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Marx’ Antwort auf den Mythos des Gegebenen

  • Sabina Vaccarino Bremner
Published/Copyright: May 26, 2025

Abstract

I present a reading of Marx’s critique of what he terms ‘intuitional materialism’, an expression which suggests a close link to Kant’s account of intuition. On my account, Marx advocates a view of sensibility as active, whereas Kant’s account of sensibility has often been interpreted as passive. In so doing, I claim that Marx offers an implicit critique of the conventional distinction between the ‘higher’ and ‘lower’ faculties, including Wilfrid Sellars’ attack on the myth of the given. Marx claims that limiting the contribution of cognition to the abstraction of particulars into concepts is a symptom of alienation under capitalism, while unalienation consists in the aesthetic attunement of sensible activity to the particularity of experience. This view is importantly related, I claim, to the cue Marx and Engels took from Darwin in reconceiving biological science, including the study of human material life, as dynamic and organic rather than mechanical.

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Obwohl Karl Marx’ „Thesen über Feuerbach“ lange Zeit als programmatisch für die materialistische Theorie verstanden wurden, ist ihre Bedeutung ziemlich rätselhaft geblieben. [1] Einer der vorrangigen Deutungen zufolge stellen sie einen Angriff auf den „mechanischen Materialismus“ dar: [2] auf ein deterministisches oder fatalistisches („mechanisches“, d. h. mechanistisches) Verständnis des Materialismus, das das Verhalten der Menschen auf die materiellen Determinanten ihres Verhaltens reduzieren würde. Als Kernpunkt der „Thesen“ gilt, dass Marx die Leserschaft dazu auffordert, tätig zu werden, wobei „Tätigkeit“ mit materieller, konkreter innerweltlicher Praxis assoziiert wird [3] – ganz so, wie die abschließende „These“ fordert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ [4]

Allerdings nutzt Marx in den „Thesen“ interessanterweise niemals den Ausdruck „mechanischer Materialismus“ [5]; er findet seine Anwendung allein in einem Text, den Friedrich Engels nach Marx’ Tod und mehr als 40 Jahre nach der Niederschrift der „Thesen“ veröffentlicht hat. [6] In dieser Schrift – Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie – verwirft Engels den mechanistischen Materialismus, weil damit menschliche Subjekte als bloße mechanische Objekte naturwissenschaftlicher Untersuchungen behandelt würden, als nur von außen affiziert statt als potenziell wandlungsfähige, freie Wesen. In den „Thesen“ nutzt Marx hingegen eine andere Formulierung, um die von ihm abgelehnte und auch Feuerbach zugeschriebene Spielart des Materialismus zu kritisieren: Er verweist auf den anschauenden Materialismus*. Im Englischen ist dies bedauerlicherweise als „contemplative materialism“ übersetzt worden, wobei die Unklarheit dieses Ausdrucks womöglich die Verschmelzung mit „mechanical materialism“ nahegelegt hat. Im Folgenden werde ich die Auffassung vertreten, dass Marx den anschauenden Materialismus [intuitional or intuitive materialism] ablehnt, das heißt einen Materialismus, der nur die passive Affektion durch „Sinnesobjekte“ zugesteht, statt dass Sinnlichkeit als Tätigkeit anerkannt würde. [7]

Folglich ist, wie ich glaube, im Zuge der Übersetzung in die englischsprachige Literatur etwas verloren gegangen. Ich nehme den Angriff des frühen Marx auf den anschauenden, nicht aber auf den mechanistischen Materialismus ernst und untersuche das Potenzial, das einer Konzeption von Sinnlichkeit als Tätigkeit für seine Materialismusauffassung zukommt. Damit sind, so möchte ich behaupten, interessante und bedeutende Konsequenzen für Marx’ Philosophie des Geistes verbunden, einen Gegenstand, der infolge gewisser Trends in der Marx-Rezeption des 20. Jahrhunderts vernachlässigt worden ist. In der Tat eröffnet dies die Möglichkeit, den Materialismus von Marx als eine Fortführung oder Erweiterung bestimmter Formulierungen des Idealismus (hier möchte ich den Kant’schen Transzendentalen Idealismus hervorheben) zu verstehen. Auf diese Weise kann meine Lesart dabei hilfreich sein, ein Problem zu beleuchten, vor dem der zeitgenössische Materialismus steht und das Stuart Hall zur Sprache gebracht hat: „Der Materialismus des Marxismus kann nicht auf der Behauptung gründen, dass er den mentalen Charakter – geschweige denn die realen Wirkungen – mentaler Ereignisse (z. B. Gedanken) verwirft, denn genau dies ist der Fehler, den Marx als einseitigen oder mechanistischen Materialismus bezeichnet hat (in den Thesen über Feuerbach)“ [8].

Wenn der Materialismus im Verständnis von Marx sein Potenzial aus einer Sinnlichkeit schöpft, die als tätiges Vermögen verstanden wird, statt eine nur passive Rezeptivität (als die sie gemeinhin aufgefasst wird) zu sein, so lässt dies aber auch die zeitgenössischen Auffassungen des Idealismus nicht unverändert. Einem bedeutenden Interpretationsstrang zufolge eint die postkantianische Tradition die Zurückweisung des „Mythos des Gegebenen“ oder die Ablehnung der Auffassung des erkennenden Geistes als eines solchen, der unmittelbar von Sinneseindrücken affiziert wird, die unabhängig von den Begriffsoperationen des Verstandes zustande kommen. [9] Wenn man die Ablehnung des Mythos des Gegebenen auf diese Weise versteht, so entspricht dies, wie ich behaupten möchte, dem Idealismus, den Marx in den „Thesen“ kritisiert. Denn damit wird einerseits die kognitive Tätigkeit als der einzige Geltungsbereich des Verstandes identifiziert und andererseits die kognitive Passivität allein dem Empfindungsvermögen oder der empirischen Rezeptivität zugeschrieben. Hingegen bin ich der Auffassung, dass sich Materialismus im Marx’schen Verständnis partiell mit einer Ablehnung dieser Dichotomie zwischen scheinbar höheren und niederen Vermögen verbindet. Ich möchte behaupten, dass er analog zu Kant auf die Reflexion über das organische Leben als einen möglichen Ausweg aus dieser Dichotomie verweist, wobei das organische Leben – laut Marx und Engels: Darwin zufolge – statt als mechanistisch als dynamisch und wandelbar neu begriffen wird. Somit führt uns meine Lesart letztlich zu Engels’ später Kritik am mechanistischen Materialismus zurück, die allerdings, wie zu zeigen sein wird, anders zu begreifen ist, als viele Marx-Interpreten sie verstehen.

