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Hugo von Hofmannsthal und die ›multiple Persönlichkeit‹. Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne

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Über die Grenze
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HUGO VON HOFMANNSTHAL UND DIE ›MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT‹Hugo von Hofmannsthalund die ›multiple Persönlichkeit‹.Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne»Wir haben kein Bewusstsein über den Augenblick hinaus, weil jede unsererSeelen nur einen Augenblick lebt. [...] Mein Ich von gestern geht mich so1 wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.« (Hugo von Hofmannsthal)Spaltung – Verdoppelung – Vervielfältigung»Wirhaben nichts als ein sentimentalesGedächtnis,einen gelähmtenWillenund die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung«, umschriebder junge Hofmannsthal seine Diagnose der Moderne als Ära einer ob-sessiven »Analyse des Lebens« und ästhetizistischer »Flucht vor dem2Leben«. In seinem postum publizierten RomanfragmentAndreasoder die Vereinigten(1907-1927) inszeniert er das sensationelle Phäno-men der Bewusstseinsspaltung in Formeiner Verdoppelung,derenpsychopathologisch beschriebene Dynamik sich in den reduplizieren-den Verfahrendieses Textes,eines Konvoluts ausSkizzen und Notizen,niederschlägt. Die dissoziierte Persönlichkeit hat sich seitdem zur›multiplen‹ vervielfältigt. Mit diesem Begriff bezeichnet der klinischeDiskurs ein Krankheitsbild, das sich durch die Zersplitterung eines In-dividuums in verschiedenartige Bewusstseinszustände charakterisiert,die die Kontinuität und Kohärenzseiner persönlichen Identität gefähr-den. Dass diese Ich-Partikel seit dem 19. Jahrhundert vonMedizin undLiteratur als Personen dargestellt wurden, ist das eigentlich Befremdli-che.Die Rede von nacheinander oder simultan auftretendenpersonae,1. Zit. in: Gabriele Inacker: Antinomische Strukturen im Werk Hugo von Hof-mannsthals, Göppingen 1973, S. 91.2. Hugo von Hofmannsthal: »Gabriele d’Annunzio« (1894), in: Reden und Auf-sätze I. 1891-1913, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/Main 1979, S. 174-184, hier: S. 174f., 176.1912006-03-06 14-58-58 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S. 191-215) T01_08 Kapitel hofmannsthal.p 10963823348
© 2015 transcript Verlag

HUGO VON HOFMANNSTHAL UND DIE ›MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT‹Hugo von Hofmannsthalund die ›multiple Persönlichkeit‹.Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne»Wir haben kein Bewusstsein über den Augenblick hinaus, weil jede unsererSeelen nur einen Augenblick lebt. [...] Mein Ich von gestern geht mich so1 wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.« (Hugo von Hofmannsthal)Spaltung – Verdoppelung – Vervielfältigung»Wirhaben nichts als ein sentimentalesGedächtnis,einen gelähmtenWillenund die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung«, umschriebder junge Hofmannsthal seine Diagnose der Moderne als Ära einer ob-sessiven »Analyse des Lebens« und ästhetizistischer »Flucht vor dem2Leben«. In seinem postum publizierten RomanfragmentAndreasoder die Vereinigten(1907-1927) inszeniert er das sensationelle Phäno-men der Bewusstseinsspaltung in Formeiner Verdoppelung,derenpsychopathologisch beschriebene Dynamik sich in den reduplizieren-den Verfahrendieses Textes,eines Konvoluts ausSkizzen und Notizen,niederschlägt. Die dissoziierte Persönlichkeit hat sich seitdem zur›multiplen‹ vervielfältigt. Mit diesem Begriff bezeichnet der klinischeDiskurs ein Krankheitsbild, das sich durch die Zersplitterung eines In-dividuums in verschiedenartige Bewusstseinszustände charakterisiert,die die Kontinuität und Kohärenzseiner persönlichen Identität gefähr-den. Dass diese Ich-Partikel seit dem 19. Jahrhundert vonMedizin undLiteratur als Personen dargestellt wurden, ist das eigentlich Befremdli-che.Die Rede von nacheinander oder simultan auftretendenpersonae,1. Zit. in: Gabriele Inacker: Antinomische Strukturen im Werk Hugo von Hof-mannsthals, Göppingen 1973, S. 91.2. Hugo von Hofmannsthal: »Gabriele d’Annunzio« (1894), in: Reden und Auf-sätze I. 1891-1913, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/Main 1979, S. 174-184, hier: S. 174f., 176.1912006-03-06 14-58-58 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S. 191-215) T01_08 Kapitel hofmannsthal.p 10963823348
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Chapters in this book

  1. Frontmatter 1
  2. Inhalt 7
  3. Vorwort 9
  4. Räume, Zeichen, Mythen
  5. Die Geometrie adligen Geschlechtertausches. Vormoderne Travestie im höfischen Raum des französischen Absolutismus am Beispiel des Abbé de Choisy 23
  6. »La barbe ne fait pas l’homme«. Liebe und Geschlechtertausch in George Sands Drama ›Gabriel‹ 51
  7. ›Singende Steine‹. Zur Verschränkung von Mythos und Geschichte in George Sands Landroman ›Jeanne‹ 71
  8. Inversion und Perversion
  9. Zwittrige Engel. Androgynie und Hermaphroditismus in französischer Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 97
  10. ›Père-Version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in französischer Dekadenzliteratur 115
  11. ›Hommes-femmes‹ au féminin. Zu Colettes Dekonstruktion ›dritter Geschlechter‹ 139
  12. Gender, Genres und die Krise der Moderne
  13. Maske und Symptom. Mythenverarbeitung und Privatmythologie bei Karoline von Günderrode 169
  14. Hugo von Hofmannsthal und die ›multiple Persönlichkeit‹. Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne 191
  15. ›Erkranken am Geschlecht‹. Zur Inszenierung des ›Mannweibs‹ in medizinischen und literarischen Diskursen der Zwanziger Jahre 217
  16. Rhetorik der Performanz
  17. Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett 243
  18. Nijinsky, der ›Gott des Tanzes‹ als ›Clown Gottes‹? Zur Geschichte eines homophilen Wieder(v)erkennens 281
  19. Dinge sehen dich an. Die Melancholie des leeren Platzes in der metaphysischen Malerei 319
  20. ›Camp as Pop Can‹. Andy Warhol als Gesamtkunstwerk 355
  21. Textnachweise 379
  22. Abbildungsnachweise 381
  23. Backmatter 382
Downloaded on 21.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783839404225-008/html?licenseType=restricted&srsltid=AfmBOoqzCJndPcfyHAHwUg4Vxzj1k0SWnZ2CBPKaP9_AkRQpIbXbJrsy
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