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Klassikforschung und Digital Humanities. Ein Kommentar zur Studie World Literature According to Wikipedia
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Klassik als kulturelle Praxis
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https://doi.org/10.1515/9783110615760-010Paula Wojcik und Sophie Picard Klassiker@wikipedia Klassikforschung und Digital Humanities. Ein Kommentar zur Studie World Literature According to Wikipedia1Klassikforschung und Neue Medien Mit der im Band vorgeschlagenen Unterscheidung von Klassik und Kanon rekur-rieren wir auf ein Klassikverständnis, das auf einen tatsächlichen, empirisch be-legbaren Gebrauch von Kulturgütern (soweit dieser nachvollziehbar ist) abzielt. Damit soll der Begriff von einem Klassikverständnis abgegrenzt werden, in dem Klassiker mit kanonisierten Werken gleichgesetzt werden, also einer bewusst ge-troffenen Auswahl, die für Bildung oder Kulturpolitik zuständige Institutionen vornehmen. Der Vorschlag lautet deshalb, Klassik und Kanon anhand der Krite-rien ‚Gebrauch‘ und ‚Setzung‘ zu analytischen Zwecken zu trennen, was umge-kehrt jedoch nicht bedeutet, dass sie auf der Ebene der einzelnen Phänomene nicht zusammenfallen können: Kanonisches kann genau dann klassisch sein, wenn ein nachhaltiger Gebrauch nachgewiesen wird. Kanon kann in diesem Ver-ständnis als institutionelle Bestätigung des Klassikerstatus gesehen werden. Wie aber ist es möglich, den jeweiligen Gebrauch von klassischen Texten, Autoren, Stoffen usw. zu messen? Kanonisch ist, was als solches ausgewählt und festgehalten wurde, und auf dieses Festgehaltene lässt sich zugreifen: Schullek-türen werden in offiziellen Empfehlungen zusammengestellt, der für das jewei-lige Fach geltende Kanon an Universitäten ist anhand von Leselisten und Einfüh-rungswerken nachvollziehbar. Populäre Kulturgeschichten bieten einen Einblick in den Kanon der Literatur, Architektur und Kunst aber auch des Designs, der Mode, des Automobils, der Pop- oder Rockmusik. Wie aber lässt sich überprüfen, ob die in den Kulturgeschichten aufgeführten und in den Leselisten festgehalte-nen Phänomene tatsächlich gebraucht werden? Ein zuverlässiger Weg führt über die Rezeption von Werken in der Kunst und kommerziellen Kultur. Dort wird die Diskrepanz zwischen Kanon und Klassik besonders sichtbar, weil die künstleri-sche Auseinandersetzung wie kommerzielle Appropriation dem Kanon folgen können, aber nicht müssen. Kunst und Wirtschaft sind ja nicht der Bildungs- und Kulturpolitik verpflichtet. Gleichzeitig folgen sie ihren eigenen – wenn man mit Luhmann sprechen möchte – systemischen Zwängen, zu denen das Gebot der Vermarktbarkeit, also einer rezeptionsorientierten Produktion, die die Umwand-lung des Produkts in Kapital vorsieht, gehört. Das gilt für Kunst – insbesondere,
© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