2

Im Kontext der „Thesen“ bringt Marx den anschauenden Materialismus* mit einem Unvermögen, das zu erkennen, in Verbindung, was er „sinnliche“ oder „sinnlich menschliche Tätigkeit“ oder „Sinnlichkeit […] als praktische Tätigkeit“ nennt. [10] Diese Behauptung wurde analog zu anschauender Materialismus* eher unglücklich als „sensuous human activity“ oder „sensuousness […] as a practical activity“ übersetzt. [11] Weil sich im Prozess der Übersetzung damit die Verbindung zu einerseits „intuition“ (Anschauung*), andererseits „sensibility“ (Sinnlichkeit*) verlor, ging auch eine bedeutende Verbindung zur Geschichte der Philosophie verloren. Wie ich weiter unten zeigen werde, entspricht die Übersetzung „sensuousness“ nur einer der Sinnebenen, die Marx der Sinnlichkeit* zuschreibt. Die erste und vorrangige Sinnebene lässt sich nur durch den Bezug auf „sensibility“ erfassen.

Kants Konzeption der Sinnlichkeit zufolge findet „Anschauung […] nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire. Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit“ [12]. Mithin ist Sinnlichkeit einfach unsere Rezeptivität gegenüber Gegenständen der Anschauung, das Vermögen unseres Geistes, durch außer uns befindliche Dinge affiziert zu werden. Mittels der „Sinnlichkeit […] werden uns Gegenstände gegeben“ – in der Tat liefert „sie allein […] uns Anschauungen“. Aber „gedacht“ werden die Gegenstände „durch den Verstand“; aus ihm heraus „entspringen Begriffe“ [13]. Den sinnlichen Gehalt unserer kognitiven Repräsentationen, die Sinneseindrücke der Gegenstände, soweit sie unsere Sinnlichkeit affizieren, nennt Kant „Materie“ [14]. Materie, als die offenbar unmittelbare oder rohe Einwirkung der Sinneseindrücke oder Sinnesdaten auf unser Rezeptionsvermögen, unterscheidet sich von der „Form“ der Erscheinung als demjenigen, das dem Mannigfaltigen ermöglicht, „in gewissen Verhältnissen geordnet, angeschaut“ zu werden [15]. Letzteres wird Kant dann Raum und Zeit zuordnen.

Zu Anfang der „Thesen“ greift Marx bestimmte Aspekte dieses Kant’schen Modells von Sinnlichkeit und Anschauung auf und revidiert sie. Er behauptet, es sei der „Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) […], daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv“ [16]. In diesem Textabschnitt verwirft Marx einen Materialismus, dem folgend Sinnlichkeit als regloser Gegenstand oder Registratur im Hirn, als „bloßes Auffassungsorgan“, wie Lukács später schreiben sollte, [17] verstanden wird; einen Materialismus, demzufolge der Gegenstand der Anschauung – der Wahrnehmungsgegenstand – sich jenseits des menschlichen Subjekts befindet, als ob er sich unabhängig von dem Beitrag betrachten ließe, den die Sinnlichkeit zu dessen Präsentation im Bewusstsein leistet. Marx hingegen behauptet, dass der wahrgenommene Gegenstand nicht unabhängig von der Tätigkeit des Wahrnehmens gegeben wird, während diese Tätigkeit ihrerseits eine „Praxis“ darstellt. In der Tat fährt Marx fort, „im Gegensatz zu dem Materialismus“ – d. h. dem Materialismus Feuerbach’scher Art – sei „die tätige Seite abstrakt […] von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt“ worden [18]. Was dem Materialismus anders gesagt fehle, sei eine entscheidende Einsicht des Idealismus: dass Erfahrung nicht gegeben ist, sondern, um überhaupt verständlich zu sein, durch die Tätigkeit des Erkennens vermittelt werden muss.

In Kants Konzeption des Transzendentalen Idealismus wird die Arbeit dieser Vermittlung, des Beitrags der Erkenntnis zur Erfahrung vielen Lesarten zufolge nicht von der Sinnlichkeit geleistet, sondern vom Verstand erbracht. So behauptet Kant in der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft: „Dieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit giebt, die giebt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt“ [19]. Letztlich ist es der Verstand, der vermöge seiner Kategorien Begriffe zu Urteilen wie auch Anschauungen zu vereinigten Vorstellungen synthetisiert. In der Transzendentalen Deduktion scheint Kant die Idee zu wiederholen, dass die Synthesis oder Verbindung und mit ihr alle Erkenntnisform oder -einheit in den alleinigen Geltungsbereich des Verstandes fällt. „[A]lle Verbindung, wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht, es mag eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung oder mancherlei Begriffe [sein, ist] eine Verstandeshandlung“, denn „die Verbindung […] eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen“ [20]. Insoweit als Sinnlichkeit nur ein anderer Terminus für „Rezeptivität“ ist, beschränkt sich ihre Funktion allein darauf, „von Gegenständen affiziert zu werden“ [21]. Verglichen mit dem Verstand scheint Kant mit Sinnlichkeit erkenntnisbezogen eine gewisse Passivität zu verbinden.

Dies bereitet für Kants Konzeption des Selbstbewusstseins, bei der zwischen einem empirischen und einem intellektuellen Aspekt zu unterscheiden ist, erhebliche Probleme: Da unsere „Anschauung“ nicht „blosse Selbstthätigkeit, d. i. intellektuell“ ist und „Sinnlichkeit“ nur auf die Art und Weise bezugnimmt, in der Wahrnehmungen „ohne Spontaneität im Gemüthe gegeben“ sind, können wir uns als Subjekte allein „als Erscheinung“, analog zu empirischen Dingen erkennen [22]. Obwohl wir uns auch als spontane, aktive, denkende Subjekte wahrnehmen, kann diese Wahrnehmung, wollen wir die Gefahr des Paralogismus vermeiden, niemals als Wissen gelten. Somit stellt die Passivität der Sinnlichkeit die Herausforderung dar, diese unterschiedlichen Aspekte unserer Selbsterkenntnis zu versöhnen – eine Herausforderung, die später von den deutschen Idealisten als unannehmbar abgelehnt werden sollte. [23]

Gleichwohl ist Sinnlichkeit auch ein Vermögen* – womit nicht allein „Fähigkeit“ zu erkennen gemeint ist, sondern auch „Können“ oder „Tüchtigkeit“, somit „Tätigkeit“ –, ein solches, das auch seine eigenen Formen hat, nämlich Raum und Zeit, durch die auch sie strukturierend zur Vorstellung der Erfahrung beiträgt. Folglich öffnet Kant der Beantwortung der Frage, inwieweit Sinnlichkeit neben dem Verstand als tätig verstanden werden kann und somit letztlich doch nicht als durchweg passiv, einen erheblichen Interpretationsspielraum.

Marx lässt sich nun so verstehen, dass er, indem er Kants Gedankengang radikal fortführt, diese Mehrdeutigkeit ausbeutet. Statt die Tätigkeit wesentlich der Verstandesfunktion beizumessen, schreibt er sie bis ganz nach unten zu – selbst der, wie es scheint, rohen Affektion des Subjekts durch Sinnesgegenstände. Dass der Idealist „die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt“ [24], liegt am Fehler, dass er nicht begreift, dass die Erkenntnistätigkeit bis hinunter zur scheinbar stummen Aufnahme des Mannigfaltigen der Anschauung reicht. Von daher behauptet Marx, dass Erfahrung nicht als passives Ablichten empirischer Gegebenheiten aufzufassen ist, sondern als das Werk tätiger Vermittlung.

