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Ethik und Ökonomie der Zeit

Georg Wickrams Nachbarn-Roman
  • Christian Kiening EMAIL logo and Ricardo Stalder EMAIL logo
Published/Copyright: November 29, 2022

I.

Der frühneuzeitliche Prosaroman lässt ein wachsendes Interesse an Dimensionen der Zeitstrukturierung, der Zeitgestaltung und der Zeitdarstellung erkennen. Verschiedentlich werden die Möglichkeiten der Zukunftsplanung relevant.[1] Im ›Fortunatus‹ (1509) treten temporale Kontinuitäten und Eigenzeiten in den Vordergrund.[2] Im Ritterroman ›Brissonetus‹ (1559) wird die Handlung zunächst zeitlich exakt strukturiert, dann aber in eine allegorische Überzeitlichkeit transformiert. Im ›Finckenritter‹ (1560) ergibt sich ein groteskes Verhältnis zwischen der Zeitstruktur der Reise und der Verkehrung linearer Zeitverhältnisse.

Besonders ausgeprägt ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Zeit und der Zeitlichkeit bei Georg Wickram.[3] Schon der anonym publizierte ›Ritter Galmy‹ (1539), unsicher in der Zuschreibung, spielt mit dem Spannungsverhältnis zwischen der dynamisierten kurzen Zeit bestimmter Aktionen und der notwendig auf eine längere Zeit angelegten Perspektive des heimlichen Liebespaares.[4] Im ›Goldtfaden‹ ist die Anstrengung unternommen, die individuelle, lineare, gestaltbare Zeit in ihrer vielschichtigen Beziehung zu einer kollektiven, zyklischen, unverfügbaren Zeit zu zeigen.[5] Im ›Irr Reitend Pilger‹ (1556) löst nicht nur die Figur der Stunde die des Todes ab, es geht auch im Ganzen um die Möglichkeit einer Ars vivendi, die sich in sinn- und maßvoller Zeitgestaltung manifestiert.[6] Im ›Rollwagenbüchlein‹ (1555) spielt das Nutzen von Gelegenheiten eine zentrale Rolle; hier findet sich die charmante Geschichte (Nr. 47) eines lothringischen Pfarrers, der die herkömmlichen Kalender nicht versteht und mittels der Herstellung von Besen eine eigene Zeitökonomie kreiert.[7]

In diesen Kontext gehört auch Wickrams letzter Erzähltext, der Nachbarn-Roman (1556), der zwar nicht wie der Pilger-Roman Zeit als Abstractum zur Erscheinung bringt, aber, verglichen mit den anderen Texten, das wohl dichteste Netz zeitlicher Indikatoren webt.[8] Der Roman setzt dadurch eigene Akzente, dass er zeitliche Dimensionen (1) im kaufmännisch-städtischen Milieu, (2) in Nahverhältnissen der Freundschaft, Nachbarschaft und Familie und (3) im Verbund der Generationen entwirft.[9] Er spiegelt damit auf gewisse Weise das auch sonst beobachtbare Erproben neuer Formen der Vergesellschaftung,[10] die Individualisierung der Fortuna,[11] den ökonomischen, Haushalt und Marktwirtschaft verknüpfenden »Übergang von der mittelalterlichen zur frühneuzeitlichen Gesellschaft«[12] und die neuartige von Unsicherheit, Gefahr und Angst geprägte Lebenswelt der (Groß-)Stadt.[13] Zugleich entwirft er, so unsere These, das Modell eines familial, temporal und ökonomisch selbstbestimmten Lebens, das den immer wieder auftauchenden Instabilitäten und Kontingenzen durch die Setzung von Fixpunkten, Wiederholungen oder zukunftsbezogenen Kontinuitätsstiftungen entgegenwirkt. Dieses Modell wird mit Blick auf die Schwierigkeiten der ersten Generation entworfen und in den weiteren Generationen sukzessive unter Überwindung je neu auftauchender Hindernisse realisiert. Das macht es nötig, die einzelnen Etappen, untereinander vielfach verbunden, etwas ausführlicher nachzuzeichnen, um die vielfältigen temporalen Kategorien sichtbar zu machen.[14]

II.

Die Vorreden des Nachbarn-Romans entwerfen eine Skizze der Gegenwart, deren Gewohnheiten und Muster in Kontrast zu einer guten gemeinschaftlichen Lebensgestaltung stehen. Die Zeit, als Nachbarn gemeinsam an offenen strassen speisten und in zucht und ehren beieinander saßen (9,5–7), ist im Vergehen begriffen oder bereits vergangen.[15] Die erste Vorrede, gerichtet an den Kunstliebhabenden Caspar Hanschelo (5,1 f.),[16] thematisiert dies anhand der die Zeiten übergreifenden Dichotomie zwischen dem zenckischen / ungetrewen (5,27) und dem gůten und getrewen nachbauren (6,10 f.). Die zweite, an die Lesenden gerichtet, erinnert an die Situation zůzeiten (9,9), als gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zuneigung blutsverwandtschaftlichen Verhältnissen äquivalent gewesen seien, was yetzunder (9,18) nicht mehr der Fall sei. Schlechte berufliche Ausbildung und fehlende moralische Unterweisung hätten dazu geführt, dass die Jugendlichen, kaum haben sie ein Handwerk gelernt, fälschlich meinen, sie hätten ihre jar der lehr schon überkummen (10,6f.), und gar nicht wissen, wie sie ein meister / frawen oder gesellen halten sollen (9,27f.). Sie wandern herum, geraten in Armut – eine den Adressaten, anders als ihren Vätern, vertraute Situation: Dann wie dirs gangen ist / so mags iren noch mehr gangen sein (10,26f.).

Solchermaßen auf Wahrscheinlichkeit und Lehrhaftigkeit angelegt, demonstriert der Roman die gegenwärtigen Missstände anhand des Gegensatzes zwischen dem niederländischen Kaufmann Robertus, Repräsentant der ersten Generation, und einem zaͤnckischen / arglistigen / und alventzischen nachbauren (12,19 f.), Tuchbereiter von Beruf. Seine aus aller Welt stammenden Gesellen üben schlechten Einfluss auf den Sohn des Tuchbereiters aus, der yeder zeit mit fleis acht [nam] / uff die reden (12,25 f.). Sie erzählen über ihre jeweilige Heimat. Das gibt der Sohn weiter, als habe er es selbst erlebt. Robertus versucht sein Verhalten zu korrigieren: so sey er noch nit der jaren / das er die ding alle (deren er sich rhuͤme) erkundiget habe (13,1 f.). Als das nichts fruchtet, verbietet er den eigenen Kindern, mit dem Jungen zu verkehren. Daraufhin lehnt wiederum der Nachbar die Einladung in Robertus’ Haus ab und geht auch auf den Versuch, zwischen den Generationen zu unterscheiden (wir woͤllend gůte liebe freundt mit einander sein / Und uns der kinder sachen nichts beladen; 14,22–24), nicht ein.

Die konträren Auffassungen führen bei Robertus und seiner Ehefrau Sophia zu einer grundlegenden Verunsicherung. Sie müssen begreifen: Ein tugendhaftes Leben und eine gute Erziehung garantieren noch keinen Bestand von zeitliche[m] gůt (12,10). Die Dinge sind sub specie aeternitatis, im Blick auf die letzte Stunde zu betrachten, was besonders virulent wird, als Robertus aufgrund einer plötzlichen Krankheit alle Kinder (bis auf die jüngste Tochter) und alle Lebenslust verliert (18,3–15). Ein Gelehrter erinnert ihn, auf Hiob und David rekurrierend, an die Gegebenheiten in disem zeitlichen jamerthal (24,5) und an die Notwendigkeit, sich nicht zulange der Trauer anheimzugeben: Da Geburts- und Todesstunde außerhalb der zugänglichen Zeitdimension lägen, sei maßvolles Trauern gottgefällig und Ausdruck der Akzeptanz der conditio humana.[17]

Soweit die Exposition. Sie verbindet mehrere Zeitlichkeiten: die genealogische, die lebensbezogene, die soteriologische. Doch sie verbindet sie im Modus der Krise, einer Krise, die sich, so die Konstruktion, nicht einfach durch Einsicht und Demut, sondern durch Ergreifen einer sich bietenden Gelegenheit bewältigen lässt – hier der Gelegenheit zum Ortswechsel.[18] Robertus erhält den Brief eines alten Onkels, der ihn bittet, von Antwerpen nach Lissabon umzuziehen, um sein Haus und sein Geschäft zu übernehmen.[19] Er sagt zu und zieht um. Der Onkel lebt noch einige Jahre in der Pflege seiner Verwandten, bis er stirbt. Robertus wiederum, selbst nicht mehr der Jüngste, begegnet auf einer Handelsreise dem jungen Kaufmann Richard (auch: Reichart, Reichardus, Richardus), der während der Schifffahrt erkrankt und in Robertus’ Obhut gesund gepflegt wird.

Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, die einem Vater-Sohn-Verhältnis nicht nur ähnelt (vgl. 30,19), sondern dieses konkret herstellt: Wie sich ergibt, ist Richard unverheiratet und elternlos, während Robertus keinen Sohn mehr hat. Verband sich schon mit dem Auftauchen des Onkels eine Verschiebung der normalen genealogischen Sukzession, wird nun aufgrund der fehlenden familialen Bindungen ein dezidiert nicht auf gegebener Verwandtschaft, sondern auf gewählter Freundschaft beruhendes generationenübergreifendes Verhältnis begründet: Ich soll und můs euch billich einen vatter und meinen aller besten freunt bekennen (34,14f.).[20] Die mit dem Onkel ins Spiel gekommene Kontingenz verstärkt sich mit der Begegnung zwischen Robertus und Richard, die dem in der ersten Vorrede erwähnten Prinzip folgt, das zwen gůter fründ unbekanter weiß zůsamenkumen / und früntschafft zůsamen sůchen, obschon sie nit einer lands art / haben einander nie erkant (5,29–6,2).

Wie die Stunde des Todes liegt auch die Ursache von Begegnungen nicht in der Hand der Figuren, sondern in derjenigen Gottes.[21] Was die Figuren vermögen, ist, die Gelegenheit zur Beziehungsstiftung zu ergreifen und Beziehungen selbst zu gestalten.[22] Zum Beispiel einerseits dadurch, dass das Freundschaftsverhältnis in ein familiales übergeht: Richard hält bei Robertus um die Hand seiner Tochter Cassandra an.[23] Andererseits dadurch, dass das Verhältnis auch noch Züge einer ökonomischen Partnerschaft erhält: Robertus bietet Richard an, sein Geschäft mit ihm zu führen und bei ihm zu wohnen – ein deutlicher Kontrast zum Konflikt mit dem Tuchbereiter. Auch die jahreszeitliche Semantik ist klar: Indem die Gründung der Familie und die Fortführung der abgebrochenen Genealogie auf den Frühling fallen, koinzidieren natürliche und gestaltbare, unverfügbare und verfügbare Zeit.[24] Nicht zuletzt an der für Robertus fraglosen Einbeziehung der Tochter in die Entscheidung verdeutlicht sich der Gegensatz zu den eingangs aufgerufenen gegenwärtigen Missständen:

[S]o wolt ich auch (sie die dochter) nit gern zwingen / das sie wider iren willen einem jüngling oder witwer solt vermehelt werden / zů welchem sie keinen willen het / Wiewol etliche und vil vaͤtter und muͤtern der neigung sind / ihre kinder etwan von grosses gůts wegen an ein ort wider unnd über iren willen zů stossen / da sie weder gunst / liebe noch willen hin haben / was aber zů zeiten aus solcher vermaͤhlung gůts erwachset / sicht man leider zů vil wol / ja das offt die alten ir haͤnd ob den koͤpffen zůsamen schlagen muͤssen (36,8–16).

Das ist für Robertus’ Ehefrau Sophia auch deshalb wichtig, weil sie befürchtet, sie selber könne einen frühzeitigen Tod erleiden, wenn Richard eines Tages in seine Heimat Spanien zurückkehren sollte: Ich bin des gantz gewiss / das ich vor meiner uffgesetzten und geordneten stund meinen geist muͤßte Gott dem Herren auffopfern (37,29–38,2). Gerade angesichts der Unverfügbarkeit der letzten Stunde geht es darum, die Lebenszeit so zu gestalten, dass mit keinen Abweichungen von der Erwartung zu rechnen ist. Robertus nimmt Sophia ihre Bedenken mit Blick auf den Konnex von Gewerbezusammenschluss, Ortsbindung und Nahverhältnis.[25]

Sind die Eltern auf den Willen der Tochter bedacht, ist es dieser wiederum wichtig, dem Willen der Eltern gerecht zu werden (39,8–14).[26] Am Ende sind alle glücklich über die Entscheidung zur Heirat: Die Präferenzen der Eltern erfüllen sich, Cassandra freut sich über das gute Aussehen und große Vermögen des Bräutigams (39,21–23). Sie erhält bei der Hochzeit, die in mehrfacher Weise, jahres- wie tageszeitlich, hervorgehoben ist (Es was eben auff disen morgen der lieb und selige Mai angegangen / Die morgenroͤte /mit gar froͤlichem anblick / in rosienroter farben /mit schoͤner wath angethon / sich sehen liess; 46,4–6), eine reiche Morgengabe.[27] Richard stellt ihr in Aussicht: sollend ir taͤglichen mehr / und vil bessers von mir gewarten sein / so uns anders Got ein zeitlang frisch und gesunt bey einander lassen will (47,21–24).

Erneut wird hier an den erinnert, der einzig und allein über die Zeit verfügt. Und diese Erinnerung erfolgt nicht zufällig in einer Situation, in der zwar scheinbar alles sich zum Guten gewendet hat, tatsächlich aber die nächsten Schwierigkeiten schon vor der Tür stehen. Ein Nachbar, Gewandbereiter, stört sich am freigebigen Umgang mit den Armen im Rahmen des Hochzeitsfestes – die Situation des Anfangs scheint wiederzukehren. Auch ist Richard noch nicht wirklich in Lissabon etabliert – er möchte deshalb erst etwas später, von einer Reise nach Spanien zurückgekehrt, ein größeres Hochzeitsfest feiern.[28] Zudem gibt es, wie sich auf der Reise zeigt, noch weitere Altlasten: zwen jung Portugaleser / so einander nahendt verwandt waren (50,18 f.), planen einen Anschlag auf Richard; der eine hat ebenfalls um die Hand Cassandras angehalten, wurde aber von Robertus abgewiesen; beide stoßen sich an Robertus’ Prinzip der Wahlfreundschaft – Nimpt disen hargeflognen Spanier auff / des gens man doch nit erkennet / in gantzem Portugal (52,6f.).[29]

Als es mit Hilfe einer neuen Figur, Lasarus, ein reicher goldschmit / so sein handel mit berlin und kostichem edlem gestein fuͤret (54,1 f.), gelungen ist, den Anschlag abzuwenden, fragt Richard, was der Grund für die Feindschaft sei, wo man sich doch gar nicht kenne. Er erfährt: Der Hass wurde einfach vom Brautvater auf ihn übertragen. So wie der böse Nachbar anfangs den Generationenunterschied verwischte, vollziehen die Anschläger eine dem blutsverwandtschaftlichen Modell folgende Gleichsetzung von Robertus und Richard, die im Gegensatz steht zu deren Modell einer Integration von Freundschaft, Familie, Verwandtschaft und Ökonomie, ein Modell, das sich im Verhältnis zwischen Richard und seinem Retter Lasarus wiederholt.[30] Zwar handelt es sich, anders als bei Robertus, um eine Freundschaft zwischen Gleichaltrigen. Ihr Aufeinandertreffen ist aber nicht weniger kontingent als das von Robertus und Richard. Wieder geht es um die sich bietende Gelegenheit.[31] Und wieder sind zwei Faktoren entscheidend: das Nahverhältnis und der Handel. In den Worten von Lasarus: Mein lieber Richarde / wann mich ewer herr schweher wol gemeint / und mir sein neben haus zůkauffen gebe / dieweil er das nit braucht / wir wolten gnůg nah zůsamen kumen (59,7–10). Robertus gewährt ihm den Hauskauf. Die beständige Nähe und enge Zusammenarbeit der Freunde ist aber nicht selbstverständlich. Sie löst Verwunderung bei der Umgebung aus (61,3). Selbst Lasarus’ Ehefrau kann es zunächst kaum glauben, dass Richard ihm den Betrag für den Hauskauf geschenkt haben sollte: Wie möcht das müglich sein / das dir ein man / so dir noch mir gar nichts verwandt ist / solt eine semliche schencke thůn (60,8–10).

