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Moser Aloisia Kant, Wittgenstein, and the Performativity of Thought Cham Palgrave Macmillan 2021 1 158
Mit dem Buch Kant, Wittgenstein, and the Performativity of Thought legt Aloisia Moser eine Studie vor, die in interessanter und ungewöhnlicher Weise Kant und Wittgenstein miteinander vergleicht. Dabei verfolgt Moser das doppelte Ziel, einerseits eine neue Lesart der beiden Autoren zu entwickeln, und zum anderen Anhaltspunkte für einen Begriff des Performativen zu gewinnen, der bereits bei beiden Autoren im Kern angelegt sei[1] und der als theoretische Grundlage dafür dienen soll, das Modell einer ‚Gegenüberstellung‘ von Geist und Welt zu überwinden.
Die Studie ist in drei Teile gegliedert und umfasst bei einer Gesamtlänge von 150 Seiten insgesamt (mit Einleitung und Fazit) 11 – somit relativ kurze – Kapitel. Ich werde im Folgenden die zentralen Thesen und die Argumentationen gemäß der Dreiteilung besprechen, wobei ich von der Struktur der einzelnen Kapitel abweichen und diese nicht im Einzelnen zusammenfassen werde.
Im ersten Teil steht Kant im Fokus. Hier wird insbesondere mit Rückgriff auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der A und B Fassung der Kritik der reinen Vernunft das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand mit Bezug auf die Objektkonstitution für jede mögliche Erfahrung – und somit das Verhältnis von Geist und Welt nach Kant – untersucht. Moser betont hierbei durchweg – und m. E. völlig zu Recht – die aktive Rolle, die Kant dem Verstand zuspricht, welche in Wendungen wie ‚Handlungen des Gemüts‘ (vgl. S. 2) explizit zum Ausdruck gebracht wird.
Im Besonderen erläutert Moser auf erhellende Weise, inwiefern sich mit der Spontaneität im Bereich der theoretischen Vernunft deren Freiheit – analog zur Autonomie der praktischen Vernunft – manifestiert (vgl. S. 30). Das Ausbilden von Vorstellungen ist erstens frei von externer Determination, denn obwohl das Subjekt Empfindungen von außen empfängt, ist sein Beitrag zur Vorstellung als solcher irreduzibel. Zweitens sind die Regeln oder Gesetze der Synthesis bei der Objektkonstitution selbst gesetzt, was sich u. a. im Irrtum zeigt. Damit zeigt sich zudem, dass nicht erst das Ausbilden und Anwenden von Begriffen ‚spontan‘ ist, sondern auch das Ausbilden vorbegrifflicher Vorstellungen im Rahmen der Sinnlichkeit als ‚performative‘ Aktivität zu verstehen ist. Moser versucht dies in Anlehnung an Dickersons Vorschlag durch die Übersetzung von ‚Vorstellung‘ durch ‚before-putting‘ zu verdeutlichen, die er so deutet, als würde eine mentale Repräsentation, die aus dem gesammelten Sinnesmaterial gefertigt wurde, nun gleichsam ‚vor‘ den Geist gestellt (vgl. S. 22 u. 51).
Somit ergibt sich eine dreigliedrige Struktur im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand, beginnend mit der Apprehension von Sinnesmaterial, wie es sich im Mannigfaltigen zeigt, der Apperzeption als dem Ausbilden von Vorstellungen im engeren Sinne, und der Komprehension, d. i. das kognitive Be-Urteilen der Repräsentationen durch Anwendung von Begriffen.
Komplementär zeichnet Moser mehrere Typen von Synthesis aus, als aktive Leistungen des ‚Zusammenfügens‘ von sinnlichem Material, insbesondere die figurative Synthesis (S. 43, 46, 120, 125, 148), die für die Ausbildung von Vorstellungen im engeren Sinne verantwortlich ist. Moser legt in diesem Zusammenhang einiges Gewicht auf die Rede von ‚Einheit‘, die bei Kant in vielfältiger Weise auftritt, etwa als synthetische Einheit, Einheit der Erfahrung, Einheit als Kategorie oder Einheit der Apperzeption. Offenbar vor diesem Hintergrund kommt Moser zu der Auffassung, dass jenes dritte Moment, das Fällen eines Urteils, im Aufstellen einer Gleichung besteht: „In each thought, a judgment is made that is, in essence, an equation: what we take in and what we represent in front of our mind are the same“ (S. 56).