In neueren akademischen Diskussionen wird Kants Mehrdeutigkeit in dieser Frage unter dem Aspekt seiner Position zu nichtbegrifflichen Inhalten analysiert oder in Hinblick auf das Maß, in dem die Sinnlichkeit ihren eigenen, unabhängigen Beitrag zur Erkenntnis leistet, unter Absehung der begrifflichen Vereinheitlichung oder Verstandestätigkeit. [25] Einem bedeutenden Gedankengang zufolge wird Kants Konzeption der Vermittlung von Erkenntnis als strikt begriffliche Vermittlung oder rationale Spontanität gefasst – als die Idee, dass, wie Quill Kukla schreibt, „die Gegenstände der Wahrnehmung keine stummen Sinnesdaten oder rohen Einzelheiten sein können“, denn „wir können nichts sehen, wenn wir keinen Begriffsraum entwickelt haben, durch den wir einen Sinn für das erlangen, was wir sehen“ [26]. Kants Einfluss auf die Geschichte der Philosophie besteht, so wird behauptet, mithin in der Ablehnung des Mythos des Gegebenen, der Vorstellung, dass sich zwischen Sinnesdaten, die der bewussten Wahrnehmung gegeben sind, und jenen Erkenntnisvorgängen, durch die diese Daten aufgenommen und konzeptualisiert werden, sinnvoll nicht unterscheiden lässt. [27] Einer solchen Auffassung zufolge eint die postkantianische Tradition der umfassende Konsens, dass es „Gegebenes“ nicht gibt, und zwar deshalb, weil die Einzelheiten der Wahrnehmung bereits begrifflich vermittelt und propositional strukturiert sind. Geleitet von Begriffen als semantischen Regeln sind die Wahrnehmungsmerkmale oder Sinneseindrücke, die auf die Sinnlichkeit einwirken, somit niemals als solche gegeben, sondern bereits normativ.

Indem behauptet wird, dass das Gegebene ein Mythos sei, bringt eine solche Vorstellung eine weitere Unterscheidung erneut zur Geltung, die wiederum Marx in den „Thesen“ ausdrücklich zurückweist: nämlich den Gegensatz zwischen dem passiven Charakter der Sinnlichkeit und dem tätigen des Verstandes. Wie McDowell formuliert, ist „Erfahrung passiv“, aber sie „bringt […] Fähigkeiten ins Spiel, die eigentlich der Spontaneität angehören“ [28]. Soweit es anders gesagt überhaupt einen tätigen Beitrag der Sinnlichkeit gibt, weist McDowell diese Tätigkeit dem Verstand als Spontaneität zu, sodass die Sinnlichkeit grundsätzlich passiv bleibt (und ihr in der Tat überhaupt keine isolierbare Rolle zukommt): „Erfahrungen haben ihren Inhalt kraft der Tatsache, daß begriffliche Fähigkeiten in ihnen tätig sind, d. h. solche Fähigkeiten, die eigentlich zum Verstand gehören“ [29]. In der Tat behauptet McDowell, dass wir nur dann vermeiden können, „zu Idealisten zu werden“ und „die Unabhängigkeit der Realität zu mißachten“, wenn wir anerkennen, dass „das erfahrende Subjekt passiv [ist]“ und „die unabhängige Realität […] auf es ein[wirkt]“ – also nur dann, wenn wir eine Unterscheidung zwischen passiver Sinnlichkeit und tätigem Verstand oder Spontaneität beibehalten. [30]

Marx’ „Thesen“ hat man auf gleiche Weise verstanden. Der Lesart von Sebastian Rödl zufolge ist in den von Marx verworfenen früheren Formen des Materialismus „die materielle Wirklichkeit ausschließlich als Gegenstand der Anschauung, also als Gegenstand rezeptiver Erkenntnis“ verstanden worden. [31] Rödl schreibt, dass alternativ dazu der von Marx befürwortete „wahre Materialismus [zeigt], daß sich Spontaneität und die ihr eigene Erkenntnis auf die materielle Wirklichkeit beziehen und deshalb selbst eine materielle Wirklichkeit sind“. Somit begreift er „die materielle Wirklichkeit nicht nur als Gegenstand der Anschauung, sondern als Spontaneität“ [32]. Hier wird erneut die Tätigkeit der Anschauung auf Spontaneität reduziert – insbesondere auf die Materialität der „erstpersonale[n] Erkenntnis, die nichtrezeptiv und nichtempirisch ist“ [33] –, auf die Tätigkeit allein der „höheren Vermögen“ des Verstandes oder der Vernunft, statt auch auf das „untere Vermögen“ des Wahrnehmens.

Jedoch betont Marx nicht die Materialität des Verstandes, vielmehr lenkt er ausdrücklich die Aufmerksamkeit auf eine Konzeption tätiger Sinnlichkeit, die sich folglich nicht darauf beschränkt, nur empirisch „Gegebenes“ zu präsentieren. [34] Seine Hauptkritik an den Idealisten in den „Thesen“ ist, die „tätige Seite“ nur „abstrakt“ entwickelt zu haben, d. h. auf der Ebene der Diskursivität (Begriffe und Verstand), die insofern allgemein und „abstrakt“ ist, als sie zu den (einzelnen, konkreten) Anschauungen und den Sinnen Abstand hält. [35] Weiterhin behauptet Marx, dass das, was die Idealisten anzuerkennen bisher nicht leisten konnten, nicht die Materialität der Selbsterkenntnis ist, sondern die „sinnliche Tätigkeit“* [36]. Statt also die Erkenntnistätigkeit auf den Verstand (oder die Vernunft) zu begrenzen, hinterfragt er m. E. die Art und Weise, in der diese Unterscheidung erfolgt – die Identifikation von Tätigkeit mit dem Verstand einerseits und von Passivität und empirischer Affektion andererseits.

