Ausgekämmt
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Ann-Sophie Lehmann
Reviewed Publication:
Julia Saviello, Verlockungen. Haare in der Kunst der frühen Neuzeit (Zephir, Bd. 7) Emsdetten/Berlin: Edition Imorde, 2017, 291 Seiten, 18 Farb- und 54 s/w-Abbildungen, € 28,00, ISBN 978-3-942810-38-8
Manchmal gibt es Bücher, deren Themen, Analysen und Ergebnisse so reichhaltig und überzeugend sind, dass man sich wundert, dass sie nicht schon viel früher geschrieben wurden. Julia Saviellos Verlockungen gehört zu diesen Büchern und füllt eine Lücke im Bücherregal der Kunstgeschichte, die lange übersehen wurde. Noch bis Anfang der 2000er-Jahre hatte die kunsthistorische Bibliothek der Utrechter Universität wie das Warburg Institute eine ikonographisch sortierte Abteilung. Dort gab es auch einige Regalmeter zum Körper, der sich hier von Kopf bis Fuß erlesen ließ, von den damals gerade erschienenen Fragments for a history of the human body bis zu obskuren deutschen Studien der vorherigen Jahrhundertwende.[1] Mit der Digitalisierung des Leihsystems und der Verbannung selten ausgeliehener Bücher ins Depot verschwand die Abteilung aus den Regalen und dem Gedächtnis der Leser. Gäbe es sie noch, dann würden die Verlockungen ganz vorne einsortiert werden, zwischen den mittlerweile recht zahlreichen kulturhistorischen Publikationen über Haare, denen Kunstwerke jedoch hauptsächlich als Illustrationen dienen, und jenen vereinzelten Studien zu Maria Magdalena oder den sogenannten ›Wilden Leuten‹, die die ikonographische Bedeutung des »feinen Körperteils«, wie die Autorin ihn treffend nennt, aufgezeigt haben. Doch Haar, so Saviellos These, markiert nicht nur die Relevanz des Körpers für die frühneuzeitliche Kunst, sondern wächst in der Renaissance über diesen hinaus und wird ein Leitfaden für das Verständnis der Kunst an sich.
Die Einleitung mit dem schönen Titel »Pitturas Mähne« entwirft anhand des wuscheligen Schopfes von Cesare Ripas Allegorie der Malerei eine ebenso schlichte wie komplexe Dreieinheit, die das programmatische Gerüst des Buches bildet: Frühneuzeitliche Kunst entsteht und vermittelt zwischen Naturnachahmung auf der einen und phantasievoller Erfindung auf der anderen Seite, indem Künstler Materialien und Techniken entwickeln und beherrschen lernen. Naturbeobachtung, Phantasie und Technik sind also konstituierend für die Kunst; und Haare, so die Ausgangsthese, machen diesen triadischen Grundsatz der Kunstproduktion auf erstaunlich diverse Art und Weise sicht- und fassbar. Etwa wenn Haare als Bildgegenstand in Erscheinung treten (ob als aufwendige Frisur oder wild bewegtes Beiwerk), wenn die Beobachtung ihrer fließenden, wellenden Beschaffenheit die epistemische Erfassung anderer natürlicher Objekte ermöglicht (z. B. Wasserstrudel, Steinadern, Schnecken) oder die Künstlerphantasie Haare zu abstrakten Ornamenten (z. B. Knoten, Schlingen, Schriftzeichen) spinnt. Auch in das dritte Element der Triade – Material und Technik – sind Haare fest eingebunden, weil das einzelne Haar als natürliche Manifestation der Linie eine besondere Rolle in Zeichnung und Druckgraphik einnimmt, während es sich in der Masse zum Pinsel formiert und damit auch die Malerei als eine grundsätzlich haarige Angelegenheit definiert.
