrichtsstunde steht die inhaltliche Analyse zentraler Fragestellungen zum Verhältnis Mutter-Tochter mithilfe der Voyant Tools. In der Einführung wiederholt die Lehrkraft die Hauptfunktionen des Tools und benennt das Ziel der Stunde. Damit die Schülerinnen und Schüler lernen, das Internet als Medium zu betrachten, laden sie selbst die benötigten Dateien aus „Projekt Gutenberg-De“ herunter und bilden ein Korpus, das aus dem Roman Effi Briest sowie aus dem ersten Kapitel und aus dem letzten Kapitel des Romans besteht. Mit der Funktion scale können sie wählen, mit welchem Dokument sie jeweils arbeiten möchten. Abbildung 3 zeigt, wie dieses Korpus in dem standardisierten Interface des Voyant Tools aussieht.

Abbildung 3 Standardisiertes Interface von Vojant Tools mit dem ersten Kapitel von Effi Briest.
Abbildung 3

Standardisiertes Interface von Vojant Tools mit dem ersten Kapitel von Effi Briest.

Als Einstieg setzt die Lehrkraft das Tool Cirrus ein, das die Wörter aus dem gesamten Roman in einer Wolke veranschaulicht. Unter Language Option wählen die Schülerinnen und Schüler English, weil sie Englisch als erste Fremdsprache lernen. Die Stoppwortliste wird auf German eingestellt. Damit werden Artikel, Präpositionen und andere Funktionswörter automatisch aus der Suche ausgeschlossen. Anhand von Cirrus können die Schülerinnen und Schüler ihre Vorkenntnisse über die Hauptfiguren auffrischen. Dank der unterschiedlichen Markierung der Wörter in der Wolke stellen sie gleich fest, welcher Figur die bedeutendste Rolle im Roman zukommt. Effi ist die Heldin des Romans, während die Mutter im Vergleich zum Baron von Instetten und zu Roswitha, dem Hausmädchen, eine kleinere Rolle spielt. Im Sinne von Distant Reading muss der Text nicht unbedingt im Voraus gelesen werden, dies hängt von der Fragestellung ab. Wenn die Schülerinnen und Schüler den Text nicht gelesen haben, muss die Fragestellung anders aussehen. Die Jugendlichen könnten z. B. Vermutungen über die handelnden Personen anstellen und ihre Rolle mithilfe der Funktion Contexts herausfinden. Somit werden Erwartungen angeregt und die Lehrkraft kann die Schülerinnen und Schüler zum Lesen motivieren. Nach der Einführungsphase wird das Arbeitsblatt mit der Beschreibung der Aufgaben verteilt:

1. Aufgabenstellung

Erstelle bitte die Wortwolke des ersten und des letzten Kapitels des Romans Effi Briest und präsentiere deine Ergebnisse mithilfe folgender Fragen:

  1. Welche Schlussfolgerungen zu den handelnden Personen können aus dem Vergleich der Cirrus abgeleitet werden?

  2. Welche Themen und Motive lassen sich für den Text herausarbeiten?

  3. Welche sprachlichen Merkmale können anhand der Cirrus identifiziert werden?

Nach der Ausführung der ersten Aufgabe diskutieren die Gruppen mündlich über die Ergebnisse.

Beschreibung der Ergebnisse

Die erwarteten Ergebnisse zu der ersten Aufgabenstellung werden in der Folge synthetisch dargestellt (Abbildung 4 und 5).

Abbildung 4 Cirrus des ersten Kapitels von Effi Briest.
Abbildung 4

Cirrus des ersten Kapitels von Effi Briest.

Abbildung 5 Cirrus des sechsunddreißigsten Kapitels von Effi Briest.
Abbildung 5

Cirrus des sechsunddreißigsten Kapitels von Effi Briest.

