10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 146 799(insbesondere gegenüber den USA) seien. Schwierigkeiten hätten hier noch Spa-nien und Dänemark. Er versprach jedoch, seine Bemühungen zu verdoppeln, um die bei der Umsetzung des Montreal-Protokolls und auch bei der Reduzierung vonEmissionen von Großfeuerungsanlagen bestehende Probleme zu überwinden. Ende der Sitzung: 13.05 Uhr. Referat 010, Bd. 178936 146 Aufzeichnung des Ministerialdirektors Freiherr von Richthofen Dg20/201-363.20-560/88 geheim 10. Mai 1988 Über Herrn Staatssekretär1 Herrn Bundesminister2Zweck der Vorlage: zur Unterrichtung im Hinblick auf Hausbesprechung am 10. Mai 1988 Betr.: Gesamtkonzept3; hier: Parameter für künftige Struktur des Nuklearpotentials der NATO 1) Zusammenfassung Die Bündnisberatungen über das Gesamtkonzept geben der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit, für die eigene – und die damit untrennbar ver-bundene westliche – Sicherheit im umfassenden Sinne wichtige Weichenstellun-gen zu beeinflussen – für die weitere Entwicklung des westeuropäischen Integrationsprozesses, – für das amerikanisch-europäische Verhältnis, – für die Bemühungen um ein stabileres West-Ost-Verhältnis. Voraussetzung ist, daß wir zunächst unsere eigenen Interessen definieren, um auf dieser Basis die Meinungsbildung der westeuropäischen Bündnispartner zunächst bilateral (F, dann GB), anschließend Gesamt-WEU4 und (nach den Wahlen5) USA sowie des übrigen Bündnisses zu lenken. Da wir die wichtigste Karte in der Hand halten (ohne uns geht es nicht), sollte das möglich sein, wenn 1 Jürgen Sudhoff. 2 Hat Bundesminister Genscher am 10. Mai 1988 vorgelegen, der handschriftlich vermerkte: „V[or]-t[ra]g“. Hat Vortragendem Legationsrat I. Klasse Elbe am 28. Juni 1988 vorgelegen, der den Rücklauf über das Büro Staatssekretäre an Ministerialdirigent von Ploetz und Referat 201 verfügte. Hat im Büro Staatssekretäre am 29. Juni 1988 vorgelegen. Hat Ploetz am 4. Juli 1988 vorgelegen. Hat Vortragendem Legationsrat Gröning vorgelegen. 3 Zur Neuformulierung eines sicherheitspolitischen Gesamtkonzepts der NATO vgl. Dok. 78. 4 Zur Diskussion über eine gemeinsame Sicherheitspolitik im Rahmen der WEU vgl. Dok. 93. 5 Am 8. November 1988 fanden in den USA Präsidentschaftswahlen sowie Wahlen zum Repräsentanten-haus und Teilwahlen für den Senat und die Gouverneursämter statt.