Dieses Gerüst wird in fünf Kapiteln auf seine theoretische und praktische Robustheit geprüft und hält nicht nur stand, sondern eröffnet neue Perspektiven und ungeahnte Beziehungen. So zeigt sich im ersten Kapitel, dass Leon Battista Alberti die ersten ausführlichen kunsttheoretischen Überlegungen zum Haar als unbelebt-belebendem Bildelement für die Malerei maßgeblich aus der Poesie und der reichen Haarmetaphorik von Liebesgedichten entwickelt. Indem sie Albertis eigene Versuche analysiert und deren Ursprünge in der zeitgenössischen und früheren Dichtkunst nachweist, kann Saviello zeigen, wie seine Sprache pictura und Poesie nicht etwa im Wettstreit präsentiert, sondern eine Praxistheorie schreibt, in der Motiv, Wirkung und Technik eng miteinander verwoben werden. Damit, so argumentiert Saviello, rationalisiert die Kunsttheorie nicht nur das Verhältnis von Bild und Betrachter (etwa durch die oft bemühten Metaphern von Spiegel, Fenster und Schleier). Vielmehr stellt »die an der Haarbewegung festgemachte Wirkungsästhetik des Bildes eine solche Rationalisierung« (41) auch in Frage. Warburgs bewegtes Beiwerk ist bereits bei Alberti zuhause, und Haare, so zeigt sich im Verlauf des Buches immer wieder, haben die nahezu unheimliche Eigenschaft, jene dichotomischen Paradigmen, die die Kunstgeschichte in die Renaissance einschreiben wird – hier etwa Sinnlichkeit und ratio –, aus der Balance zu bringen. Ein Vergleich von Albertis Haarpassagen aus Della pittura mit seinen Schriften zu Familie, Liebe und Architektur zeigt darüber hinaus, wie das Schönheitsideal der künstlichen Natürlichkeit, das sich zum Beispiel in einer kontrolliert ungekämmten Frisur (incomptus) oder im unauffällig geschminkten Gesicht zeigt und die Darstellung einer gezähmten Sinnlichkeit erlaubt, im Austausch mit anderen gesellschaftlichen Bereichen entwickelt wird.
Den Kern des zweiten Kapitels bildet ein close reading jener spannenden Passagen aus den Aufzeichnungen Leonardo da Vincis, die die Bewegung von Haaren und Wasser in Wort und Bild miteinander vergleichen. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer medizinischer Ideen zur Physiologie der Haare zeigt Saviello, wie sich das epistemische Potential des unbelebten und doch wachsenden Körperteils aus dessen spezifischer Beschaffenheit ergibt. Der einheitliche Eindruck der Haarmasse entsteht aus der Vielfalt zahlloser einzelner, aber gleichartiger Stränge (eine Tatsache, der auch die Bezeichnung ›Haar‹ Rechnung trägt, die als Stoffname sowohl Singular als auch Plural ist). Obgleich Wasser ein fundamental anderer Stoff ist, ergibt sich aus dieser Eigenschaft eine physikalische Analogie. Wie bei vielen von Leonardos Beobachtungen beschreibt auch diese ein tatsächliches Phänomen, das dauerhaft in die Geschichte der Bilderproduktion eingehen wird. So entdeckten Computerwissenschaftler in den frühen 2000er-Jahren, dass sich Algorithmen für die Simulation von Flüssigkeiten vorzüglich für das Rendern von Haaren eignen. Bis dahin waren Haare flächig oder einzeln animiert worden und hatten deshalb in Computeranimationen entweder unecht oder übertrieben hyper-realistisch gewirkt. Die Analogie von Wasser und Haar ermöglichte nun eine visuelle Glaubhaftigkeit, die sich Animationsfilme wie zum Beispiel Disneys Rapunzel-Version Tangled (2010) so erfolgreich zunutze machten, dass die Haare der Protagonistin zum eigentlichen Star des Films avancierten. Saviellos triadischer Ansatz, der besagt, dass Haar Naturbeobachtung, Phantasie und Technik miteinander verflicht, geht so ganz im Sinne einer Warburg’schen Ikonologie auch für zeitgenössische Bildmedien auf: Die Haare in Tangled sind visuelles Spektakel und Narrativ zugleich: eine zeitgenössische Variante des sinnlich-kontrollierten incomptus Albertis, der storia und Affekt verbindet. Die bereits erwähnte Feststellung, dass das einzelne Haar eine natürliche Linie konstituiert, wird im zweiten Teil des Kapitels ausführlicher belegt und bereichert die umfangreiche Linientheorie der frühen Neuzeit, die sich in der Regel um Abstraktion und ratio rankt, um eine unerwartet körperlich-haptische Perspektive.