Tatsächlich behauptet Marx, dass menschliche Wesen nur dann in einer nichtentfremdeten Beziehung mit der Außenwelt existieren können, wenn der Sinnlichkeit eine tätige, freie Funktion bewahrt wird:

Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Dasein als Speise; ebensogut könnte sie in rohster Form vorliegen, und es ist nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungstätigkeit von der tierischen Nahrungstätigkeit unterscheide. [37]

Das heißt, das entfremdete Subjekt kann von „Speise“ nur auf diskursiver, nicht auf sinnlicher Ebene, nur als Abstraktion, Notiz nehmen. Folglich kann es Speise „in rohster Form“ von Speise in „menschlicher“ Form nicht unterscheiden: das heißt, keine Unterscheidung in der sinnlichen Eigenart ihrer Form, keine, die auf einer Ebene größerer Subtilität als jener erfolgt, auf der Begriffe zergliedern. Marx zufolge erweist sich diese Fähigkeit sinnlicher Differenzierung als eine ästhetische Fähigkeit: „Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das schönste Schauspiel; der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals; er hat keinen mineralogischen Sinn“ [38]. Das entfremdete Subjekt kann nur Begriffe erkennen („den merkantilischen Wert“), vermag folglich nicht zwischen bestimmten Anschauungen zu differenzieren („die Schönheit und eigentümliche Natur“ eines gegebenen Minerals; „das schönste Schauspiel“). [39]

Die Tätigkeit der Sinnlichkeit als sinnliche Wahrnehmung zeigt sich somit bei entfremdeten und nichtentfremdeten Subjekten als ein Unterschied grundsätzlich sinnlicher Fähigkeit: „Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, […] sind“, schreibt Marx, „die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen“. [40] Marx konkretisiert dies, indem er ausführt, dass „der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit“ nicht nur „ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, […] menschlicher Genüsse fähige Sinne“ verlangt, „Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen“, oder dass „nicht nur die 5 Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn“ erfordert sind. Kurz gesagt verlangt all dies nach Kultivierung als integralem Bestandteil der Kultivierung des Gattungslebens. [41] Anders gesagt besteht Marx auf der Unabhängigkeit der Sinnlichkeit vom Verstand, die sich ihm zufolge in der tätigen Einstimmung der Sinnlichkeit auf ästhetische Fülle zeigt – einer Fähigkeit, die von der Bestimmung durch abstrakte und Allgemeinbegriffe trennbar sein muss.

Versteht man Marx in der vor mir geforderten Weise, dass er nämlich die Passivität des Wahrnehmens [sensing] ablehnt, könnte man meinen, dies verpflichte ihn auf eine Form des vollentwickelten Idealismus – mit McDowell gesagt, auf den „Dämon der reibungslosen Rotation […], der uns das vorenthält, was wir als empirischen Inhalt akzeptieren können“ [42]. Für Marx ist aber vielmehr die Anerkennung der Sinnlichkeit als ein tätiges Vermögens des Geistes mit einer Absage an den Idealismus verbunden, insofern sie uns die Ansicht zu überwinden befähigt, der „Gegenstand“, der äußere Sinn, sei als „Objekt[] oder [als] Anschauung“ aufzufassen, uns hingegen erkennen lässt, dass er das Resultat „praktisch[] menschlichsinnliche[r] Tätigkeit“ ist, „sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis“ [43]. Die Bedeutung der „wirkliche[n], sinnliche[n] Tätigkeit“ ist der wesentliche Punkt, den, so Marx, die Idealisten nicht verstehen: Während sie die Rolle der Tätigkeit „abstrakt“ begreifen – wie etwa Sellars und seine Anhänger die Tätigkeit der abstrakten begrifflichen Fähigkeiten als in der Sinnlichkeit wirksam anerkennen –, verstehen sie die Rolle der wirklich „gegenständliche[n] Tätigkeit“ nicht, womit ihnen die „von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne[n] Objekte“ mit den „Gedankenobjekten“ zusammenfallen. [44] Indem Marx die Auffassung vertritt, dass der Sinnesgegenstand nicht passiv gegeben ist, sondern durch die strukturierende Tätigkeit des Geistes gestaltet wird, ist – ohne hier McDowell nahetreten zu wollen – für ihn diese Behauptung mit einer Ablehnung des Idealismus konsistent, anders gesagt, mit dem Materialismus.

Marx lehnt also den Mythos des Gegebenen ab, verwirft aber auch die übliche Strategie zur Überwindung dieses Mythos. Er weist also sowohl den Empirismus („anschauender Materialismus“) ab – die Ansicht, dass Erkenntnis auf Grundlage des uns ohne geistige Vermittlung gegebenen sinnlichen Gehalts gebildet wird – als auch die Ansicht, dass eine solche geistige Tätigkeit ganz und gar auf die Begriffsoperationen des Verstandes zurückführbar ist, die selbst bei der Rezeptivität der Sinnlichkeit am Werk sind. [45] Somit antwortet Marx auf den Mythos des Gegebenen mit der Ausweitung des Bereichs kognitiver Vermittlung, um die Sinnlichkeit expliziter einzubeziehen. Er ist nun aber nicht der Überzeugung, dass seine Darstellung der Sinnlichkeit damit auf eine „reibungslose[] Rotation“ hinausliefe, sondern sieht in ihr einen Weg, der Gegenständlichkeit des empirischen Gehalts – eine Voraussetzung des Materialismus, nicht des Idealismus – Anerkennung zu verschaffen. Wie ist dies möglich?

3

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir eine weitere Sinnebene prüfen, die Marx mit „sinnliche[r] Tätigkeit“ verbindet. In der Deutschen Ideologie behaupten Marx und Engels, Feuerbach sehe nicht,

wie die ihn umgebende sinnliche Welt nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, und zwar in dem Sinne, daß sie ein geschichtliches Produkt ist, das Resultat der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen, deren Jede auf den Schultern der vorhergehenden stand, ihre Industrie und ihren Verkehr weiter ausbildete, ihre soziale Ordnung nach den veränderten Bedürfnissen modifizierte. [46]

„Sinnliche Tätigkeit“ lässt sich somit noch mit einer weiteren Bedeutung verbinden als nur mit jener, die ich oben betrachtet habe: dass nämlich Erfahrung, die Gegenstände der Sinne durch unsere kollektiven Praktiken, durch unsere konkrete (sinnliche) Tätigkeit in der materiellen Welt gestaltet sind. So ist etwa der „Kirschbaum […], wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsre Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der ‚sinnlichen Gewißheit‘ Feuerbachs gegeben“ [47]. Von daher behauptet Marx, dass das „Gegebene“ nicht einfach deshalb ein Mythos ist, weil es durch die Begriffsoperationen des Geistes seine Gestalt angenommen hat, sondern auch deshalb, weil es durch die menschliche Praxis im Verlauf von Geschichte und Kultur gestaltet wurde. Wo der Kirschbaum ein roher Gegenstand der Anschauung zu sein scheint, behaupten Marx und Engels, dass er diese Gestalt nur in einem langen Prozess des menschlichen Eingriffs in die Naturvorgänge annehmen konnte. Selbst ein scheinbar neutrales, träges, passiv dargebotenes empirisch Gegebenes, wie etwa ein Kirschbaum, ist bereits durch konkrete menschliche Tätigkeit gesellschaftlich geformt. Was wir in der Anschauung aufnehmen, ist in dem nunmehr präzisierten Sinn das Resultat sinnlicher Tätigkeit.

Indem Marx die Herstellung der empirischen Welt auf Sinnlichkeit als ein tätiges Vermögen bezieht, erkennt er ein Potenzial für freies Wirken, das vom moralischen Wirken verschieden ist. Für Kant kann die Willkür nur dann frei in einem positiven Sinn sein, wenn sie von der praktischen Vernunft bestimmt wird (also durch die höheren Vermögen), somit nur als moralische. [48] Dennoch ist die Willkür für Kant auch „unrein“, ist sie doch zugleich unweigerlich durch die Sinnlichkeit geprägt, selbst wenn sie durch die praktische Vernunft bestimmt wird: „Die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür. […] Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden“ [49]. Für Kant finden Freiheit und Tätigkeit im praktischen Bereich ihren vollständigen Ausdruck nur vermöge der Spontaneität der Vernunft, die Sinnlichkeit hingegen bleibt wohl passiv, als das, was nur durch „Antriebe“ affiziert wird.