146 10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 800wir sie klug spielen. Das heißt vor allem, sie nicht zu früh, aber auch nicht zu spätausderHandzugeben,sondernimwirklichenSinneeinessicherheits- (nicht nur rüstungskontroll)politischen Gesamtkonzepts vorzugehen in allen drei Dimensionen (Schlußfolgerungen für deutsche Position s. Ziffern 4–6). 2) Schon der Harmel-Bericht6 geht von einem Zusammenwachsen Europas aus. In letzter Konsequenz wird und kann es dies nicht geben, wenn sich die europäischen Bündnispartner nicht mit den Herausforderungen des nuklearen Zeitalters auseinandersetzen. Die Beratungen über das Gesamtkonzept bieten eine Chance dafür. Allerdings sind die bisherigen Stellungnahmen, vor allem von GB, nicht ermutigend. Ausgangspunkt sollte der immer wieder bekräftigte Konsens sein, daß es in Europa7 keine Kriegsverhütung ohne nukleare Waffen gibt. Das Dilemma vor allem der öffentlichen Präsentation besteht darin, daß Nuklearwaffen den Euro-päern wirklich nur dann dienen, wenn sie nicht eingesetzt werden. Und hierfür wiederum besteht nur dann eine Chance, wenn der Gegner – im Ernstfall – mit ihrem Einsatz rechnet. Aron hat dieses Dilemma schon früh beschrieben.8Frankreichhat einen Teilschritt getan, hieraus ist die Schlußfolgerung zu ziehen: Seine Nuklearpolitik ist aber bis jetzt nur Ausdruck eines nuklearen Nationalis-mus, einer Art nuklearen Maginot-Denkens, geblieben. Sie setzt die Fortdauer des Status quo voraus, der durch eine – mit entsprechenden, in Europa präsen-ten nuklearen Mitteln der USA glaubhaft gemachte – Allianzstrategie der flexi-blen Erwiderung9 gekennzeichnet ist, die ihrerseits ausreichende deutsche und amerikanische konventionelle Mittel sowie öffentliche Akzeptanz der NATO- Nuklearstrategie, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, voraussetzt.10Diese beiden, bisher als Konstante betrachteten Bedingungen dafür, daß die Inkonsequenz der französischen Doktrin nicht offengelegt werden muß, erschei-nen heute weniger konstant. F trifft sich daher mit GB in dem Bemühen, den bisherigen Status quo wieder zu verfestigen. Das Mittel: eine substantielle Verstärkung der nuklearen US-Präsenz für die Zeit nach der Implementierung des INF-Abkommens – durch die sogenannte Modernisierung.116 Für den Wortlaut des „Berichts des Rats über die künftigen Aufgaben der Allianz“ (Harmel-Bericht), der dem Kommuniqué über die NATO-Ministerratstagung am 13./14. Dezember 1967 in Brüssel beigefügt war, vgl.NATOFINAL COMMUNIQUÉS 1949–1974, S. 198–202. Für den deutschen Wortlaut vgl.EUROPA-ARCHIV 1968, D 75–77. Vgl. dazu auch AAPD 1967, III, Dok. 435, und AAPD 1968, I, Dok. 14. 7 Dieses Wort wurde von Bundesminister Genscher unterschlängelt. 8 Vgl. Raymond ARON, Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt, Frankfurt am Main 1963, S. 574–581. 9 Zur Strategie der „flexible response“ vgl. Dok. 11, Anm. 9. Die Wörter „flexible Erwiderung“ wurden von Bundesminister Genscher unterschlängelt. 10 Dieser Satz wurde von Bundesminister Genscher durch Fragezeichen hervorgehoben. 11 Dieser Absatz wurde von Bundesminister Genscher durch Fragezeichen hervorgehoben. Botschafter Hansen, Brüssel (NATO), analysierte am 4. Mai 1988 die verteidigungspolitischen Vorstel-lungen Frankreichs und Großbritanniens. Beide Staaten hätten ein erhebliches Interessen an einem amerikanisch-sowjetischen Übereinkommen über die Verminderung strategischer Nuklearsysteme um 50%, da dies das Gewicht ihrer eigenen strategischen Systeme ohne eigene Reduzierungsverpflich-tungen erhöhen würde: „Keinerlei Interesse haben F und GB an Beendigung amerikanischer nuklearer Präsenz in Europa oder auch nur an qualitativ bedeutsamer Verringerung. Bei Frage Modernisierung von nuklearen Systemen unter 500 km Reichweite und rüstungskontrollpolitischer Behandlung von