Das dritte Kapitel analysiert das ornamentale Potential der Haare und stellt Michelangelo und erneut Leonardo in den Mittelpunkt. Saviello kann zeigen, wie Michelangelos Zeichnungen kompliziert gelegter Frisuren als Lehrmittel zum Einsatz kommen, mit denen seine Schüler genauso übten wie mit den isolierten Augen, Händen, Füßen, Rümpfen etc., die den Zeichenunterricht und die Zeichenbücher der frühen Neuzeit prägen. Haare sind jedoch auch im Zeichen-ABC ein ganz besonderer Körperteil, weil sie aufgrund ihrer Formlosigkeit und des darin angelegten ornamentalen Potentials besonders gut geeignet sind, den Übergang vom Naturstudium zur individuellen Bildphantasie zu üben. So wird es, zeigt Saviello, auch in Lehrbüchern formuliert: Alessandro Allori und Karel van Mander zum Beispiel schreiben beide, dass Haare dann am besten gelingen, wenn die Künstlerhand die dafür charakteristischen Bewegungen von Pinsel oder Zeichenstift so internalisiert hat, dass das Naturvorbild nur noch den Anstoß gibt, die Ausführung aber gleichsam von alleine geschieht. Weil sie sich einer verkörperten Technik verdanken, geben abgebildete Haare im Umkehrschluss auch einen Hinweis auf den Künstler, der sie zeichnete oder malte. Dies suggeriert der Arzt Giulio Mancini in seiner Schrift zur Bestimmung von Kunstwerken bereits im frühen 17. Jahrhundert und nimmt damit Morelli’sche Methoden der Kennerschaft vorweg. Sozusagen als Krönung der bewusst-unbewussten Kritzelei kann sich Haar auch darum so wunderbar verselbständigen und wird bei Leonardo zum künstlichen Zusatz, wie Saviello überzeugend anhand einer Zeichnung eines Frauenkopfes argumentiert, deren elaborierte Frisur mit einem echten Haarteil geschmückt ist. Von solchen »Haarfossilien« (ein besonders schönes Beispiel für die im Buch mit viel Genuss entwickelte aber nie übertriebene Haarmetaphorik) ist es nur noch ein Katzensprung zum Haarknoten als autonomem Ornament, das in Leonardos sogenannten gruppi kulminiert und die Saviello mit Giorgio Vasari als Auswuchs von dessen niemals ruhendem, kreativem Geist beschreibt. Dass mit solchen Haaren dem Künstler die Phantasie buchstäblich aus dem Kopf wächst, wie ein Zitat von Dürer zu belegen scheint, ist ein weiteres und besonders überzeugendes Argument für den außergewöhnlichen Status des »feinen Körperteils«.
Die darauf im vierten Kapitel folgende eingehendere Beschäftigung mit dem Lockenkopf Dürers greift auf Joseph Leo Koerners Monographie und deren auf Haargebiet tonangebendes Kapitel über den »hairy, bearded painter« zurück.[2] Saviello ergänzt jene Studie und bringt einige Korrekturen an. So handelt es sich zum Beispiel bei dem Gemälde, an dem Bellini Dürers Haarkunstfertigkeit bewundert haben soll, wohl nicht um ein Ölgemälde, sondern ein Tüchlein, also ein mit Temperafarbe direkt auf Stoff gemaltes Bild, und somit zeigt sich, dass die Wertschätzung des handwerklichen Könnens für die historisch korrekte Einordnung der berühmten Anekdote mindestens ebenso wichtig ist wie die Haarspalterei von Apelles und Protogenes.
Auch das letzte Kapitel stellt das Verhältnis von Natur, Phantasie und Technik wieder in den Mittelpunkt, wirkt aber etwas flüchtig in dem Versuch, auch noch der Haarmalerei eines weiteren Großmeisters der Frühmoderne gerecht zu werden. Mit Tizians breitem Pinsel wird dem Haar als Linie das Haar als Fleck zur Seite gestellt, nun eingefangen als optisches Phänomen. Damit verschwindet, so Saviello, das einzelne Haar in der Masse und damit auch aus der Kunsttheorie. Für Samuel van Hoogstraten und Joachim von Sandrart ist es nur noch Zeichen der Fleißarbeit vergangener Zeiten, und in Wölfflins Grundbegriffen wird der Unterschied zwischen Malerischem und Linearem nirgendwo so deutlich wie an Velázquez’ Haaren, diese »wirken mit vollendeter Stofflichkeit, dargestellt ist aber weder die einzelne Locke noch das einzelne Haar, sondern eine Lichterscheinung, die zu dem objektiven Substrat nur noch eine ganz lose Beziehung hat«.[3] Doch wie Saviello im Nachwort zeigt, tritt auch unter dem anhaltenden Paradigma des Optischen das Haar als Linie weiterhin in Erscheinung: bei Rembrandt zum Beispiel, der seinen Pinsel umdreht, und einzelne Strähnen in die Farb-macchia kratzt.