Mit dem Auftauchen von Lasarus als idealem Freund und Geschäftspartner tritt Robertus in den Hintergrund. Die Ablösung der Generationen nimmt ihren Lauf. Zeitsemantisch wird die scheinbar kontingente Situation, bei der eine unvorhergesehene Begegnung weitreichende Konsequenzen zeitigt, durch eine Reihe von Signalen aufgefangen, die einerseits die Schnelligkeit des gegenwärtigen Handelns markieren, andererseits die Kontinuität zwischen Gegenwart und Zukunft perspektivieren.[32] Man will sich bald (59,16) über den Kauf einig werden. Robertus handelt, [a]ls bald (59,17 f.) er Richards Aussage gehört hat. So bald sie das mal volbracht hand (59,21), führt Richard Lasarus in seine Schreibstube und erklärt ihm: fürthin disen tag und alle tag / soltu mein brůder genant werden (59,26 f.). Lasarus seinerseits erbietet sich auch aller underdienstbarkeit / sein lebenlang gegen im (59,32 f.).

Wieder löst sich eine kritische Situation in Wohlgefallen auf. Wieder aber ist die Stabilität (noch) nicht von Dauer. Eine neue Kontingenz macht sich bemerkbar, nun explizit mit Fortuna verbunden: In diser zeit / wolt danocht das glück nicht gar für und für mit disen zweien gůten gesellen sein / sunder inen auch etwas überzwerchs under die fuͤss legen (63,4–6). Bei der dem (ersten) Hochzeitsfest folgenden gemeinsamen Handelsreise von Richard und Lasarus wird Lasarus von einem Gehilfen hintergangen und auf ein türkisches Schiff verkauft. Im klagenden Selbstgespräch stellt er fest, wenn sein (noch schlafender) Freund und Geistesbruder von seiner gegenwärtigen Situation wüsste, würde er gewiss sofort aufwachen und sich eylends (65,13) um seine Rettung kümmern. In der Tat begibt sich Richard, als er den Freund nicht findet, eylends (66,10) in die Kirche, um ihn dort zu suchen; dann eylet [er] bald auff den marckt (66,12 f.).

Alle entscheidenden Ereignisse spielen sich morgens ab: Am Morgen (64,10) geht Lasarus an den Hafen, wo er entführt wird, am Morgen (66,13) sucht Richard auf dem Markt nach Lasarus, für nach dem morgen ymbis (67,25) verabredet er sich mit einem hilfebietenden Kaufmann, am Morgen bei Tagesanbruch (71,8) wird schließlich der mittlerweile entlarvte Täter gehängt. Der Erzähler zieht daraus die Lehre, man solle bey gůter zeit (72,21 f.) zurück in der Herberge sein, weil die Nacht niemandts frünt (72,24 f.) sei. Er stützt dies durch einen biblischen Tag-Nacht-Gegensatz: So sagt auch Christus selb im Evangelio / Es sind zwoͤlff stunden im tag / welcher am tag wandlet / der stoßt sich nit / dann das liecht ist in im / Welcher aber bey nacht wandlet / der würt sich gar bald stossen / das macht das liecht ist nit in im (72,24–28). Das deckt sich zwar nicht genau mit dem Handlungsablauf, zeigt aber, wie ein zunächst kontingent wirkendes Ereignis durch Wiederholungsstrukturen den lebenszeitlichen Rhythmen eingefügt werden kann. Temporalisierung und Ökonomisierung gehen dabei Hand in Hand: Als die Protagonisten wieder zu Hause sind und Richard von dem Zwischenfall erzählt, beschreibt er den Freund Lasarus als liebste[ ] kauffmanschafft / […] wiewol die ein geringes kostet / so waiß ich dannocht / Lucia würt die für die kostlichsten wahren erwelen (80,24–26).

Zu dem Zeitpunkt, als Richard dies sagt, haben allerdings die Protagonisten nicht nur die eine Gefahr überstanden (sie haben zů allem irem glück [76,4] ein Kaufmannsschiff gefunden, das an einem bestimpt tag [76,8] nach Portugal zurücksegelt). Sie haben schon die nächste, obschon kleinere, Krise bewältigt. Das Schiff nämlich gerät in ein großes Unwetter, zeitgenössisch als fortuna di mare bezeichnet.[33] Es muss im Hafen einer unbekannten Insel Schutz suchen.[34] Man hat einige Tage (77,4), schließlich eine ganze Woche (77,19) Zeit, auf guten Wind zu warten, und nutzt die naturbestimmte, unverfügbare Wartezeit zu einer Gestaltung der sozialen Zeit – Alltagsroutine als Zeitvertreib: das dannocht iren keinem die zeit lang was / wann dann die jaͤger des abents mit dem wiltbrett kamen / so was schon das essen auffs fleissigst bereittet / Als dann sassen sie zůsamen und waren froͤlich und gůter dingen (77,20–24).

Die männlich-kaufmännische Ordnung ist geprägt von Nahrungsüberfluss (Wildbret, Früchte), Arbeitsteilung und Tagesstruktur. Viele der Reisenden finden das erfüllend und beklagen nur, dass die Insel unbewohnt ist. Andere würden gerne zu ihrem gewerb und haͤndel (78,6) zurückkehren. Richard und Lasarus sehnen sich nach dem gůten rhat (78,5) und der Wahlgemeinschaft, die bei ihnen zuhause herrscht.[35] Die Erzählinstanz unterstützt ihre Haltung. Die conditio humana bestünde darin, dass jeder zů unrů geboren und erschaffen ist und nach Gottes ordnung sein arbeit und lauff volbringen muss (78,8–10). Verworfen wird die Form des naturverbundenen insularen Lebens zugunsten einer mit dem Gewerbe und der Stadt korrelierten Arbeitsethik.[36] Sie steht unter dem Diktat der Unruhe und der Mühe. Nur der Arme könne einfach sein Essen genießen und bei Nacht ruhig schlafen, der reiche Bürger und Kaufmann hingegen werde Tag und Nacht umgetrieben von seinen Geschäften, von der Sorge um Hab und Gut: Er můs seiner zinß und renten behelffen / můs mit andrer arbeit sein stündlin erlangen (78,14–16). Verschafft dem Armen die Arbeit ein geregeltes Tag-Nacht-Verhältnis, muss der Reiche sein Leben sorgsam kalkulieren; für ihn ist nicht der Tag, sondern die Stunde die entscheidende Bezugsgröße.[37] Wissend um die Unverfügbarkeit der letzten, von Gott uffgesetzten und geordneten stund (37,29–38,1), hat er seine Zeit so zu gestalten, dass Familie, Nachbarschaft, Ökonomie und Religion vereinbar bleiben.[38]

Lebensgestaltung erscheint im Nachbarn-Roman, so kann man an dieser Stelle schon einmal bilanzieren, als Praktizieren zeitökonomischer und zeitethischer Prinzipien. Es gilt, die verfügbare Ressource Zeit so zu handhaben, dass ihre grundsätzliche Unverfügbarkeit bewusst bleibt. Zeigt sich bei Cassandras Heirat das Gelingen am Koinzidieren von jahreszeitlichen Etappen und Lebensabschnitten, so in anderen Fällen am Zusammentreffen richtiger Entscheidungen, ergriffener Möglichkeiten und ökonomischer Erfolge. Den in Stunden eingeteilten Tag in merkantil wie sozial richtiger Weise zu gestalten, kann die Hoffnung nähren, keines unzeitigen tods (85,26) zu sterben beziehungsweise die von Gott gesetzte letzte Stunde zu erreichen.