10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 146 801GB stellt die Lance-Nachfolge in den Vordergrund, obwohl es – für sein eigenes Arsenal – das Schwergewicht auf den Abstandsflugkörper legt. Hierin liegt eine politische Logik: GB möchte, daß die USA auch weiter die – möglichst alleinige – Verantwortung für ein eventuelles Überschreiten der nuklearen Schwelle tragen und dafür über Mittel verfügen, die GB nicht hat. Neue strategische oder sonstige konzeptionelle Überlegungen für die Lance-Modernisierung sind weder von F noch von GB vorgebracht worden; das fällt angesichts der Aussage der militärischen NATO-Stellen schwer, wonach ein Abstandsflugkörper mit 400 km Reichweite etwa 90% aller derzeit von INF-Systemen abgedeckten Ziele abdecken kann und natürlich auch entsprechende Abdeckung in geringeren Entfernungen erlauben sollte. GB räumt auch ein, daß für das „Brandmauer“-Konzept kein wirklich überzeugendes, strategisches oder politisches Rationale vorhanden ist. Es ist offenbar eine Art vordere Verteidi-gungslinieimHinblickaufbefürchtetesowjetischeVorstößeeinerseitsundangeb-liche deutsche Unsicherheit oder sogar Neutralismus andererseits. UnsereeuropäischenPartnerGBundFhaben – leider – noch nicht begriffen, daß sie selbst mit ihrem nuklearen Nationalismus, man könnte ihn bei F gelegentlich sogar nuklearen Neutralismus nennen, in ihren Köpfen das Gespenst eines deut-schen Neutralismus erzeugen, weil sie ihn als eine letztlich zwingende Konse-quenz des eigenen Verharrens im Status quo (Nuklearstatus ohne Verantwor-tung für Europa; kein wirkliches Hinarbeiten auf europäische Friedensordnung) ansehen! 3) Vor diesem Hintergrund müssen wir unter Gesichtspunkten der Substanz wie der Prozedur und Taktik unsere Position für die Bündnisberatungen über das Gesamtkonzept formulieren. Ausdemunter1)und2) Gesagten folgt, daß wir diese Positionsbestimmung nicht auf die Frage der rüstungskontrollpolitischen Erfassung der der NATO in und für Europa nach der INF-Implementierung verbleibenden Nuklearsysteme be-schränken können. Dies würde eine unseren Interessen zuwiderlaufende und das Bündnis in seinem Grundkonsens erschütternde Blockadehaltung bei GB – unterstützt von den anderen beiden Nuklearmächten – auslösen.12Fortsetzung Fußnote von Seite 800SNF treten ebenfalls parallele Interessen zutage. Beide wollen Modernisierung [...]. Sie wehren dadurch schon im Vorfeld Forderung nach Begrenzung ihrer eigenen Systeme ab, sichern weiteren Verbund mit amerikanischen Systemen in Europa, garantieren fortdauernde US-Präsenz in Europa und erleichtern im Falle F eigene Modernisierungen (Pluton/Hades). Durch Herauslösung rüstungs-kontrollpolitischer Behandlung von SNF aus Gesamtkonzept Bündnisses für Rüstungskontrolle und Abrüstung soll befürchteten Tendenzen zu weiteren Null-Lösungen in Richtung auf denuklearisiertes Europa Riegel vorgeschoben werden.“ Vgl. den Drahtbericht Nr. 597; VS-Bd. 12250 (220); B 150, Akten-kopien 1988. 12 Brigadegeneral Schenk Graf von Stauffenberg, London, übermittelte am 22. April 1988 eine Einschät-zung des britischen Außenministeriums zu einem sicherheitspolitischen Gesamtkonzept der NATO: „Bezüglich der Ziele und Inhalte dieses Konzepts sieht sich das MOD UK in voller Übereinstimmung mitdemBMVg.EsgehtbeidemGesamtkonzeptdarum,zunächstdiezukünftig notwendigen Potentiale zur Aufrechterhaltung der Abschreckungsfähigkeit zu definieren und darauf basierend die zukünftige Abrüstungs-/Rüstungskontrollinitiativen festzulegen. Bei den sicherheitspolitischen Konsultationen im AA am 30.3.88 hat man durch die Ausführungen Botschafter Holiks den Eindruck gewonnen, daß auf deutscher Seite außerdem auch Überlegungen zu einem engeren Ansatz in der Weise bestehen, daß in diesem Gesamtkonzept nur die zukünftigen Abrüstungs- und Rüstungskontrollinitiativen mit Schwerpunkt auf der SNF-Problematik zu definieren wären. Diesem Ansatz kann britischerseits nicht zugestimmt werden.“ Stauffenberg kam zu dem Schluß: „Im MOD UK bestehen ganz offensicht-lich Zweifel, ob die Bundesrepublik als Initiator des Gesamtkonzept-Ansatzes selbst schon einvernehm-