Mit ihrer Kunsttheorie der Haare gelingt es den Verlockungen, vertraute Elemente der frühmodernen Kunst und Kunsttheorie, die von ganz verschiedenen Künstlern stammen, in verschiedenen Medien gearbeitet sind und augenscheinlich ganz unterschiedliche Ikonographien und Diskurse bedienen, neu zu verbinden. Haare sind, so weiß man am Ende, nicht nur Beiwerk, sondern Haupt-Sache und stellen die traditionellen Dichotomien der Kunstgeschichtsschreibung in Frage, indem sie Naturstudium und Erfindung, visuellen Realismus und Ornament, Zeichnung und Malerei, Sprache und Bild ernsthaft und spielerisch verwirren. Auch im internationalen Kontext kann die Kunsttheorie der Haare bestehen, und es ist bedauerlich, dass Emanuele Lugli in seinem Artikel Leonardo and the hair makers nur einmal und sehr kursorisch auf Saviello verweist, greift er doch zentrale Thesen ihres Buches auf.[4]
Da sich das Buch eines so umfangreichen Gegenstandes annimmt, ist Vollständigkeit unmöglich. So sind die Exkurse zur Kunsttheorie der Niederlande und Englands etwas oberflächlich geraten, und wäre es interessant gewesen herauszufinden, ob Leonardos merkwürdiges Rezept mit kleingeschnittenem Frauenhaar als Zutat für irisierende Farbe lediglich eines jener »impossible recipes« ist, von denen Spike Bucklow gesprochen hat,[5] oder ob Haare tatsächlich auch als Malmaterial Verwendung fanden. Aber Saviellos Kunsttheorie der Haare mag auch andere zum Weiterforschen anregen. Etwas kritischer wäre anzumerken, dass die künstlerische Relevanz der Haare fast ausschließlich mit Werken der Superhelden der Renaissance belegt wird, deren idiosynkratische Herangehensweisen möglicherweise den Blick auf eine alltäglichere Haarkunst verstellen. Auch könnte man fragen, ob die Konzentration auf ein einzelnes Motiv nicht automatisch dessen Relevanz ins Zentrum rückt und ob daher Wasser, Laub, Textilien oder Haut ähnliche Kunsttheorien in sich tragen. Auch das ist jedoch eine konstruktive Kritik, denn Saviellos Buch trägt dazu bei, dass genau eine solche Kunstgeschichte, die den Zusammenhang von Ikonographie, Stil, Material und Technik für verschiedene Motive untersucht und die in den Handbüchern von Cennino Cennini bis Van Mander und Hoogstraten angelegt ist, mehr Raum gewinnt.[6]
Das als Dissertation entstandene Buch ist elegant und intelligent geschrieben, gut redigiert, und der gründliche Index sowie die fortlaufend nummerierten Fußnoten erhöhen den Lesekomfort. Layout, Design, Schrifttyp und Papier der von Fabio Berry, Joseph Imorde und Tristan Weddigen herausgegebenen Zephir-Reihe der Edition Imorde sind optisch und haptisch attraktiv. Inhaltlich und formal kann das Buch darum sicherlich auch ein breiteres Publikum zum Denken mit Kunst verlocken. Übrigens auch weil Saviello sich die Mühe macht, Aspekte, die häufig als kunsthistorisches Allgemeinwissen vorausgesetzt werden, genau zu erklären und mit Quellen zu belegen: Die kurzen Abrisse zur Schminkkritik, zur schöpferischen Natur (natura naturans) oder die sorgfältige Provenienz von Dürers Haarlocke sind sozusagen sorgfältig gearbeitete Flechten in dem üppigen Haarschopf. Ob kurz oder lang, offen oder frisiert – die Kunst hat Haare, und Julia Saviello hat sie erfolgreich ausgekämmt.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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