Obwohl nachvollziehbar ist, dass diese These eine formalen Analogie zu Wittgenstein vorbereitet, demzufolge dem Aufstellen von Gedanken etwas Gleichungshaftes anhaftet, nämlich die Isomorphie von Satzzeichen und Tatsache, scheint mir, dass diese These weiterer Ausarbeitung bedarf. Ist damit gemeint, dass jedes Urteil der Form P(a) noch ein weiteres Urteil der Form a=a′ mitführt oder impliziert – wobei a eine Vorstellung ist und a′ die ihr zugrundeliegenden Sinnesmaterialien? Oder soll umgekehrt das Identitätsurteil Grundlage für alle anderen sein? Inwiefern hat das Subjekt einen von der Vorstellung „in front of his mind“ unabhängigen Zugang zu dem „what we take in“, um diese vergleichend zu beurteilen? Ist ein Haus überhaupt je dasselbe wie die Bauteile, aus denen es gebaut wurde? Setzt das Identitätsurteil nicht die ‚Einheit‘ von jeweils a sowie a′ voraus, die zu stiften es gerade erklären soll?
Moser schlägt vor, Kants Begriff der Apperzeption letztlich als Performativität zu deuten. Dass in der Apperzeption ein performatives – spontanes – Moment enthalten ist, lässt sich sicherlich verteidigen. Mir scheint es gleichwohl naheliegender, die Spontaneität mit der Performativität zu identifizieren, zumal der Spontaneität keine spezifische funktionale Leistung zugesprochen wird. Etwas irritierend ist schließlich, dass Moser die Performativität und die verschiedenen Erfordernisse, die Kant als a priori ausweist, in Opposition zu bringen scheint:
The solution is thus to read the Transcendental Deduction as pragmatic. The categories are performative in exactly this sense: we arrive at meaning by making the connection between language or thought and the world in the way we do. By this reading, Kant’s categories must be understood as becoming acts of the mind that make possible the connection to things in the first place. (S. 6)
Dabei scheint es mir keineswegs abwegig, den performativen Charakter auch bei der Anwendung von Kategorien zu betonen. Ebenfalls sind Kategorien nicht unbedingt ‚rigid‘ and ‚timeless‘ – oder gar zeitlich vor aller Sinnlichkeit ‚angeboren‘ – wenn man im Rahmen eines Entdeckungszusammenhangs oder der Aneignung etwa der Kategorie der Kausalität im Rahmen des Lernprozesses eines Individuums oder einer Gruppe über sie sprechen möchte. Ihr Status als a priori erfahrungsermöglichend ist gleichwohl ein Status der Geltung, deren Begründung eben methodisch nicht auf Erfahrung zurückgreifen kann. Oder wie Kant in der Einleitung sagt: „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung“ (B 1). Performativität und a priori stehen also nicht im Widerspruch zueinander.