146 10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 802a) Ausgangspunkt: Ziel unserer Sicherheitspolitik bleibt Kriegsverhütung. Sie setzt Abschreckung voraus in einer Welt, aus der Nuklearwaffen nicht ver-schwinden werden – ungeachtet diesbezüglicher Rhetorik13 von Reagan und Gorbatschow – und in der letztlich nicht Absichten den Ausschlag über Sicher-heit oder Unsicherheit geben, sondern die verfügbaren militärischen Optionen. Abschreckung ist – gemäß historischer Erfahrung – mit konventionellen Mitteln allein nicht zu gewährleisten. – Daher: Auf voraussehbare Zeit wird die kriegsverhütende Abschreckung „auf der Grundlage einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirk-samer nuklearer und konventioneller Streitkräfte“ gewährleistet werden müs-sen. Es gibt keine kriegsverhütende Abschreckung für Europa ohne Nuklear-waffen. Man könnte sogar sagen: Europa braucht sie mehr als die USA, die nicht mit einer anderen Supermacht auf demselben Kontinent zusammen-leben müssen. – Die Nuklearmächte selbst halten es grundsätzlich für ausreichend, zur Ab-schreckungvonAngriffengegenihreigenesTerritoriumsolcheSysteme verfüg-bar zu halten, die das Territorium des potentiellen Aggressors unter Risiko halten.14 GB ist diesem Prinzip treu geblieben, F scheint – entsprechend Aussagen Mitterrands15 – zu ihm zurückzukehren. – D als Nichtnuklearmacht an vorderster Linie ist mehr als alle anderen auf die kriegsverhütende Wirkung von N-Waffen angewiesen. Es ist aber sein Inter-esse, daß die dafür erforderliche Abschreckung gegenüber dem potentiellen Angreifer entwickelt wird; d.h.: Unter Abschreckungsgesichtspunkten sollte der Schwerpunkt aus unserer Sicht eindeutig bei den längeren Reichweiten liegen. Der durch die allgemeinen politischen Richtlinien für den Einsatz von Nuklearwaffen16 eingeleitete – aber nicht abgeschlossene – Prozeß einer Um-strukturierung mit Schwerpunktverlagerung zu weiterreichenden Systemen muß fortgesetzt werden. b) Da die Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft keine eigenen Nuklear-waffenanstrebt,istsieaufdieAbschreckung angewiesen, die durch die kollektive Verteidigung im NATO-Rahmen erzeugt wird. Grundlage dafür ist die NATO-Strategie der flexiblen Erwiderung, in deren Rahmen sich die US- und GB-Systeme, nicht aber die F-Systeme einordnen. Gemeinsam ist allen drei Potentialen, daß die Einsatzentscheidung dem Staats- bzw. Regierungschef vorbehalten ist. Unterschiede gibt es aber in bezug auf das strategische Konzept und seine Umsetzung, wofür wir im NATO-Rahmen weit-gehende Vorkehrungen für Konsultationen haben, die bei F (noch?) fehlen. Fortsetzung Fußnote von Seite 801lich definiert hat, welche Ziele und Inhalte dieser umfassen muß.“ Vgl. den Drahtbericht Nr. 793; VS-Bd. 12242 (220); B 150, Aktenkopien 1988. 13 Dieses Wort wurden von Bundesminister Genscher unterschlängelt. 14 Dieser Absatz wurde von Bundesminister Genscher hervorgehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Alle?“ 15 Zum sicherheitspolitischen Denken des Staatspräsidenten Mitterrand vgl. Dok. 89. 16 Die auf der Ministersitzung der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) am 21./22. Oktober 1986 in Gleneagles verabschiedeten General Political Guidelines (GPG) der NATO regelten das Vorgehen beim Nuklearwaffeneinsatz im Rahmen der Strategie der „flexible response“. Vgl. dazu AAPD 1986, I, Dok. 178, und AAPD 1986, II, Dok. 229, Dok. 246 und Dok. 302.