III.

Während Richard und Lasarus auf Reisen sind, kommt das erste Kind der dritten Generation zur Welt. Beide Ehefrauen sind schwanger, wohnen beisammen und haben ein ebenso inniges Verhältnis wie ihre Männer. Lucia, Lasarus’ Frau, gebiert einen Sohn. Robertus vollzieht in seiner Führungsrolle die Taufe. Er schickt seine Tochter Cassandra zur Pflege von Lucia. Andeutungsweise entsteht eine Alltagsstruktur: Cassandra was taͤglich bei ir / damit sie dester kurtzer zeit haben solt (74,22 f.). Doch scheitert der Versuch, einen Alltag in Abwesenheit der Ehemänner aufrechtzuerhalten. Lucia wird krank aus Unwissenheit und Angst um ihren Mann, was auch Cassandra ansteckt. Als Robertus mit einem Brief von Lasarus zu Lucia kommt, die Nachricht baldiger Heimkehr enthaltend, genest sie in gar kurtzen tagen (75,24). Wie auch in der Gefahrensituation der Männer dient die Handlungsbeschleunigung dazu, die Krise zu bewältigen: Robertus nam bald des Lasarus brieff / eylet damit zů seiner krancken gefatterin der kindtbetterin / gab ir den brieff / Die erkant von stundan ihres herren geschrifft (75,7–10). Die Nachricht der Männer, sie hätten alles erledigt und würden nur noch auf ein Schiff warten, schafft eine absehbare Zeitspanne, die die Ungewissheit kanalisiert: Also habend sie die übrig zeit mit verlangen gewartet (75,29).

Bei der zweiten Geburt, der von Cassandras Tochter, sind die Ehemänner zwar nicht verreist, doch steht auch dieses Mal das Verhältnis der Ehefrauen im Fokus. Die Wahrnehmung der Geburtszeit erfolgt im Nahverhältnis der Freundschaft. Lucia bekräftigt umgehend, sie werde bei Cassandra bleiben, und versetzt ihrer beider Nähe in eine überzeitliche Dimension: vertraw diser Lucien / die würt dich in irem leben nit verlassen / und so es auch müglich wer / das wir nach unserem absterben einander dienst beweisen künden / wolt ich mich gegen dir in keinerley weg sparen (83,9–13). Lucia verspricht, das Nahverhältnis ihr Leben lang aufrechtzuerhalten. Was die Zeit nach dem Tod betrifft, kann sie nur im Konjunktiv sprechen, im Modus des Ungewissen. Die irdische Gestaltung der Zeit erscheint deshalb als umso wichtiger. Das Verhältnis der beiden Frauen steht einer Blutsverwandtschaft nicht nach. Sie verhalten sich zueinander als wann sie natürliche und rechte geschwistern […] werend (83,20f.). Bei den Männern kommt zum freundschaftlichen Nahverhältnis noch die ökonomische Prosperität hinzu, Zeichen der gelungenen Wahl und des erfolgreichen Handelns: So was Richart dem Lasaro sunderlichen vorstendig mit gold und edlem gestein / Also / das sich Lasarus in kurtzer zeit mit seinem handel so dapffer hinein richtet / das er ein grosser herr ward (83,24–27).

Damit lässt sich die Geschichte der zweiten Generation abschließen und auf die Erziehung der dritten Generation übergehen, die sich von Beginn an als genaue Beachtung temporaler Regularitäten zeigt:

In irer jugendt wurden sie taͤglich mit ordenlicher wartung underhalten / zů rechter zeit lies man in iren schlaff / […] Sie waren auch taͤglichen / in ernstlichem flehen und gebett zů Gott dem Herren / das er die kindlin bey nacht und bey tag / in seinem Goͤtlichen schirm erhalten / behuͤten und bewaren solt / und das er in / den aͤlteren / semliche gnad verleihen wolt / das sie die kinder / zů seinem lob moͤchten aufferziehen / darumb inen dann Gott der Almechtig / ire kinder behuͤten ward (83,31–84,7).

Die Gebetszeit der Kinder weist über das Wiederholungsmoment hinaus eine rekursive Zeitstruktur auf: Sie beten um Gottes Schutz und darum, dass die Eltern ihre Kinder gottesfürchtig erziehen – unter anderem also deren Gebetszeit regeln –, was wiederum dazu führen soll, dass Gott die Kinder behütet. Dieser Zusammenfall von Vor- und Nachzeitigkeit lässt sich so aufschlüsseln, dass im Gebet, als einem gottesfürchtigen Akt, um die Reproduktion der Bedingungen der Gottesfurcht gebeten wird. Die Kinder sorgen sich um ihre eigene Erziehung. Da die Erziehung in der forcht gottes (84,12) Voraussetzung dafür sei, dass Gott die Kinder behüte, könne eine schlechte Erziehung dazu führen, dass allsamen eines unzeitigen tods sturben (85,26). Die irdische Zeit würde aus den Fugen der göttlichen Zeit geraten.

Lasarus ist bemüht, dass sein Sohn, ebenfalls Lasarus genannt, nicht ebenjenen gegenwärtigen Missständen anheimfällt, die in der Vorrede skizziert und am Sohn des bösen Nachbarn dargestellt wurden: als sein sůn yetz fünff jar alt worden ist / hat er in zů schůlen gethon / und in dem schůlmeister mit allem fleiß befolen / das er in in der forcht und under der růten halten wolt (85,27–30). Auch seine Frau Lucia ist nit gesinnet / wie yetzund die aͤlteren gemeinlich sind (86,3). Das führt dazu, dass Lasarus Junior in kurtzem vil seines alters an der lernung übertrifft (86,20 f.). Er hebt sich durch ein effizienteres Zeitkalkül ab, er nutzt seine Zeit besser, strukturiert seinen Alltag durch sich wiederholende Abläufe: Morgengrüße, Kämmen, Waschen, Dankgebet.[39] Auch bei Cassandras und Richards Tochter äußert sich das Gelingen der Erziehung im guten Einsatz der Ressource Zeit. Rasch lernt sie Schreiben, Lesen und Rechnen und übertrifft im Schneidern ihren Lehrmeister (86,30–87,3).

Begann mit dem fünften Lebensjahr das Schulalter, markiert das zwölfte die nächste Etappe: beim jungen Lasarus das Erlernen eines Handwerks, zwischen ihm und Amelia, der Tochter von Cassandra und Richard, das Entstehen der Liebe, begründet im alltäglichen Zusammensein der Kinder und in den halbernsten Gesprächen der Eltern über eine mögliche Vermählung. Als Zeichen ihrer Liebe tauschen die Jugendlichen Geschenke aus.[40] Lasarus bittet seinen Vater um ein Stück Gold, aus dem er einen Ring schmiedet, den er, als er meint, der Vater habe es vergessen, Amelia zum Neuen Jahr schenkt. Sie wiederum gibt Lasarus selbstgefertigte Stickereien und trägt den Ring stets bei sich.[41] Auch sie glaubt, die Liebe verborgen halten zu können, indem sie nur am frühen Morgen mit ihrem Ringlein spielt und spricht, sie hat aber nicht mit dem Vater gerechnet, der yetz von etlicher geschefft willen auffgestanden was (90,2) und sie ertappt. Er sucht Lasarus den Älteren auf, der seinerseits schon mit seinem Sohn an der Arbeit ist. Auf einem Spaziergang erzählt er dem Freund von der Liebe zwischen den Kindern. Die Väter finden sie noch zu jung zum Heiraten. Es fehle an Lebenserfahrung und Weltkenntnis. Darunter würde Lasarus’ merkantile Fähigkeit leiden. Er müsse sich erst eine Zeitlang in der Fremde aufgehalten haben. Man kommt zu dem Schluss: Wann er dann ein jar zwey ausgewesen ist / mag man wider nach im schicken / alsdann haben sie beid erst ein rechtes alter auff inen (93,34–94,2). Man will aber auch die Ehefrauen um ein geschwinden rhat (94,12) fragen – jener rhat, der den Männern auf der Insel fehlte. Er bildet die Basis, den Kindern die richtige Gestaltung und Zeitauffassung zu vermitteln: der aͤlteren willen zů verston geben (96,32 f.).[42]