Gleichsam den ersten Teil fortführend, kommt mit Kapitel 8 im dritten Teil der Schematismus näher zur Sprache.[2] Da dem Schematismus eine (etwas ad hoc anmutende) Mittelstellung zwischen der Anschauung und dem Begriff zukommt und die sinnlichen, aber nicht bildlichen und nicht rein diskursiven Kriterien der Anwendung eines Begriffs auf die Anschauung enthalten soll, lässt sich an den Fällen von Schemata gut der performative Charakter des Begreifens nachvollziehen. Diese Fällen sind Schemata empirischer Begriffe, mathematischer Begriffe und reiner Verstandesbegriffe. Auf der Basis der Arbeit von Soboleva gibt Moser hier erhellende Einblicke.[3]
Der zweite Teil analysiert die ‚Bildtheorie‘ des Satzes von Wittgenstein (Tractatus ab 2.1) im Hinblick auf strukturelle Ähnlichkeit mit Kants Vernunftkritik. Zunächst werden folgende Parallelen von Moser identifiziert: Eine ähnliche Rolle wie die Kategorien für die Konstitution von Objekten der Erfahrung spielt bei Wittgenstein die allgemeine Form des Satzes zur Äußerung von Gedanken (als sinnvollen Sätzen, die als solche auf Tatsachen projiziert werden). Während bei Kant also ein Dreiklang aus Anschauungsformen, Kategorien und Synthese im Urteil vorliegt, fügt Wittgenstein die sinnliche Gestalt des Satzes, die logische Form des Satzes und die Projektion zur oder Abbildung auf die Welt zusammen.
Moser sieht hierin eine Fortführung der kopernikanischen Wende, insofern sich nicht die Sprache den Dingen der Welt anpasst, sondern vielmehr die Objekte die logische Struktur der Proposition teilen müssen, um sprachlich erfasst werden zu können. Es liegt somit nach Moser auch gewissermaßen ein (mein Ausdruck) inhärenter Idealismus bei Wittgenstein vor, insofern wir zu den Tatsachen nur Zugang haben, indem wir uns von ihnen Bilder machen, wie es Satz 2.1 im Tractatus zum Ausdruck bringt.
Im Zuge dessen macht Moser auf interessante Weise die Nummerierungs- und Kommentar-Zählung von Wittgenstein nachvollziehbar. Während die Hauptsätze wie Gleichungen aufgebaut sind, so dass im Folgesatz je das rechte Glied des vorherigen Satzes jeweils weiter analysiert wird, lassen sich gerade auch interpretatorische Aussagen über die fehlenden Stellen treffen: So gibt es etwa keinen Satz 2.0 obwohl es einen Kommentar 2.01 gibt. Der Ordnung entsprechend müsste ersterer die Existenz von Sachverhalten erläutern. Diese ist jedoch nur als etwas zugänglich, das sich in Satz-Bildern zeigt – so dass Wittgenstein hierüber schweigt. Was jedoch über die Welt ‚an sich‘ gewusst werden kann, ist, in welcher Art von ‚Netz‘, von logischer Struktur, sie sich einfangen lässt. Wittgensteins Projekt lässt sich somit als Untersuchung der kleinsten Elemente einer möglichen Netzstruktur verstehen.
Die zweite Stoßrichtung im zweiten Teil besteht darin, die Bildtheorie Wittgensteins als eine frühe Form von Gebrauchstheorie der Bedeutung auszuweisen. Auch beim Wittgenstein des Tractatus ist Bedeutung nach Moser bereits ‚pragmatisch‘ als ‚use‘ angelegt und wird durch die Projektion festgelegt. So kann ein Satz genau dann sinnvoll sein, wenn er aktiv auf die Welt projiziert werden kann, so dass seine Wahrheit oder Falschheit beurteilbar wird. Genau aus diesem Grund sind auch die Sätze des Tractatus letztlich ohne Sinn: Sie lassen sich nicht als Bilder der Welt gebrauchen. Der Gebrauchsaspekt ist offenbar auf die Projektion eingeschränkt und erfährt erst in den Philosophischen Untersuchungen Erweiterung.
Der dritte Teil setzt zunächst die Untersuchung von Kant und Wittgenstein mit einer weiteren Fokussierung auf die Performativität fort, was in der Besprechung oben bereits berücksichtigt wurde. Kapitel 10 macht sich daran, die Umrisse – oder vielleicht mehr das Desiderat – einer Theorie der Performativität im Sinne einer „theory of the act of thinking“ zu zeichnen, mit der erhellt werden soll, wie im Vollzug des Denkens die Konstitution dessen geschieht, worauf sich das Denken bezieht. Die zentrale Schwierigkeit bringt Moser dabei wie folgt zum Ausdruck:
The difficulty with the account of performativity that I develop is that it has to theoretically capture how the object of thought or language is itself only created in the performance. This is akin to writing a theory that only works in practice. (S. 136)
Zunächst unternimmt Moser eine kurze Besprechung der Stammväter des Begriffs der Performativität. Dabei diagnostiziert Moser, dass die klassischen Theorien der Performativität wie etwa Austin und Searle, aber auch Apel und Habermas, das performative Element – beispielsweise den perlokutionären Akt – über die Kontrastierung von normativ-regulativen Gegebenheiten und intentionalen Akten des individuellen Akteurs bestimmen.