Dennoch charakterisiert Kant das mit dem „Willen“ gleichgesetzte „Begehrungsvermögen“ auch als ein tätiges technisches Potenzial, den durch die eigene Idee eines Zwecks gegebenen Gegenstand hervorzubringen. [50] Später bestimmt er die Produkte dieses Potenzials als „Werk“ oder „Kunst überhaupt“, einschließlich der mit dem Genie assoziierten schönen Künste, die er dann fortfährt zu diskutieren. [51] Im Weiteren spezifiziert er das, indem er schreibt, eine solche Produktion könne auch frei sein: „Von Rechtswegen sollte man nur die Hervorbringung durch Freiheit, d. i. durch eine Willkür, die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunst nennen“ [52]. So verknüpft er ästhetische Produktion, als eine Produktionsinstanz höherer Art („Werk“) überhaupt, als das Produkt von Vernunft und Sinnlichkeit, mit dem ästhetisch Besonderen, das nicht durch bestimmte Begriffe zur Sprache gebracht werden kann. Späterhin nennt Kant diese ästhetischen Vorstellungen „ästhetische Ideen“ oder Vorstellungen der Einbildungskraft, „die keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ [53]; auch versteht er die Einbildungskraft, obwohl er bei seiner Charakterisierung keineswegs konsistent ist, zuweilen als Sinnlichkeit [54] – somit als eine freie Sinnlichkeit. Kant zufolge zählen einige Instanzen der Produktion als „frei“, wenn sie nicht nur vernunftgeleitet, sondern auch der empirischen Besonderheit gegenüber offen sind. Mit „Heautonomie“ prägt er sogar einen neuen Ausdruck, um ihren eigenständigen Autonomiemodus zu charakterisieren, der die Offenheit empirischen Merkmalen gegenüber in Abwesenheit des Verstandes oder bestimmter Begriffe gewährleistet. [55] Kant betont also – und nimmt damit wichtige Aspekte von Marx’ Darstellung nichtentfremdeter Arbeit vorweg –, dass der Handelnde in der Lage sein muss, „sein eigener Herr“ zu sein, was bedingt, über ein „Eigentum […], welches ihn ernährt“, zu verfügen, wozu auch ein jedes „Handwerk oder schöne Kunst […] gezählt werden kann“, womit er also in einer freien und unabhängigen Beziehung zu dem Gegenstand, den er herstellt, stehend für sich arbeiten kann. [56]

Während sich eine im Entstehen begriffene Ansicht freier Sinnlichkeit also bereits in Kants Darstellung ästhetischer Produktion als praktischer Zweckmäßigkeit feststellen lässt, findet sich deren schlüssige Formulierung erst in Marx’ frühen Schriften zur nichtentfremdeten Tätigkeit. Sein Beharren auf einer Darstellung von Sinnlichkeit als tätiger Sinnlichkeit ermöglicht ihm eine weit umfangreichere Darstellung menschlichen Handelns als Kant – eine solche, derzufolge Freiheit die Quelle ihrer Triebkraft nicht in einer übersinnlichen, nicht-natürlichen Ordnung von Kausalität findet, sondern in der eigenen Empfindsamkeit für die empirische Naturordnung. Somit ist „der sinnliche Ausbruch meiner Wesenstätigkeit […] die Leidenschaft, welche hier damit die Tätigkeit meines Wesens“ wird. [57]

Marx also fordert, eine entscheidende Einsicht des Materialismus mit einer entscheidenden Einsicht des Idealismus zu vereinigen. Die materialistische Einsicht besteht in der Anerkennung der Bedeutung der Sinnlichkeit, der Wirklichkeit im Gegensatz zum Denken oder dem Verstand: Menschen sind keine köperlosen Geister, sondern geprägt von geschichtlichen, gesellschaftlichen, empirischen Umständen, sie sind in konkreten, gemeinsam geteilten Praktiken engagiert. Die idealistische Einsicht ist, dass Bewusstsein als solches, und damit Erfahrung (durch das Wirken der Sinnlichkeit), tätigen Charakter hat.

Diese beiden Auffassungen – von Sinnlichkeit als Tätigkeit und von Tätigkeit als konkreter, vergegenständlichter Arbeit – sind nicht so verschieden voneinander, wie dies anfänglich scheinen mag. Beide verbindet der Begriff des Lebens, durch den Marx und Engels generell, was oft unbeachtet bleibt, [58] ihre Auffassung materieller Prozesse bestimmen. [59] Dementsprechend behaupten beide in der Deutschen Ideologie, dass „das Sein der Menschen […] ihr wirklicher Lebensprozeß“ sei, und verweisen häufig nicht auf die materielle Determination des Bewusstseins, sondern auf das „Leben“ als das, was „das Bewußtsein [bestimmt]“ [60]. Folglich beziehen sie sich oftmals nicht auf die Determination durch „materielle Prozesse“, sondern auf den „wirklichen“, „materiellen“, „unmittelbar physischen“, „historischen“ oder „tätige[n] Lebensprozeß“ [61], nicht auf die „materielle Produktion“, sondern auf die „Produktion des materiellen Lebens“, die „materiellen Lebensbedingungen“ [62]. In der Tat beziehen sich beide oft auf das „Leben“ als solches, wobei dazu „vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere“ gehören [63]. Während für Marx und Engels der „‚Geist‘ […] von vornherein den Fluch an sich [hat], mit der Materie ‚behaftet‘ zu sein“, verstehen sie Materie nicht als roh oder passiv, denn sie tritt „hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache“ auf. [64] Auch Materie wird als vergegenständlichte menschliche Tätigkeit verstanden, insbesondere als die Tätigkeit, die eigenen innersten Gedanken zu kommunizieren – womit sie dem Bewusstsein nicht entgegengesetzt ist, sondern mit ihm zusammenhängt. Abermals rekurrieren Marx und Engels auf die Idee menschlicher Tätigkeit, nunmehr auf den „tätige[n] Lebensprozess“, um sowohl den Empirismus als auch den Idealismus zu umgehen: „Sobald dieser tätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten“ [65]. Folglich ist die „sinnliche Welt“ keine Ansammlung von Sinnesgegenständen, sondern sie ist als „die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen“ [66].