Die nächste Etappe: das Gespräch mit den Kindern. Amelia wird von ihrer Mutter frühmorgens überrascht, dann sie nit gewon was das sie yemants so fruͤ überlauffen solt (99,3 f.). Die Mutter hat sich am abent für genummen (98,7), die Angelegenheit außerhalb der gewohnten Alltagszeit zu regeln. Sie verlässt die geregelte Zeitstruktur, um das ›nächste Kontingente‹, als das man die Liebe zwischen den Kindern verstehen kann, in die Ordnung zu integrieren. Sie rügt die Tochter dafür, dass sie sich ohne das Wissen der Eltern einen Mann ausgesucht habe, dass sie sich verhalte, als ob sie der jaren gar veraltet (99,30) wäre – ein ähnliches Problem wie anfangs beim Sohn des Tuchbereiters. Cassandra verweist denn auch auf die Missstände der Gegenwart, die schwerwiegende ökonomische Folgen haben könnten:

So sichst du auch taͤglichen / wo zwey menschen also gar jung zůsamen kumen / und kinder miteinander zeugen / was aus semlichen kinderen werden / sie mügen weder har nach dar / das macht das vatter unnd můter ir recht volkumen natürlich alter / noch nit auff in haben. Nim dir zů einem spiegel / unsern vierden nachbauren von disem haus gesessen / welcher von seiner großmůter ein gross gůt in rendten und gülten ererbet hatt […] Diss woͤllest du mein hertzliebe tochter zů hertzen nemen / nit verlass dich uff deiner aͤltern gůt / ob sein gleich ein grosser theil ist / mag es doch in einem kurtzen augenblick gar vergon / wie dann alles zeitlich uff der gantzen erden kreis zergencklich ist / und zů trimmeren gehn můs / zů seiner bestimpten und geordneten stund (100,1–8; 101,1–6).

Cassandras Deutung des irdischen Lebens als grundsätzlich vergänglich hebt den jederzeit möglichen Verlust des elterlichen Gutes hervor. Zwar sei der Zeitpunkt unabsehbar, zufällig aber sei er nur in der Auffassung der Menschen, in Gottes Plan sei alles zů seiner bestimpten und geordneten stund (101,5 f.) festgesetzt, man könne Gott nur bitten, das er uns das zeitlich gůt bewaren und behuͤten woͤlle (101,7 f.). Diese Maxime verweist auf die Erfahrung der ersten Generation zurück: Man müsse das Leben im Bewusstsein der Unverfügbarkeit seines Endes gestalten. Dazu gehört auch: Lebenserfahrung zu erwerben, die dem jungen Lasarus eben noch fehlt. Er ist noch zů gar jung […] / zů der haushaltung / zů dem so hatt er auch die fremde nie erkundiget / das dann an einem jungen hausman ein grosser mangel ist (99,32–34).

Analog dazu sucht auch Lasarus seinen Sohn am morgen sehr fruͤ (103,19) auf, um die Angelegenheit zu regeln. Auch er erinnert an die durch Gott in der Gestalt Richards gewährten gůtthaten (103,23): Dieser habe das Haus begründet und großteils bezahlt, habe ihn selbst mit Gold und Edelsteinen versehen und vom türkischen Schiff gerettet, nun sei er bereit, seine eigene Tochter Lasarus Junior zur Frau zu geben (103,24–104,5). Der macht die Gegenrechnung auf: die vorteilhafte Nähe zu den Eltern gegenüber den Gefahren einer Fernreise, das Risiko eines übereilten Entschlusses (105,6–31). Das wiederum kann der Vater entkräften durch Verweis auf den guten Handelspartner, den Richard als Herren für Lasarus ausgesucht habe (105,34–106,7). Wie Amelia zuvor ergibt sich auch Lasarus dem elterlichen Ratschluss, der die Liebe der patriarchalen Ordnung der Ökonomie unterordnet[43] und die Fähigkeit des Handeltreibens mit jener des Haushaltens und Eheführens verbindet.[44] Indem sowohl Amelia als auch Lasarus Einsicht und Gottesfurcht an den Tag legen, stellen sie nicht nur die auch in der dritten Generation vorhandenen Voraussetzungen zur gelungenen Lebensgestaltung unter Beweis, sie geben auch dem Modell der zur rechten Zeit erfolgenden Wahl eine neue Anwendungsmöglichkeit.

IV.

Vor der Abfahrt warnt Vater Lasarus seinen gleichnamigen Sohn vor Gefahren, mit denen er selbst zu ringen hatte. Er reaktiviert aus seinem Erfahrungsschatz die Lehre, der Sohn solle auf Reisen nur bei frommen Wirten einkehren und sich ehrbaren Leuten anschließen.[45] Vor allem in Antwerpen solle er sich vor mancherley gesind hüten, so dich mit listen hindergon werden (112,22 f.). Auch die Erfahrung der Robertus-Generation, das Problem mit dem Haus des Tuchbereiters, lässt er einfließen: Und als du schon zů verstand kamest / hond wir gar nit haben woͤllen / das du von dem gesind etwas maͤrlin bracht (111,33 f.). Und just hier, als die letzte Etappe des Erwachsenwerdens vor der Gründung einer eigenen Familie beginnt, taucht die Gründungsgeneration noch einmal handelnd auf. Lasarus verabschiedet sich vom alten Robertus und der alten můter / die sich dann der welt gantz entschlagen hetten / ires betagten alters halben / sie beliben eintzig in irem gemach / darinn wurden sie mit speiss und dranck / auch ander wartung wol versorget / von Cassandra / und Amelia irer tochter (119,5–9). Schon Robertus’ Onkel lebte im selben Haus und wurde von der Familie gepflegt; nun rückt die nächste Generation nach.

Zugleich ist diese Abfahrtssituation, in der die Tiefendimension der Generationen sich nochmals öffnet und es um den Erfahrungstransfer nicht nur zwischen Eltern und Kind, sondern auch zwischen Großeltern und Enkel geht (Der alt Robertus sovil im müglich / und die zeit ertragen mocht / underwis er den jüngling; 119,15 f.), auch eine, in der eine noch weiter zurückreichende Erfahrung ins Spiel kommt. Der Vater Lasarus erinnert seinen Sohn an das Büchlein, das er ihm ein Jahr zuvor geschenkt hat: das buͤchlin der geistlichen zucht / Jesus Syrach genant (112,9), verbunden mit dem iiij. und xiiij. cap. des gotsfoͤrchtigen Tobie / darin er seinen geliebten sůn gantz früntlichen underweiset / wes er sich gegen Got und der welt halten solle (112,11–13) und etlich schoͤne[n] sprüch aus dem guldenen buͤchlin der sprüchen Salomonis (112,14 f.). Es handelt sich wohl um eben jenes Büchlein, das Lasarus’ Freund Richard bei seiner Hochzeit mit Cassandra dem missmutigen und geizigen Gewandbereiternachbarn entgegengehalten hatte, mit dem Bekenntnis, die darin enthaltenen Worte seien ihm lieber dann gold und silber / berlin und edel gestein (49,32).