Was es jedoch zu vermeiden gelte, sei eine Dichotomie von für sich bestehenden Regeln auf der einen Seite und die Handlung oder den Gebrauch, eins zu eins der Regel folgend, auf der anderen. Damit grenzt Moser also das Explanandum der gesuchten Theorie auf den Raum ein, der sich bei Handlungsvollzügen bei der Befolgung von Regeln auftut – bzw. wie Akteure einen Umgang mit Regeln ausfüllen können – ohne dabei bewusst der Regel zu folgen. Moser vertritt dabei die Auffassung, dass auf die Rede von Intentionen gewissermaßen nicht im Explanans zurückgegriffen werden kann, sondern sich erst am Ergebnis, am Ende des Vollzugs zeigt (vgl. S. 144 f). Gut deutlich machen lässt sich dieser Punkt etwa am komplexen Vorhaben des Schreibens eines Buches: „One could say I perform in the book what performativity does: through writing the book I am making the connection and bringing about performativity“ (S. 115).
Dass ein Vergleich von Kant und dem frühen Wittgenstein nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern vielmehr ein vielversprechendes Unterfangen darstellt, kann bereits mit der klassischen Studie von Erik Stenius Wittgenstein’s Tractatus: A Critical Exposition of its Main Lines of Thought von 1960, die mit „Wittgenstein als Kantianer“ abschließt, als etabliert gelten.[4] Umso mehr ist zu begrüßen, dass Moser nicht bloß den Vergleich weiter ausarbeitet, sondern dies auch aus einer Perspektive eigenen Rechts heraus unternimmt.
Obwohl die Rede von ‚Performativität‘ keine unbekannte Erscheinung in der akademischen Landschaft ist, kann von der späteren Karriere des Begriffs der Performativität oder der Performanz nicht gesagt werden, dass sie sich selbst erklären. Es wäre insofern wünschenswert gewesen, wenn Moser ausdrücklichere Definitionsbemühungen unternommen hätte, um die Redezwecke zu erhellen sowie die Lektüre zu erleichtern. Während in jedem Kapitel das Vorhaben vorbildlich angekündigt und mit einem Rückblick abgeschlossen wird, macht sich jedoch der geringe Raum bemerkbar, der den einzelnen Kapiteln jeweils bleibt, so dass man sich zuweilen wünschen würde, dass die Erläuterungen expliziter oder ausführlicher ausfielen. Dies gilt gerade auch für die Implikationen der Performativität, die sicherlich weiter reichen als dass „propositions need to be used and a judgment must be made“ (S. 62).
Schließlich hätte eine Betonung der Vollzugsperspektive zu exemplarischen Konkretionen einladen können, die im Rahmen der eher abstrakten Erläuterungen zur ‚Verbindung‘ der eigentlich ungetrennten Gedanken und Dingen eher selten zum Einsatz kommen. Der Text von Moser hinterlässt damit den Leser mit einer Lust auf mehr, was dem pragmatischen Denken zu Gute kommen möge und weitere Arbeiten von Moser erwarten lässt.
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- Johansen, Thomas Kjeller (ed.). Productive Knowledge in Ancient Philosophy: The Concept of Technê. Cambridge: Cambridge University Press 2021, xiv + 316 pp.
- Moser, Aloisia, Kant, Wittgenstein, and the Performativity of Thought. Cham: Palgrave Macmillan 2021, xv + 158 pp.
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