Die Produktionsmittel bilden folglich einen organischen Prozess und keinen mechanischen. In den 1844er Manuskripten verweist Marx auf Arbeit als „Lebenstätigkeit“, jedoch ist die materielle Tätigkeit als „Lebenstätigkeit“ wiederum im Zusammenhang mit dem Bewusstsein begriffen: „Der Mensch […] hat bewußte Lebenstätigkeit“ [67]. Statt Gegensätze zu bilden, werden Materielles und Geistiges als Ganzes betrachtet. Mit dem Nachdruck auf dem „Leben“ als dem, was dem Bewusstsein wesentlich ist, erschließt sich eine weitere Dimension der Marx’schen Beziehung zu Kant. Wie Brandom bemerkt hat, ist es „nicht besonders glücklich, das Selbst, das mit [Kants] synthetischer Einheit der Apperzeption identifiziert wird, unter Rekurs auf die traditionelle Kategorie der Substanz zu denken. Es ist die bewegte, lebendige Konstellation seiner ‚Affektionen‘, d. h. der begleitenden Verpflichtungen, aus denen es sich zusammensetzt und die es artikulieren“ (Brandom 2009, 41). Der kantianischen Auffassung nach sind Selbste keine Substanzen, denn die Einheit des Selbst ist das Resultat einer „synthetisch-integrativen Tätigkeit“. Allerdings sind sie auch keine reine Spontaneität, denn sie sind „bewegte, lebendige Konstellation[en]“ von „Affektionen“, sowohl empirisch geprägt als auch durch die eigene Denktätigkeit (ebd., Hervorh. im Orig.)

So begründet Marx einen neuen Zweig der Kant-Rezeption: Er folgt nicht Sellars und den Idealisten, die die kognitive Tätigkeit mit der Begrifflichkeit und den höheren Vermögen von Verstand und Vernunft identifizieren, sondern er etabliert eine neue Rezeptionslinie, die Kants Sinnlichkeit einen Status verleiht, der höher ist als der eines mit animalischem Instinkt und rohen Sinneseindrücken in Verbindung gebrachten niederen, trägen Vermögens. Von daher entwickelt Marx einen Gedankengang weiter, den, wie uns bereits deutlich zu werden begann, Kant selber mit seiner Darstellung von ästhetischer und organischer Erfahrung in der Kritik der Urteilskraft angefangen hatte, zur Sprache zu bringen.

Weil Bewusstseinstätigkeit Marx zufolge die Selbstreflexion darüber ermöglicht, was man tut, können die materiellen Prozesse der Arbeitstätigkeit, wenn sie nichtentfremdet erfolgen, in der Tat als frei gelten. „Die bewußte Lebenstätigkeit“, schreibt er, „unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit“, weil ihm durch sein Bewusstsein „sein eignes Leben […] Gegenstand“, „seine Tätigkeit freie Tätigkeit“ ist. Nichtentfremdete Arbeit besteht folglich in „freie[r] bewußte[r] Tätigkeit“ [68], in der die produktive Arbeitstätigkeit in die Bewusstseinstätigkeit eingebettet ist, vermittelt durch die sinnliche Rezeption dessen, was man empirisch produziert [69].

In der Marx’schen Diagnose ist der Gegensatz von Materialismus und Idealismus – einerseits ein verdinglichter, deterministischer, vulgärer Materialismus, andererseits ein Idealismus, der die gegenwärtigen ökonomischen Lebensbedingungen solipsistisch als Projektionen des eigenen Geistes versteht – symptomatisch für die umfassende Entfremdung unter dem Kapitalismus. [70] Unter Bedingungen der Entfremdung erscheint die Arbeit nicht mehr als eigene Tätigkeit, sondern als „äußerlich“, als „nicht [dem Arbeiter] eigen, sondern eine[m] andern“ gehörig; das „Produkt der Arbeit“ erscheint somit als „fremde[r] und über [den Arbeiter] mächtige[r] Gegenstand“ [71]. „Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innre Welt“ [72]. Unter Entfremdungsbedingungen scheint die Außenwelt nicht mehr das Produkt menschlicher Tätigkeit – damit auch nicht mehr das mögliche Ziel ihrer Veränderung –, sondern eine „fremde, gegenständliche Welt“ zu sein, während die menschlichen Subjekte nicht durch reiche „innre Welten“ und „freie bewußte Tätigkeit“ beseelt, sondern mechanistisch durch rohe Kausalkräfte determiniert werden. Überraschenderweise deckt sich dieses entstellte Bild nicht nur mit der Ansicht des vulgären Materialismus, sondern auch mit der des naiven Idealismus, insofern der letztere den Innenraum des Mentalen als von äußeren, empirischen Umständen nicht affiziert versteht (die folglich als „fremde, gegenständliche Welt“ erscheinen). Daher stellen für den Idealismus der Junghegelianer die „Verhältnisse“ der Menschen bloße „Ausgeburten ihres Kopfes“ dar, die „ihnen über den Kopf gewachsen“ sind, „Hirngespinste[], […] Ideen, […] Dogmen, […] eingebildete[] Wesen, unter deren Joch sie verkümmern“ [73]. Menschen sind, so Marx, weder Gegenstände noch Automaten, wie der vulgäre Materialismus denkt, aber auch keine körperlosen Geister, wie der naive Idealismus impliziert. Wenn Marx und Engels den scheinbaren Gegensatz von Materialismus und Idealismus ablehnen – damit auch die Spaltung von Geist und Materie als bloßer Begleiterscheinung kapitalistischer Entfremdung –, plädieren sie stattdessen für einen Materialismus, der das Empirische und das Ideelle, das Sinnliche und das Begriffliche, das Geistige und das Materielle integriert.

Kant konnte einer Lesart zufolge die Dichotomie von aktiver, in der Diskursivität fungibler Spontaneität und passiver, in der stummen Aufnahme des empirischen Gehalts bestehender Sinnlichkeit nur verstehen, indem er Ersteres dem noumenalen Bereich zuordnete und damit gänzlich außerhalb der Natur als dem empirischen Bereich menschlichen Lebens und menschlicher Tätigkeit verortete. So behauptet Kant, dass in dem Satz „Ich denke“ bereits „nicht mehr bloße Spontaneität des Denkens, sondern auch Receptivität der Anschauung“ sei, „d. i. das Denken meiner selbst auf die empirische Anschauung eben desselben Subjekts angewandt“ werde. In dieser Anschauung müsste „das denkende Selbst […] sich als Object an sich selbst nicht bloß durch das Ich [bezeichnen], sondern auch die Art seines Daseins [bestimmen], d. i. sich als Noumenon [erkennen], welches aber unmöglich ist“ [74]. Da die Spontaneität der Vernunft, wie sie sich in der Vorstellung „Ich denke“ zeigt, „reine Selbstthätigkeit“ darstellt, die „weit über alles, was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht“, muss das selbstbewusste Vernunftwesen „sich selbst als Intelligenz […], nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen“ [75].