Aus der vergleichenden Analyse der Wortwolken lässt sich erkennen, dass das Verhältnis Mutter-Tochter im ersten Kapitel eine größere Rolle spielt. Der Name von Instetten, dem Ehemann Effis, wird im zweiten Cirrus kleiner, stattdessen hebt sich durch seine Markierung der Familienname Briest ab. Die Wörter „fräulein“ und „tochter“ signalisieren, dass Effi im ersten Kapitel als kleines, unverheiratetes Mädchen betrachtet wird. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Effis Mutter einen größeren Platz in ihrem Leben einnimmt. Im letzten Kapitel hingegen ist der Familienname von Effi ausdrücklich markiert. Dies könnte so gedeutet werden, dass Effi selbstständiger geworden ist und dass sie sich mit ihrer Familie am Ende versöhnt hat. Darauf weisen folgende positive Ausdrücke hin: „liebe“, „recht“, „schön“, „hinauf“, „ruhig“. Anhand der Cirrus scheinen die familiären Verhältnisse als Hauptmotiv des Romans zu gelten, nämlich das Verhältnis zwischen Mann und Frau (Effi-Instetten) und das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter (Effi-Mama). Bezüglich der sprachlichen Merkmale konnten meine Schülerinnen und Schüler aus den Wortwolken wenig ableiten. Sie haben festgestellt, dass die meisten Verben im Präteritum stehen und dass diese Zeitform typisch für die Erzählweise in einem Roman ist. Ich habe sie auf den Gebrauch der Interjektion „Ach“ aufmerksam gemacht. Sie haben sich dann über den Gebrauch der Interjektion geäußert: Sie wird in Dialogen verwendet und deutet auf Emotionen und Gefühlszustände hin, die meistens traurig sind.

2. Aufgabenstellung

Mithilfe des Tools Contexts betrachte die Wörter Effi, Mama, Mutter und Tochter in ihrem Zusammenhang:

  1. Wähle zwei bis drei Adjektive, die sich auf diese Personennamen beziehen

  2. Welche Bedeutung haben diese Wörter in dem Kontext?

  3. Wie werden sie gebraucht? (metaphorisch, als Symbole, sie dienen zur Beschreibung von..., zur Musikalität, sie spiegeln ... wider usw.).

Die Toolfunktion Contexts untersucht größere Textmengen in Bezug auf ein Stichwort, zeigt dieses Wort in seinem syntaktischen Zusammenhang oder im Kontext seiner Äußerung und ermöglicht, die Beziehungen zwischen den Vokabeln zu analysieren.

Beschreibung der Ergebnisse

Die Adjektive dienen meistens zur Beschreibung eines Verhaltens. Hier sei nur ein Beispiel dafür gezeigt (siehe Abbildung 6).

Abbildung 6 Das Wort „effi“ im Kontext des ersten Kapitels (Ausschnitt).
Abbildung 6

Das Wort „effi“ im Kontext des ersten Kapitels (Ausschnitt).

Dass Effi ein blau und weiß gestreiftes, halb kittelartiges Matrosenkleid trägt, und dass sie als stürmisch, wild und leidenschaftlich beschrieben wird, deutet auf ihr kindliches Verhalten hin. Im Gegensatz dazu ist die Mutter schön, schlank, größer als Effi und fleißig. Sie erwartet von ihrer Tochter, dass die sich wie eine Dame verhält, deswegen bezeichnet sie Effi abwertend als „Tochter der Luft“. Die Adjektive im letzten Kapitel beziehen sich auf die Versöhnung, wie z. B.: „versöhnt“ und „ruhig“.

3. Aufgabenstellung

  1. Benutze die Funktion Contexts und analysiere die Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

  2. Visualisiere sie dann mit den Systemfunktionen, Microsearch und Wordtree oder mit einem Frequenz Diagramm.

Das Tool Microsearch stellt die Vorkommenshäufigkeit einzelner Wörter in Form roter Punkte dar und ermöglicht einen übersichtlichen Vergleich zwischen den Dokumenten des Korpus. Wordtree fokussiert auf ein ausgewähltes Wort und zeigt die Ausdrücke an, die diesem Wort folgen oder vorangehen.

Beschreibung der Ergebnisse

Aus einer näheren Betrachtung der Wörter „effi“ und „mama“ im Kontext können die Schüler*innen weitere Informationen über die Figuren und über die Handlung erfahren, z. B. dass Effi ihre Mutter liebt und dass sie ihr ihre Angst vor der Heirat anvertraut. Dies wird beispielsweise als Wordtree veranschaulicht (Abbildung 7):

Abbildung 7 Wordtree bezüglich des Wortes „mama“.
Abbildung 7

Wordtree bezüglich des Wortes „mama“.

Ein weiteres Beispiel liefert das Frequenzdiagramm (Abbildung 8).

Abbildung 8 Frequenzdiagramm der Wörter „effi“ und „mama“ im Korpus.
Abbildung 8

Frequenzdiagramm der Wörter „effi“ und „mama“ im Korpus.