Das ist der Auftakt für eine vielfältig rückbezügliche Aktivierung von Figuren der Vergangenheit durch Figuren der Gegenwart, die von jenen her das eigene Handeln und das eigene Selbstbild stützen.[46] Wurden eingangs im Gespräch der Männer männliche Gestalten aufgerufen (Hiob, David), sind es nun bei den Frauen weibliche. Es beginnt bei der Abfahrt von Lasarus. Schon im Vorfeld schreibt er Amelia einen Brief, in dem er sie mit ihrer handwerklichen Begabung zu einer Schülerin der Pallas Athene stilisiert (108,18–23). Als er es dann nicht übers Herz bringt, sich von ihr zu verabschieden, gerät sie in Wut darüber und bekennt im Gespräch mit Lucia, härter zu ihm sein zu wollen als

die junckfraw Daphne / dem Phebo ye gewesen ist / Dann die selbig Daphne / ehe dann sie wolt im ire liebe mittheilen / batt sie die goͤtter / sich in einen Lorberbaum zů verwandeln / und ward im von semlichem baum nicht mer dann ein zweig / daraus machet er im ein krantz zů ergetzligkeit seiner liebe (122,35–123,4).

Aus der Gleichsetzung mit Daphne gewinnt Amelia eine Perspektive für das eigene Handeln. Doch muss sie erfahren, dass Lasarus ihr einen Brief hinterlassen hat, in dem er sich dafür entschuldigt, dass er es nicht über sich bringen konnte, sich von ihr zu verabschieden. Dort führt er seinerseits eine antike Figur als Vorbild an:

O liebste Amelia / nit vergiss mein / umb eines kurtzen jars willen / setze dein hertz und gemuͤt zů mir / wie die keusch Penelope gethon / welliche sich die anzal der reichen und mechtigen werber nit hat lassen wanckelmuͤtig machen / sunder auff iren liebsten gemahel und Fürsten Ulissen zwentzig jar gewartet hat / Den selbigen mocht nit abwenden die zaubereyen / Circes / noch die mechtig goͤttin Calipso / sunder begert stetigs zů haus zů seiner liebsten gemaheln (126,1–8).

Amelia gibt daraufhin ihrer Identifikation mit Daphne eine andere Richtung. Statt um ein künftiges Handeln geht es um das gerade erfolgte: Nicht härter als Daphne wolle sie Lasarus gegenüber sein, sie sei schon jetzt unguͤtiger ihm gegenüber gewesen dann die junckfraw Daphne gegen Phebo / irem liebhaber / darum ich billich in einen stain / dann zům baum solt verwandlet werden (126,31–34). Sie entschuldigt sich bei Lucia und zeigt sich bei einem Abendessen verständig bezüglich des freundschaftlichen Nahverhältnisses. Gegenüber der Mutter, Cassandra, wird sie momenthaft selbst zur Ratgeberin.[47] In Abwesenheit der Männer deutet sich ähnlich wie früher eine weibliche Ordnung an, in der die Generationen weniger stark hierarchisch getrennt sind.[48] Lucia meint, für Lasarus’ Rückkehr wolle sie alles gůts anrichten / damit wir alsamen durcheinander jung und alte / frewd und kurtzweil bey und umb einander haben mügen (130,20–22). Doch ist dies eine Situation, die zu verstehen es wieder den Rückgriff auf Exempel der Vergangenheit braucht. Cassandra fragt:

Sag mir liebste Lucia / was ist doch die ursach das du mich also spat zů disem nachtimbis beruͤffet hast? nůn sind wir auff dissmal beidsamen witfrawen / dann du noch in dreyen tagen deins Lasarus nit warten darffst / Darumb uns beyden vil bas gezimen thet / das ein yede in irem haus belib / sorg und angst für iren gemahel truͤg / gleich der Edlen Roͤmerin Lucretia / damit wir nit geachtet und gleich geschaͤtzt würden / des Sextus und andren schlamgirigen weibern (133,13–20).

Die Zeit, in der die Männer abwesend sind, eröffnet den Raum für eine Diskussion des situationsadäquaten Verhaltens. Die Frauen erkunden diesen Raum anhand der Beispielfigur Lucretia.[49] Cassandra erzählt die Geschichte der berühmten Römerin, die in Abwesenheit ihres Mannes, entgegen anderen Römerinnen, keine Feste bei sich im Haus abgehalten habe, dann aber, als sie, ohne Böses zu ahnen, Sextus, den sie für einen Freund hielt, zu sich ins Haus geholt habe, von ihm vergewaltigt worden sei, worauf sie sich das Leben genommen habe (134,7–136,29) – eine Erinnerung daran, dass Frauen in abwesen irer ehlichen maͤnner / nit einen yeden gast auffnemen und herbergen sollen / damit sie an ehren nit befleckt noch bemaßget werden (137,12–14).

Lucia, die der Geschichte aufmerksam gelauscht hat, verweist auf den anderen Charakter der gegenwärtigen Situation:

So aber schon zů diser stund unsere beide mann / zů haus kummen sollten / würden sie dannocht sunst kein geselschafft bey uns finden / dann eben wie wir sunst taͤglich pflegen zamen zů gon / so habend wir auch kein sunderlichen kosten angewendet / dann eben wie wir sunst ein yede mit dem gesind dahaimen zů friden gewesen were (137,24–30).

Das entscheidende Kriterium, das für die Zusammenkunft der Frauen spricht, ist, dass die Zeitspanne keinen Ausnahmezustand darstellt wie im Falle der Römerinnen, die Feste feiern. Auch wenn die Männer jetzt schon heimkämen, gäbe es keinen Bruch mit einer Alltäglichkeit, die sozial durch die Nähe zwischen den Beteiligten und ökonomisch durch den haushälterischen Umgang mit den Mitteln geprägt ist. Die Kosten des Abendessens entsprächen den Gewohnheiten: wann gůte nachbaurschafft zůsamen gehn woͤllen / das keiner den andren zů kosten bring (139,4 f.).

Alle wesentlichen Aspekte guter Nachbarschaft kommen im Gespräch zusammen: die Gestaltung des von Gott gegebenen Beisammenseins als intensives Nahverhältnis und ökonomische Symbiose, eingewoben in eine zeitliche Alltagsstruktur. Die Rolle der Frauen ist dabei vor allem diejenige von Ratgeberinnen in Angelegenheiten der Familiengestaltung und -fortsetzung. So wie Robertus sich mit Sophia über die Verheiratung der Tochter beratschlagt, suchen Richard und Lasarus den Rat der Frauen, wenn es um die Beziehung zwischen Lasarus dem Jüngeren und Amelia geht; auf der Insel fehlt ihnen der Rat. Zugleich wird am Gespräch über die Römerin Lucretia deutlich, dass die Beratschlagung einen auf Gegenwart und Zukunft bezogenen Umgang mit der Vergangenheit einschließt. Fundiert wird dieser Umgang durch ein Konzept von Geschichte, das über exemplarische Wiederholung funktioniert.[50] In diesem Sinne dient der Rückgriff auf Figuren der Antike nicht allein der Gewinnung einer Tiefendimension des gegenwärtigen Handelns. Er macht das Vergangene gegenwärtig, aktualisiert es, um die Gegenwart zu gestalten und die Zukunft zu planen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen so tendenziell in einer Gleichzeitigkeit zusammen, die in Lucias Vorstellung, Alte und Junge würden in einer genealogischen Gleichzeitigkeit durcheinander und umb einander leben, prospektiert ist. Realisiert wird diese Vorstellung aber erst, nachdem auch die dritte Generation mit verschiedenen Kontingenzen konfrontiert worden ist.[51]

V.