Demgemäß bemerkt McDowell, dass Kants „isolierbare[r] Beitrag der Rezeptivität“ ihm das Postulat einer Unterscheidung zwischen dem noumenalen und dem phänomenalen Bereich abverlangt – eine Verpflichtung, die allein im Lichte der gegenwärtigen Philosophie als fragwürdig erscheinen kann: Für Kant stellt sich „die Rezeptivität als Empfänglichkeit gegenüber der Einwirkung einer übersinnlichen Realität“ dar, „von der angenommen wird, daß sie unabhängig von unserer begrifflichen Tätigkeit ist, und zwar in einem strengeren Sinn, als das, was zur empirischen Welt gehört“ [76]. „Wie aber kann“, fragt McDowell, „die empirische Welt wirklich von uns unabhängig sein, wenn wir teilweise für ihre grundlegende Struktur verantwortlich sind?“ [77] Auf dieser Grundlage weist er die „Verantwortlichkeit“ für die „Struktur“ des Geistigen nur dem Verstand zu und bestreitet einen „isolierbaren Beitrag“ der Sinnlichkeit, die er wiederum dafür hinreichend hält, jegliche Verpflichtung auf das Noumenale abzuweisen.

In Marx’ Fassung des Materialismus ist das bestimmte, in der Wahrnehmung Gegebene, wie etwa der Kirschbaum, nicht nur insofern „nicht gegeben“, als wir ihn nur abhängig vom diskursiven oder Begriffsschema erfassen, in das wir es einfügen, sondern auch insofern es durch seine Genealogie geprägt ist, durch die Rolle, die der Gegenstand im Laufe der Geschichte und Kultur der Menschen gespielt hat. Marx würde also dem Sellars’schen Standpunkt widersprechen, der besagt, dass das Mannigfaltige der Anschauung nur in dem Sinne „nicht gegeben“ ist, dass es begrifflich vermittelt ist, und dass die einzige Art und Weise, auf der die Sinnlichkeit vom Verstand getrennt werden kann, darin besteht, dass sie rohe Sinneseindrücke als „empirische Daten“ oder „sensorischen Input“, unabhängig von den diskursiven Bedingungen auf passive Weise empfängt. Gegenüber der ersten Vorannahme beharrt Marx darauf, dass der Gegenstand der Anschauung selber gemacht ist, gegenüber der zweiten behauptet er, dass sie gleichbedeutend mit der Leugnung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung und damit nichtentfremdeter Erfahrung ist.

Die Darstellung, die Marx von der Sinnlichkeit als Tätigkeit gibt, ist als solche für all jene eine echte Herausforderung, die den Mythos des Gegebenen ablehnen. Wie ließe sich die ästhetische Erfahrung, zumindest im Sinne der kantischen Theorie, begreifen, ohne die Erkenntnis als nicht vollständig durch den Verstand geleitet zu verstehen – ohne anderen Vermögen wie der reflektierenden Urteilskraft, der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft eine eigenständige Rolle zuzumessen? Lässt sich der „Mythos“ nur als passive Rezeptivität von Sinnesdaten oder als unmittelbarer Kontakt mit der empirischen Wirklichkeit begreifen? Lässt sich der Beitrag der Erkenntnis zur Erfahrung allein als Beitrag des Verstandes auffassen? Ich sehe keinen Weg, Marx’ Darstellung der Tätigkeit der Wahrnehmens zu verstehen – mit ihrer gleichzeitigen Betonung der Bedeutung ästhetischer Erfahrung und der Einstimmung der Wahrnehmung auf die Besonderheit des materiellen Lebens –, ohne diese Vorannahmen aufzugeben.

4

Mit dem Begriff des Lebens lässt sich erfassen, wie der Materialismus von Marx eine wirkliche Alternative zum „mechanischen Materialismus“ begründen kann, auch wenn Marx und Engels ihn unter dieser Namensgebung noch nicht kannten. Hier können wir zu Engels’ späteren Betrachtungen über den mechanischen Materialismus zurückkehren, nachdem wir beide in ihrem zugehörigen Kontext situiert haben. Engels schreibt 1886 nach Marx’ Tod:

Der Materialismus des vorigen Jahrhunderts war vorwiegend mechanisch, weil von allen Naturwissenschaften damals nur die Mechanik, und zwar auch nur die der – himmlischen und irdischen – festen Körper, kurz, die Mechanik der Schwere, zu einem gewissen Abschluß gekommen war. Die Chemie existierte nur erst in ihrer kindlichen, phlogistischen Gestalt. Die Biologie lag noch in den Windeln; der pflanzliche und tierische Organismus war nur im groben untersucht und wurde aus rein mechanischen Ursachen erklärt; wie dem Descartes das Tier, war den Materialisten des 18. Jahrhunderts der Mensch eine Maschine. Diese ausschließliche Anwendung des Maßstabs der Mechanik auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind und bei denen die mechanischen Gesetze zwar auch gelten, aber von andern, höhern Gesetzen in den Hintergrund gedrängt werden, bildet die eine spezifische, aber ihrer Zeit unvermeidliche Beschränktheit des klassischen französischen Materialismus. [78]

Engels schreibt hier den Materialismus Feuerbachs und seinesgleichen einem mangelhaften Naturverständnis zu, das wiederum einer mangelhaften Entwicklung der Naturwissenschaften zugeschrieben wird. Die Naturwissenschaften bewegten sich nur innerhalb der Grenzen der klassischen Mechanik – die allein der Physik Raum bieten konnte, die komplexeren Disziplinen der Chemie und Biologie aber gänzlich aus dem Bereich der Wissenschaften ausschloss –, weshalb sich organische Naturgegenstände einschließlich des Menschen nur mechanistisch begreifen ließen – als unerbittlich determinierte „Maschinen“. Einer solchen Darstellung widersprechend behauptet Engels, die wissenschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert hätten die Möglichkeit geschaffen, Naturvorgänge zu verstehen, indem die „mechanischen Gesetze“ von „von andern, höhern Gesetzen in den Hintergrund gedrängt“ würden, sodass sich der „pflanzliche und tierische Organismus“ nunmehr unter den dynamischen Bedingungen des Lebens begreifen ließe, statt dass man diese Organismen aus „rein mechanischen Ursachen“ erklären müsse: zunächst teleologisch, letztlich aber auch im Zusammenhang natürlicher Auslese. Dementsprechend sollte Engels in seinem Nachruf auf Marx ihn mit Darwin vergleichen: Darwin „entdeckte das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur auf unserem Planeten. Marx ist der Entdecker jenes grundlegenden Gesetzes, das den Gang und die Entwicklung der menschlichen Geschichte bestimmt“ [79].