10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 146 803Im Zusammenhang mit dem sich verändernden globalen und insbesondere nuklearen Kräfteverhältnis (Verlust zunächst des Monopols und dann der Über-legenheit der USA bei strategischen Systemen) hat sich das strategische Denken in den USA entwickelt. Die USA, die – anders als F und GB – einen Teil der Abschreckungswirkung ihres Nuklearpotentials an europäische Bündnispartner „ausleihen“ (extended deterrence), halten für diesen speziellen Zweck Nuklearsysteme unterhalb der strategischen Ebene für erforderlich. Die Tendenz des amerikanischen Denkens geht erkennbar in eine unseren Interessen zuwiderlaufende Richtung: Die Regio-nalisierungskonzepte denkbarer Konflikte in der Studie von Wohlstetter und anderen prominenten US-Denkern („Discriminate Deterrence“)17 verdeutlichen sie.18Für die Bundesrepublik Deutschland ist es wichtig, Entscheidungen über die künftige Struktur des NATO-Nuklearpotentials in Kenntnis dieser Tendenzen in eine auch unseren Interessen Rechnung tragende Richtung zu lenken. c) Es liegt ferner in unserem Interesse, daß das Bündnis auch folgende voraus-sehbaren Entwicklungen der Nuklearpotentiale unserer Verbündeten berück-sichtigt: – USA: Implementierung von INF, Reduzierung des strategischen Potentials um 50% (START). Alle Bündnispartner gehen davon aus, daß die START-Reduzie-rungen strategieneutral sind; dennoch ist nicht zu übersehen, daß sich – vor allem durch Fortsetzung des START-Prozesses – die für eine glaubwürdige flexible Erwiderung erforderliche Flexibilität der Optionen in strategierelevan-terWeiseverändernkönnte.19DerWEU-Ministerauftrag,europaspezifische Auswirkungen dieses Prozesses zu untersuchen20, ist Ausdruck einer entspre-chenden Sorge. – GB: Modernisierungsprogramm bei seegestützten strategischen Systemen; starke Bemühungen um Entwicklung eines Abstandsflugkörpers. – F: Modernisierung des gesamten see- und luftgestützten Potentials (bei letzte-rem einschließlich Abstandsflugkörpers); Überlegungen zur Modernisierung des landgestützten strategischen Potentials. Voraussichtlich: Überprüfung der Planung des landgestützten Kurzstreckenpotentials. Offenhalten der Option einer Neutronenwaffe. Inwieweit GB und F in der Zukunft im nuklearen Bereich wirklich enger zu-sammenarbeiten,istungewiß.VorallemdieHaushaltsentwicklungin F läßt aber erwarten, daß in diese Richtung wichtige Entwicklungen möglich sind. 17 Zum Bericht „Discriminate Deterrence. Report of The Commission On Integrated Long-Term Strategy“ vgl. Dok. 11. 18 Zu diesem Satz vermerkte Bundesminister Genscher handschriftlich: „Nitze?“ 19 Der Passus „die für eine glaubwürdige ... verändern könnte“ wurde von Bundesminister Genscher her-vorgehoben. Dazu Fragezeichen. 20 Auf der WEU-Ministerratstagung am 18./19. April 1988 in Den Haag beauftragten die Außenminister der WEU-Mitgliedstaaten die Sonderarbeitsgruppe der WEU, einen Bericht zu folgenden Punkten an-zufertigen: „1) goals of conventional stability talks seen in a European perspective; 2) consequences for Europe of possible developments in the START talks; 3) role of the nuclear and conventional components of deterrence for security in Europe; 4) defence burden-sharing within the Atlantic Alliance and possible initiatives in this respect from the European allies that are members of WEU which aim at developing sound and balanced transatlantic relations.“ Vgl. die Anlage zur Aufzeichnung des Vor-tragenden Legationsrats I. Klasse von Arnim vom 21. April 1988; Referat 220, Bd. 144760.