Richard begleitet den jungen Lasarus auf seiner Überfahrt nach Antwerpen zum neuen Lehrmeister. Die Figurenkonstellation wiederholt diejenige von Robertus und Richard auf dem Meer. Analog dazu besteht ein nicht auf Blutsverwandtschaft gegründetes Vater-Sohn-Verhältnis, das in der künftigen Heirat mit der Tochter ›naturalisiert‹ wird. Wie Robertus sich um den kranken Richard kümmerte, bereitet Letzterem nun die Krankheit von Lasarus Sorgen. Die Wiederholung macht auf die Unterschiede aufmerksam: Für Lasarus handelt es sich um die erste Meerfahrt, sein schlechter Zustand wird mit Liebeskummer begründet, das Problem der psychischen Verfassung kommt in den Blick. Auch die weitere Figurenkonstellation erfährt eine Variation: In der Kaufmannsherberge trifft Lasarus einen Bekannten aus der Schulzeit, Ferdinandus, mit dem ihn zugleich Berufliches verbindet. Die Nähe wird hier aber nicht in familiäre Nachbarschaft übertragen, sie beschränkt sich auf die Dauer von Lasarus’ Aufenthalt.[52]

Im Kontrast zu diesem Freundespaar stehen zwei junge Portugiesen, die dem Prototyp des herumziehenden, bei keinem Meister verweilenden Jungen aus der zweiten Vorrede entsprechen. Von Ferdinandus gewarnt, zieht Lasarus den Schluss, die gemeinsame portugiesische Herkunft impliziere nicht auch schon das gleiche Tugendideal. Er reflektiert die väterlichen Lehren (144,6–10), die er als ewig gültig ansieht (149,33), aber auch als etwas begreift, das situationsspezifisch zu konkretisieren und zu aktualisieren ist.[53] Das gilt auch für die Zeitgestaltung. Lasarus lernt seinen neuen Meister kennen und entscheidet sich rasch zum Bleiben, er befristet aber die Dauer auf ein jar (147,18). Es zeigt sich eine Spannung zwischen der tendenziellen Überzeitlichkeit der Lehren und deren okkasioneller Adaption.

Ausagiert wird diese Spannung im Gegensatz zwischen Tag und Nacht. Kaum hat Lasarus sich zum Bleiben entschieden, und kaum beginnt er sich im Alltag zurechtzufinden, kehrt bei Nacht seine anfängliche Unsicherheit wieder, hervorgehoben durch das Erscheinen des Gottes Morpheus in Gestalt der trawrigen Amelien (152,3).[54] Sie klagt: O Lasare wie hastu mein so gar vergessen / wie bald hastu mich von hertzen geschlagen / du hast mich in grossem trawren bey meinem vatter und můter verlassen / Du aber bedenckst ein solches gar wenig / dir manglet an keiner kurtzweil / noch freuden (152,5–9).

Lasarus’ rasche Entscheidung steht in Konflikt zu seiner dauerhaften, aber noch nicht förmlich institutionalisierten Bindung an Amelia. Das Verfrühte der Bindung wiederholt sich in einer Störung der zeitlichen Ordnung. Des Schlafs beraubt, klagt Lasarus seinerseits den Verursacher Morpheus an – solange, bis der Pfaw mit seinem haiseren geschrey (153,18 f.) den Anbruch des Tages markiert. Die Nachtstunden eröffnen einen Raum, in dem Reibungselemente und Störfaktoren der Ordnung, tagsüber von der Alltagsstruktur verdrängt, wiederkehren.

Im Folgenden beweist sich Lasarus bei der Arbeit, im Benehmen, in der Dienstbarkeit gegenüber Älteren und im Meistern des Tagesablaufs: An einem yeden feyrtag zů morgen was er alwegen der erst auff / seubert und butzet seinem herren die schůch / demnach auch den gesellen so im an aͤlte vorzugen (155,16–18). Vorbildlich hält er sich an die lehrhaften Erfahrungen früherer Generationen (154,30–155,3). Seine eigene übertrifft er wie schon in der Kindheit durch rasche schulische Fortschritte (155,31–34). Doch, wie so oft im Roman: Der Erfolg ist fragil, die nächste Krise nicht weit. Lasarus wird von seinem Meister fälschlich des Diebstahls verdächtigt. Ferdinandus beweist seine Unschuld und hilft die wahren Übeltäter zu überführen: die prototypischen schlechten Jungen, vor denen Lasarus gewarnt worden war (157,3–164,35). Wie ehemals Lasarus d. Ä. Richard zu Hilfe kam, hilft dem Jüngeren nun Ferdinandus. Die Muster von Freundschaft und Hilfe zeigen generationenübergreifend ihre Wirkung.

Nach Ablauf des vorgesehenen Jahres (165,1) bricht Lasarus zu seiner letzten Etappe auf. In Venedig soll er viel kostlicher stain (166,4) verkaufen, während der Vater und Richard die Vorbereitungen zu seiner Hochzeit treffen. Eine weitere Gefährdung nimmt ihren Lauf. Lasarus kehrt bei Wirtsleuten ein, die ihn mit der eigenen Tochter verbunden sehen wollen: Das Kupplerpaar hat ebenso prototypische Züge wie zuvor das Bubenduo, es repräsentiert das, wovor Robertus und Sophia ehemals gewarnt hatten (37,17). Lasarus allerdings bleibt ebenso auf seine Manieren bedacht wie seiner fernen Verlobten treu. Er zieht damit den Hass des Wirtes auf sich, der, gegen den Rat seiner Frau, den Fremden nachts ermorden und ausrauben will (167,30–170,29). Die Situation der früheren Generation klingt an. Der befreundete Kaufmann, an den Lasarus, durch einen Diener gewarnt, sich gewandt hat, stellt fest: mag einer das in eigner person nit zůwegen bringen / findt er bald ein Riffiener (171,12 f.). Er deutet ein freundschaftliches Tauschhandelsverhältnis an: so ich dann gehn Lisabona kum / kan diss dein vatter und schweher wol umb mich vergleichen (171,27 f.).

Zuvor aber muss Lasarus die Situation überstehen. Dabei hilft ihm die Tatsache, dass der Wirt einen fast gleichaltrigen Sohn hat. Dieser kommt, obschon vom Vater fortgeschickt, nach einer langen Nacht doch nach Hause. Der Wirt verwechselt ihn im Dunkeln mit Lasarus und ersticht ihn. Erst morgens merkt er, was er getan hat, und ertränkt sich an der gleichen Stelle, an der er zuvor den Leichnam ins Meer geworfen hat. Wieder ist die Szene kontrastiv angelegt: Anders als in den Haushalten von Lasarus’ (und Amelias) Eltern herrscht hier kein Bemühen um Konsens.[55] Die Unordnung deutet sich in der Verschiebung der Tag-Nacht-Rhythmen an: Der wirt so die nacht seinem fürnemen fleissig nachgesunnen / und gar wenig geschlaffen het / lag des morgens über seinen brauch in dem beth (173,4–6). Am Ende ist die Familie zerstört und die Genealogie abgeschnitten – eine Zuspitzung der eingangs am Typus des bösen Nachbars eingeführten schlechten Verhaltensweisen.

Lasarus hingegen segelt in kurtzer zeit (174,25) zurück nach Lissabon. Eine froͤliche hochzeit wird gehalten, aber nit lenger dann zwen tag (175,15 f.). Richard, der inzwischen Robertus’ Platz als Familienoberhaupt übernommen hat,[56] macht den Vorschlag, die aus sunder ordnung Gottes (176,21 f.) entstandene Lage in eine Zusammenführung der Häuser, der Lebensformen und der Ökonomien münden zu lassen:

[D]as wir erstlichen ein gemeinen unzerteylten handel anfiengen / ein gemeinen kosten und haushaltung anrichteten / also bey einander ob einem tisch und taflen sessen / ein gemeinen koch und ynkauffer / sampt knecht und maͤgten / aus gemeinem gewinn und vorrhat erhielten (176,26–31).

Lucias Vorstellung des gemeinsamen Lebens wird damit Wirklichkeit. Es kehrt ein den sonstigen Sozialverhältnissen entgegenstehender saͤlige[r] friden (177,30) in die Haushaltung ein.[57] Der gelungenen Lebensführung korrespondiert bei den einzelnen Mitgliedern nach der jeweils vorgesehenen Zeit (nach seinem berůff; 178,2) ein Eingang inn die Himlischen Tabernackel (178,3 f.).

VI.