Es ist m. E. wichtig zu betonen, dass Engels, wenn er organische Prinzipien statt der nur mechanischen als für „andere[], höher[e] Gesetze“ grundlegend anerkennt, eine Sicht auf die historische Verlagerung von der Teleologie zur natürlichen Auslese entwickelt, die sich vom gemeinen Verständnis dieser Verschiebung unterscheidet. [80] Viele haben das Erscheinen der natürlichen Auslese Darwins als Erweiterung der mechanistischen Erklärung auf den Bereich des biologischen Lebens verstanden, was verschiedene nichtvitalistische und physikalistisch reduktionistische Sichtweisen der Einheit der Naturwissenschaften ermöglicht hat. [81] Diesem Verständnis nach bilden biologische Erscheinungen also, statt dass für teleologische Erklärungen eine irreduzible Ebene postuliert würde, mit mechanistischen Ursache-Wirkungs-Beziehungen ein Kontinuum. Im Unterschied dazu behauptet Engels, die Wissenschaft müsse Erklärungsweisen entwickeln, die elaborierter sind als jene, die sich auf die „ausschließliche Anwendung des Maßstabs der Mechanik auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind“, beschränken, um Biologie und Chemie als vollwertige Wissenschaften einzubeziehen, [82] was mit Argumenten zusammenpasst, denen zufolge bei der natürlichen Selektion Darwins der nichtmechanistischen, zweckmäßigen Erklärung ein irreduzible Rolle zukommt. [83] Den Nachweis zu erbringen, dass die Natur ein Bereich des Lebens ist, statt eine Ansammlung deterministisch affizierter Gegenstände zu sein, dass sie dynamisch und nicht mechanisch ist, verlangte nach einer Neuausrichtung von Erkenntnis im Gang der Wissenschaftsgeschichte. Man kann in der Tat zeigen, dass schon Kant, statt die mechanistische Erklärung auf Organismen nur auszudehnen, in der Kritik der Urteilskraft über die Sprache des Mechanizismus hinausgeht, um komplexere Naturerscheinungen einzubeziehen. Engels behauptet, dass diese größere Komplexität wissenschaftlicher Erklärungen letztlich eine anspruchsvollere Fassung des Materialismus ermöglicht. [84]

Engels’ Zurückweisung des „mechanischen Materialismus“ erinnert somit an Kants Auffassung, dass biologische Organismen nur denkbar sind, wenn die mechanistische Erklärung durch einen Begriff des Zwecks als eines „heuristische[n] Princip[s]“ ergänzt wird, „wenn es gleich die Entstehungsart derselben uns eben nicht begreiflicher macht, […] gesetzt auch, daß man davon keinen Gebrauch machen wollte, um die Natur selbst darnach zu erklären“ [85]. Mit anderen Worten ist unsere Aufnahme eines empirisch Besonderen (des Organismus) in das Bewusstsein ein tätiger Prozess, ein solcher, bei dem die Normativität des Denkens vermöge der Einbindung neuer Prinzipien – solcher Prinzipien, die uns erlauben, das besondere Ding, den Gegenstand der Anschauung auf neue Weise zu verstehen – umorientiert werden kann. Kant stellt somit einen neuen Wissenschaftsbegriff vor, demzufolge Erkenntnis, um neue empirische Erscheinungen einzubinden, reflexiv umorientiert werden muss, wobei vorausgesetzt wird, dass sich die durch den Verstand gelieferten Begriffsschemata vom empirische Besonderen her herausfordern lassen. Die Überlegungen Kants zur organischen Natur konfrontieren uns also mit der Erkenntnis, dass das Bewusstsein weder darin bestehen kann, der materiellen Welt das Geistige und dessen rigide Schemata mit aller Macht überzustülpen, noch darin, das Geistige der mechanistischen Kausalität der Materie einfach auszuliefern. Allerdings setzt dies erst einmal voraus, dass wir das Besondere als Besonderes aufnehmen, als etwas, das potenziell nach neuen Begriffen und Prinzipien verlangt, statt als etwas, das bereits von Anbeginn diskursiv determiniert ist. [86] Gefordert wird eine Art Beurteilung der Erfahrung für solche Fälle, in denen „nur das Besondere gegeben [ist], wozu [die Urtheilskraft] das Allgemeine finden soll“ [87].

In der dritten Kritik schreibt Kant die „constitutiven Principien a priori“ für „das Gefühl“ der Urteilskraft zu. [88] Wie wir oben sahen, befördert er damit also eine Darstellung der Ästhetik, die einen Sinnlichkeitsbegriff zur Voraussetzung hat, der unabhängig von den Begriffsoperationen des Verstandes bestimmbar ist. Kants Argument ließe sich anderes gesagt erweitern, indem man sagt, dass der Prozess, „zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden“ statt „blos […] das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begrif gegeben ist) zu subsumieren“ [89], nach einer Tätigkeit der Sinnlichkeit verlangt, einem Vermögen, das sich in solchen Fällen nicht mehr strikt dem Verstand unterordnen ließe [90]. Kant weist natürlich die Tätigkeit letztlich nicht der Sinnlichkeit, sondern der reflektierenden Urteilskraft zu. Dennoch misst er auch dem freien Spiel der Einbildungskraft eine entscheidende Rolle bei, die er zuweilen als Sinnlichkeit versteht. [91]

Also besitzt, wie Lukács vermerkt hat, das revolutionäre „Verhalten […] ein konkretes und wirkliches Erfüllungsgebiet: die Kunst“, was durch die theoretische und praktische „Vermittlerrolle“ bezeugt wird, die „Kant in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ diesem Prinzip [der Kunst]“ bei der „Vollendung [seines] Systems[] zugewiesen“ hat. [92] Durch den Rekurs auf die reflektierende Urteilskraft, hier in ihrer ästhetischen Ausdrucksform, verortet Lukács seinen Begriff der Praxis: „Wenn der Mensch nur ‚wo er spielt‘ ganz Mensch ist, […] könnten [die] Inhalte des Lebens […] der ertötenden Wirkung des verdinglichenden Mechanismus entrissen werden. Sie werden aber doch nur, insofern sie ästhetisch werden, dieser Erörterung entrissen“ [93]. Bekanntermaßen macht Marx in seinen Manuskripten aus dem Jahre 1844 eine ähnliche Bemerkung: In der nichtentfremdeten Arbeit „[formiert] der Mensch […] nach den Gesetzen der Schönheit“ [94]. Damit stellt Marx eine Verbindung zwischen den beiden Bedeutungsebenen „sinnlicher Tätigkeit“ her, die ich bisher erläutert habe: der praktischen (im Sinne von „praktischer Zweckmäßigkeit“ oder „Willkür“) und der sinnlich-perzeptiven (was Kant als die Affektion des Geistes durch das Mannigfaltige der Anschauung auffassen würde). Beide sind, wie ich in Abschnitt 2 aufgezeigt habe, für Marx wesentlich ästhetisch und organisch (sie sind Äußerungen des „Lebens“). Marx zufolge können wir die „ganze[] sinnliche[] Welt“, genauso wie unser „eignes Anschauungsvermögen“ als durch die „Tätigkeit“, das „Arbeiten und Schaffen“, als durch „Produktion“ geprägt verstehen lernen. [95] Allerdings erlernen wir diese Sichtweise nur dann, wenn wir den Bereich der Erkenntnistätigkeit über das Gebiet der Begriffsschemata hinaus erweitern, um in jene Darstellung des Mannigfaltigen der Anschauung dieses Mannigfaltige als mehr als bloße Begriffsinhalte einzubeziehen. [96]

Aus dem Englischen von Veit Friemert

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Published Online: 2025-05-26
Published in Print: 2025-05-26

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