https://doi.org/10.1515/9783110615760-010Paula Wojcik und Sophie Picard Klassiker@wikipedia Klassikforschung und Digital Humanities. Ein Kommentar zur Studie World Literature According to Wikipedia1Klassikforschung und Neue Medien Mit der im Band vorgeschlagenen Unterscheidung von Klassik und Kanon rekur-rieren wir auf ein Klassikverständnis, das auf einen tatsächlichen, empirisch be-legbaren Gebrauch von Kulturgütern (soweit dieser nachvollziehbar ist) abzielt. Damit soll der Begriff von einem Klassikverständnis abgegrenzt werden, in dem Klassiker mit kanonisierten Werken gleichgesetzt werden, also einer bewusst ge-troffenen Auswahl, die für Bildung oder Kulturpolitik zuständige Institutionen vornehmen. Der Vorschlag lautet deshalb, Klassik und Kanon anhand der Krite-rien ‚Gebrauch‘ und ‚Setzung‘ zu analytischen Zwecken zu trennen, was umge-kehrt jedoch nicht bedeutet, dass sie auf der Ebene der einzelnen Phänomene nicht zusammenfallen können: Kanonisches kann genau dann klassisch sein, wenn ein nachhaltiger Gebrauch nachgewiesen wird. Kanon kann in diesem Ver-ständnis als institutionelle Bestätigung des Klassikerstatus gesehen werden. Wie aber ist es möglich, den jeweiligen Gebrauch von klassischen Texten, Autoren, Stoffen usw. zu messen? Kanonisch ist, was als solches ausgewählt und festgehalten wurde, und auf dieses Festgehaltene lässt sich zugreifen: Schullek-türen werden in offiziellen Empfehlungen zusammengestellt, der für das jewei-lige Fach geltende Kanon an Universitäten ist anhand von Leselisten und Einfüh-rungswerken nachvollziehbar. Populäre Kulturgeschichten bieten einen Einblick in den Kanon der Literatur, Architektur und Kunst aber auch des Designs, der Mode, des Automobils, der Pop- oder Rockmusik. Wie aber lässt sich überprüfen, ob die in den Kulturgeschichten aufgeführten und in den Leselisten festgehalte-nen Phänomene tatsächlich gebraucht werden? Ein zuverlässiger Weg führt über die Rezeption von Werken in der Kunst und kommerziellen Kultur. Dort wird die Diskrepanz zwischen Kanon und Klassik besonders sichtbar, weil die künstleri-sche Auseinandersetzung wie kommerzielle Appropriation dem Kanon folgen können, aber nicht müssen. Kunst und Wirtschaft sind ja nicht der Bildungs- und Kulturpolitik verpflichtet. Gleichzeitig folgen sie ihren eigenen – wenn man mit Luhmann sprechen möchte – systemischen Zwängen, zu denen das Gebot der Vermarktbarkeit, also einer rezeptionsorientierten Produktion, die die Umwand-lung des Produkts in Kapital vorsieht, gehört. Das gilt für Kunst – insbesondere,
© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Munich/Boston

Chapters in this book

  1. Frontmatter I
  2. Inhalt V
  3. Teil I: Klassiker (in) der Gegenwart
  4. Intermedialität und Transkulturalität oder: Klassiker populär (eine Einführung) 1
  5. Von nicht zeitlich, doch sachlich begrenztem Wert 27
  6. Klassiker im Zeitalter der Neuen Archive 39
  7. Klassiker im Maelstrom der Moderne 53
  8. Klassiker – eine merkmalsunabhängige Wertzuschreibung 73
  9. Kommentar 109
  10. Teil II: Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet
  11. Interaktion mit neuen Massenmedien: Radio, Fernsehen, Internet 117
  12. Goethe und das Radio: eine Win-win-Situation (1932 und 1949) 121
  13. Das Fernsehen als ‚Fenster zur Welt‘? 139
  14. Klassiker@wikipedia 149
  15. Teil III: Klassiker als kulturelle Ikonen
  16. Klassiker als kulturelle Ikonen 167
  17. Romantische Klassiker – Figuren des Überschusses? 171
  18. Dante im Porträt 205
  19. Mickiewicz in Paris, Chopin im Knast 225
  20. Waiting for … 247
  21. Fräulein Else und ihr kleines Schwarzes 263
  22. Die Republik und der Deutsche 281
  23. Ikonische Bilder im Ballett 295
  24. Teil IV: Intermedialität als Instrument der Vermittlung
  25. Intermedialität als Instrument der Vermittlung 313
  26. Neufunktionalisierung eines flämischen Klassikers im Comic: Consciences Löwe von Flandern im Dienste neuer Herren 317
  27. Goe-T und Chiller? 339
  28. Max Frisch – ein moderner Klassiker? 355
  29. Teil V: Kulturelle Aneignung: Intermedialität
  30. Kulturelle Aneignung: Intermedialität 371
  31. „… on veut la grande littérature“: Zu zwei zeitgenössischen filmischen Re- Interpretationen der Princesse de Clèves 375
  32. Les liaisons dangereuses go East 393
  33. Carmens Weg in die Townships von Südafrika 417
  34. Mashing-up Werther 435
  35. Zwischen Originalität und Trivialität 455
  36. Transatlantischer Klassiker-Transfer 477
  37. Baal im Film 503
  38. Teil VI: Kulturelle Aneignung: Intertextualität
  39. Kulturelle Aneignung: Intertextualität 515
  40. Neue Originale 519
  41. Vom Klassiker zum Kultbuch 531
  42. „Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“ 547
  43. Klassiker Parodien interkulturell 561
Downloaded on 18.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/9783110615760-010/html?srsltid=AfmBOoquAbwxA_OcUIq5ZsxJvzRH9Nbeg9SzN4-sLrnRYI-YVzXpQdTQ
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