Wickram steht, wenn er Fragen des sorgsamen Umgangs mit Zeit fokussiert, nicht allein. Schon Leon Battista Alberti entwarf im dritten Buch seiner Dialoge ›Della Famiglia‹, ›Economicus‹ betitelt (1434), eine Lehre der ökonomischen Selbstsorge, basierend auf dem Gedanken, das Individuum habe nicht in erster Linie äußere Besitztümer zu bewahren, sondern die ihm selbst eigenen Güter: den Geist, den Körper und die Zeit.[58] Sie ist das Wertvollste von allem (cosa molto preziosissima; S. 179), die Sache, die zu gestalten Voraussetzung für das Wohlbefinden wie den Erfolg ist. Sie gilt es nicht zu verschwenden, sondern sorgsam zu nutzen und genau einzuteilen. Der Hausvater Gianozzo beschreibt seinen eigenen Umgang damit: niemals müßig bleiben, nicht zu viel schlafen, Pläne machen und jeder Unternehmung ihre Zeit zuweisen. Der Tagesablauf sieht dann so aus:

›[D]es Morgens bereite ich mich auf den ganzen Tag vor; tagsüber komme ich allem nach, was von mir gefordert wird; und abends dann, ehe ich mich zur Ruhe begebe, überschaue ich noch einmal, was ich den Tag geleistet habe. Und wenn ich in irgendeiner Sache nachlässig gewesen bin, wo ich es im Augenblick gutmachen kann, so schaffe ich sogleich Abhilfe und verliere lieber den Schlaf als die Zeit, das heißt den rechten Augenblick für das, was zu tun ist.‹[59]

Dieser radikalen Version der zielorientierten Vita activa ist Müßiggang ebenso fremd wie Verschwendungssucht, religiöse Kontemplation ebenso wie sinnlose Verausgabung oder asozialer Geiz. Für sie gelten die Maximen: (1) nur eine richtig angewendete Zeit ist keine verschwendete,[60] und (2) derjenige, der die Zeit anzuwenden versteht, wird fast alles leisten und über alles, was er will, Herr sein können.[61] Die Vermeidung von Zeitverschwendung garantiert Erfolge und Erträge, individuelle wie kollektive Prosperität. Diese Vorstellung lässt sich aber auch, was im reformatorischen Kontext geschieht, religiös oder spirituell wenden: als kontinuierlich der Lebens- und Alltagszeit infiltrierter Gottesbezug.[62]

Der für Wickram nächstliegende Bezugsautor ist wohl Erasmus von Rotterdam, auf dessen zeitreflexives Erziehungskonzept er im Pilger-Roman explizit rekurriert.[63] Die Warnung vor Zeitverlust begegnet bei Erasmus, dessen Reisestundenglas noch heute existiert,[64] vor allem in den Briefen immer wieder. Sie erhält hier eine spezifisch humanistische Wendung: Verloren ist alle Zeit, die nicht dem Studium, der intellektuellen Tätigkeit gewidmet ist.[65] In zwei Einträgen seiner seit 1500 immer wieder gedruckten und vermehrten ›Adagia‹ verfolgt Erasmus die Geschichte solcher Zeitvorstellungen: einerseits Nosce tempus (Ausg. 1536, Nr. 670), andererseits Festina lente (Nr. 1001), ein Sprichwort, bei dem Erasmus, zurückgehend auf Aristoteles, grundsätzlich den Zusammenhang von Zeit, Jetztpunkt (momentum) und Bewegung reflektiert und aus dem er als allgemeine Lebensmaxime eine Kombination aus ›raschem Zupacken und bedächtiger Überlegung‹ (simul et industriae celeritas et diligentiae tarditas) ableitet, die ›Entschlossenheit zur rechten Zeit, gepaart mit besonnener Zurückhaltung und Mäßigung‹ (maturitas quaedam ac moderatio simul ex vigilantia lentitudineque temperata).[66]

Es ist dies, was der Nachbarn-Roman narrativ entfaltet und zugleich mit einigen Besonderheiten versieht: (1) Ausgangspunkt ist eine negative Gegenwartsdiagnose, die die Krise herkömmlicher Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens nicht zuletzt als Krise des Generationenverhältnisses bestimmt und daraus ein Modell neuer Verbindungen von Individuen und Familien, von freundschaftlichen, ökonomischen und verwandtschaftlichen Beziehungen gewinnt. (2) Das Verhältnis der Generationen wird auf das Moment der Erfahrung zugespitzt: Es geht nicht zuletzt darum, wie ein situativ erworbenes Wissen weitergegeben und unter veränderten, aber nicht gänzlich neuartigen Situationen angewandt und angepasst werden kann. Oder umgekehrt: wie Instabilitäten und Kontingenzen durch ein intersubjektiv gestütztes Handlungswissen bewältigt werden können. (3) Das als vorbildhaft erscheinende Zeitregime ist unter solchen Bedingungen nicht nur eines, das sich in einer Beachtung zeitlicher Rhythmen und einer Mischung aus längerfristiger Planung und kurzentschlossenem Handeln manifestiert. Es ist auch eines, dessen Herausbildung im Zusammenspiel der Generationen zum Thema wird.

Was Wickram erprobt, lässt sich als Engführung zwischen der Ethik und der Ökonomie der Zeit beschreiben. Die kaufmännischen Existenzen, die er entwirft, sind keine, denen es nur um Gewinnmaximierung geht, sondern solche, die sich, ganz zeittypisch, am Gesamtphänomen des Hauses orientieren, bei dem das verträgliche soziale Miteinander verschiedener Gruppierungen und Generationen im Vordergrund steht.[67] Dementsprechend erscheint die Zeit zwar als etwas, was zu nutzen ist (das mußevolle Inseldasein wird als Ideal abgewiesen), zu nutzen aber so, dass die Gemeinschaft harmonisch funktioniert und auf Dauer gestellt werden kann. Diese Dauer ist generationenbezogen, also innerweltlich gedacht. Sie verliert aber nicht ihre Bindung an das religiöse Modell der Ewigkeit. Die Einheit der Stunde markiert sowohl den menschlichen Gestaltungsspielraum als auch, in Form der letzten Stunde, dessen Grenze.[68] Doch treten im Roman gegenüber der prinzipiell unverfügbaren Dimension der Zeit, die immer mal wieder aufscheint, die Verfügungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in den Vordergrund. Die Zyklen der Natur bilden den Rahmen für die menschliche Lebenszeit.[69] Die Fortuna begegnet in Form von Gelegenheiten. Die Figuren versuchen rigoroses Zeitkalkül und gottgefällige Lebensgestaltung in Einklang zu bringen.

Zugleich stellt der Roman Zeiterfahrungen nicht einfach dar. Er eröffnet auch die Möglichkeit zu deren Nachvollzug seitens der Leserinnen und Leser. Die mythologischen Szenarien mit Aurora[70] und Morpheus überhöhen die Erscheinungsformen von Tag und Nacht und machen auf deren grundsätzliche Bedeutung aufmerksam. Das Heranziehen antiker Exempel versieht das zwischen den Figuren zirkulierende Wissen mit dem Signum des Alters und unterstreicht den engen Konnex von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.[71] Die zahlreichen Vernetzungen zwischen den Situationen, die die Protagonisten durchleben, ermöglichen den Rezipierenden den generationenübergreifenden Vergleich und die Bildung eigener Erfahrungen.

Wickrams oft konstatierter didaktischer Zug gehorcht insofern nicht einfach dem Bedürfnis, das narrativ vermittelte Wissen expliziter fassbar zu machen. Er ist Ausdruck einer Orientierung an der Praxis als einem Schnittfeld zwischen Situationen, Konzeptionen und Imaginationen.[72] Sosehr die Handlung manchmal zurücktreten mag, sowenig ist sie überflüssig: Geprägt von Oppositionen und Wahlverwandtschaften, von Wiederholungen und Reaktivierungen, stellt sie dar, was sich nicht einfach in ein propositionales Wissen übersetzen lässt, sondern was durchlebt werden muss – um aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine tugendethisch erstrebenswerte und ökonomisch erfolgreiche Zukunft in der Gegenwart planen zu können.

Published Online: 2022-11-29
Published in Print: 2022-12-16

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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