Das Diagramm in Abbildung 8 zeigt die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter. Zu Beginn des Romans haben Mutter und Tochter ein enges Verhältnis. Sie entfernen sich voneinander nach der Heirat und der Scheidung Effis. Sie kommen sich aber im letzten Kapitel wieder näher. Dies wird durch eine ziemliche hohe Frequenz sowohl des Namens „effi“ als auch des Namens „mama“ im ersten und im sechsunddreißigsten Kapitel bezeugt, während im Rest des Korpus die Frequenzkurve sinkt. In einer zusätzlichen Stunde präsentieren die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse mit Hilfe einer Powerpoint- oder Prezi-Datei. Für eine große Klasse sind Pecha Kuchas besonders geeignet. Pecha Kucha ist eine zeitlich vorgegebene Präsentation. Die Schülerinnen und Schüler gestalten ihre Folien (max. 8) und stellen sie mündlich vor. Die Präsentation einer Folie darf nicht länger als zwanzig Sekunden dauern. Die Topics der Folien können von der Lehrkraft empfohlen werden, z. B. Folie 1: Eine kurze Zusammenfassung der Handlung; Folie 2: Beschreibe, wie die Hauptfiguren in der Geschichte verbunden sind; Folie 3. Beschreibe die Rolle der Mutter usw. Die Bewertung erfolgt anhand eines Evaluationsrasters. Diese Phase gilt als Auswertung der Ergebnisse, aber auch als Ergebnissicherung, weil die Jugendlichen während der Anfertigung der Folien und der Präsentation auf ihre Kenntnisse zurückgreifen und diese anwenden müssen.

Am Ende der oben beschriebenen Unterrichtsstunden werden die Schülerinnen und Schüler in einem fokussierten Interview nach den verschiedenen Aspekten der ausgeführten Aktivitäten befragt. Die Datenerhebung erfolgt durch einen mit Grafstat[30] erstellten Fragebogen, der anonym beantwortet wird. Grafstat ist ein einfaches Instrument, das Lehrkräften und Schulinstitutionen frei zur Verfügung gestellt wird. Die Fragestellung folgt den Kriterien eines Leitfadeninterviews.[31] Hauptindikatoren für die Kodierung der Fragestellung und die konsequente Inhaltsanalyse sind: Nutzung von Medien; ausgebildete Kompetenzen und Chancen zur Weiterentwicklung. Dabei handelt es sich nur um eine kurze, explorative Vorstudie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dennoch hat die Auswertung der gesammelten Daten zu interessanten Ergebnissen geführt, wie Abbildung 9 zeigt.

88 Prozent der Befragten behaupten, oft oder sehr oft digitale Medien zu benutzen, davon 84 Prozent für Präsentationen. Dass sich die Schulaktivitäten der Lernenden im digitalen Bereich hauptsächlich auf Präsentationen beschränken, zeugt von einer geringen Unterstützung sei

Abbildung 9 Ergebnisse der Umfrage mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe, erstellt mit GrafStat.
Abbildung 9

Ergebnisse der Umfrage mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe, erstellt mit GrafStat.

tens der Schule beim Erwerb von digitalen Kompetenzen, die hingegen für eine erfolgreiche Integration in die informationsbasierte Gesellschaft nötig sind (vgl. Einleitung). Weiterhin geben 65 Prozent der Befragten an, Texte am Computer zu lesen; 68 Prozent bezeichnen die Arbeit mit Vojant Tools als einfach; 60 Prozent konnten das Arbeitsblatt innerhalb der geplanten Zeit fertig ausfüllen. Alle wünschen sich, wieder mit dem Computer im Literaturunterricht zu arbeiten. 85 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler geben an, in erster Linie Kompetenzen zur Zusammenarbeit entwickelt zu haben, sowie Fähigkeit, Analysetechniken anzuwenden und Bedeutungen zu erschließen (Abbildung 10).

Die Ergebnisse des Interviews mit den Schülerinnen und Schülern zeigen erstens, dass durch den Einsatz von digitalen Mitteln die Motivation für das Lesen von literarischen Texten bei ihnen steigt. Zweitens wird ersichtlich, dass durch den Einsatz von digitalen Tools nicht nur die Lesekompetenz gefördert werden kann, sondern auch eine andere Art von Kompetenz, die im Sinne der New Literacies und Media Education einem erweiterten Kompetenzbegriff entspricht.[32] Darunter werden hauptsäch

Abbildung 10 Auflistung der entwickelten Kompetenzen laut Selbsteinschätzung in der Umfrage, erstellt mit GrafStat.
Abbildung 10

Auflistung der entwickelten Kompetenzen laut Selbsteinschätzung in der Umfrage, erstellt mit GrafStat.

lich folgende Kompetenzen verstanden: Selbstreflexion, die Fähigkeit, Informationen zu erforschen und zu evaluieren, Flexibilität in der Organisation des eigenen Wissens, Kompetenz zur Zusammenarbeit sowie die Fähigkeiten, Analysetechniken anzuwenden, Bedeutungen zu erschließen, eigene Gedanken und Argumentationen auszudrücken und schließlich, Arbeitsergebnisse verständlich zu präsentieren. Lese- und Textkompetenzen erweitern die Schülerinnen und Schüler nicht nur dadurch, dass sie beim Einsatz von Voyant Tools als Analyseinstrument Lesestrategien und Lesetechniken anwenden, sondern auch indem sie dabei lernen, Perspektiven einzusetzen und ihr eigenes Textverständnis zu formulieren.

Fazit

Der erste Teil des vorliegenden Beitrags beschreibt die Lesemethoden des Distant Reading und des Close Reading. Das Experiment mit der Klasse hat gezeigt, dass eine Verschmelzung beider Techniken in der didaktischen Praxis realisierbar ist. Die Technik des Distant Reading hat die Jugendlichen dabei unterstützt, Lese- und Textkompetenzen zu entwickeln. Schülerinnen und Schüler haben gelernt, Texte selektiv zu lesen, die für sie relevanten Aussagen zu erkennen, sie zu verstehen und in Diagrammen zu visualisieren. Dabei konnten sie feststellen, dass die Analyseergebnisse in Abhängigkeit von den Eingabeparametern variieren. Sie konnten somit erkennen, wie eine Interpretation auch von der Perspektive der Interpretierenden abhängt. Beim Annotieren der Vokabeln haben die Schülerinnen und Schüler sich mit sprachlichen Strukturen (Eigennamen, Personennamen, Verben, Adjektive usw.) auseinandergesetzt, ihre Funktion im Text hinterfragt sowie Sinnzusammenhänge erkennen müssen. Dies könnte man als Close Reading charakterisieren. Des Weiteren wurden durch den Einsatz von Voyant Tools Kenntnisse im Umgang mit IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) und dem Internet vermittelt, die zu dem erweiterten Kompetenzbegriff der New Literacies gehören. Der Einsatz digitaler Medien erfordert eine Veränderung von „traditionellen“ didaktischen Gestaltungsformen des Unterrichts, damit sie ihre effektive Wirkung auf den Lehr- und Lernprozess haben können. Zentralität und Selbstständigkeit der Lernenden spielen dabei eine relevante Rolle. Konsequenterweise muss die Methode der Bewertung hinterfragt und ggf. revidiert werden, sodass die Bewertungskriterien dem erweiterten Kompetenzbegriff entsprechen können. Bei der Unterrichtsplanung ist auch der Zeitfaktor zu berücksichtigen. Sowohl Lehrende als auch Lernende brauchen Zeit, um die neue Medienkompetenz zu erwerben und einzuüben. Außerdem wäre eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Mathematik- oder mit den Informatiklehrenden wünschenswert. Im Idealfall könnten Schülerinnen und Schüler dann eine zweite Stufe der digitalen Kompetenz erreichen und anfangen, ihre Texte mithilfe anderer Werkzeuge, wie z. B. Wiki, selbst zu modellieren.

About the author

Dr. Olivetta Gentilin

Dr. Olivetta Gentilin studierte an der Universität „CaFoscari“ in Venedig Fremdsprachen (Deutsch, Englisch) und Literaturwissenschaften auf Magister. Nach dem Saatsexamen für die Lehrbefähigung im Sekundärbereich der italienischen Schule nahm sie erneut ein Studium in Technologie und Methodologie der Online-Bildung an der Universität „Università degli Studi di Verona“ auf und wurde an den Universitäten zu Verona und der TU Darmstadt im Fach Germanistik promoviert. Seit 1987 hat sie eine feste Anstellung als Deutschlehrerin, derzeit am Gymnasium „Liceo St. Antonio Pigafetta“ in Vicenza. Dazu leitete sie Fortbildungskurse bei der SSIS (Hochschule für Lehrer Ausbildung) in Venedig.

Published Online: 2020-01-14
Published in Print: 2020-01-03

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 5.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/iwp-2019-2056/html?lang=en
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