146 10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 804InderGesamtrelationderwestlichenPotentialezueinanderwirdalsodasrelative GewichtderbritischenundfranzösischenSystemegegenüberdenamerikanischen zunehmen; zunehmende Eignung der modernisierten F- und GB-Systeme für selektive Einsätze (die bisher – Ausnahme luftgestützte Systeme – weitgehend fehlte) verstärkt diese Tendenz. d) GB und F haben (besonders bei Vorbereitung der WEU-Plattform21) Wert darauf gelegt, daß zwar der Beitrag ihrer Systeme zur Gesamtabschreckung ausdrücklich anerkannt wird, weil die politische Unterstützung für GB- und F-Weigerung wertvoll ist, die Nuklearpotentiale in nukleare Abrüstungsverhand-lungen nicht – wenigstens nicht in dieser Phase – einzubringen. Eine Gegenleistung für diese politische Unterstützung – konkretere Aussagen über den strategischen Beitrag dieser Systeme zur Sicherheit der übrigen Part-ner – konnten F und GB bisher vermeiden, weil diese nach Umfang und techni-schen Merkmalen für den (für die Abschreckung in Europa vor allem wichtigen) selektiven Einsatz nicht in Betracht kamen. Angesichts der „überreichlichen“ Verfügbarkeit amerikanischer Mittel bestand keine Dringlichkeit an Klärung. Dies kann sich in Zukunft ändern: einmal wegen der Entwicklung des amerika-nischen strategischen Denkens, zum anderen wegen der relativen Veränderung der Gewichte. Für die Antwort auf die Frage, wie das zukünftige Nuklearpotential der NATO, d.h. das in und für Europa verfügbare Nuklearpotential unterhalb der strate-gischen Ebene zwischen den beiden Großmächten, strukturiert sein und welchen Umfang es haben soll, wird es wichtig sein, daß F und GB sich etwas deutlicher erklären. e) Dies ist um so wichtiger, weil auch in einem Verteidigungsbündnis grundsätz-lich das Prinzip der Subsidiarität gilt: Jeder ist zunächst einmal im Rahmen sei-ner eigenen Leistungsfähigkeit für sich selbst verantwortlich. Es ist abzusehen, daß die Burden-Sharing-Diskussion, die sich keineswegs auf Haushaltsfragen beschränkt, auch eines Tages zu der sensitiven Frage vorstoßen wird, was die europäischen Nuklearmächte letztlich beitragen. Westeuropa muß deshalb behutsam anfangen, sich eine gemeinsame europäische Meinung zu bilden, ob es dem Zusammenwachsen der vitalen Interessen im wirt-schaftlichen und monetären, aber auch im außenpolitischen Bereich, schrittweise Schlußfolgerungen im sicherheitspolitischen Bereich folgen lassen will. Das bisherige Verhalten von GB und F, insbesondere im Zusammenhang mit den Null-Lösungen und der Modernisierungsfrage, läßt erkennen, daß beide Staaten sich dieser Fragestellung entziehen wollen. Den Einstieg könnte die gegenwärtige Diskussion über das Gesamtkonzept bilden. In seinem Rahmen könnte eine europäische Meinungsbildung, d.h. im wesentlichen eine Meinungsbildung zwischen F, GB, D und I, zunächst dar-über beginnen, welche strategische Funktion die amerikanischen Nuklearsy-steme in und in dem für Europa nach der INF-Implementierung sich verän-dernden Umfeld der Jahre 1995ff. haben sollen. In diesem Zusammenhang er-21 Auf seiner Tagung am 26./27. Oktober 1987 in Den Haag verabschiedete der WEU-Ministerrat die Erklärung „Plattform der Europäischen Sicherheitsinteressen“. Für den Wortlaut vgl. EUROPA-ARCHIV1987, D613–616.
10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 146 805gibt sich dannzwangsläufigdieFragenachderRollebritischerundfranzösischerSysteme. Sie braucht also nicht demonstrativ in den Vordergrund gestellt zu werden, weil sonst die Diskussion sofort zu Ende ist. f) Für diese Diskussion ist die Beantwortung folgender Grundsatzfrage durch uns wichtig: Erfordert die kriegsverhütende Abschreckung auch dann noch Nuklear-waffen, wenn konventionelle Stabilität erzielt ist? Die Opposition sagt nein und wird auf dieser Linie die bevorstehende Diskussion bestreiten. Wenn die Antwort der Bundesregierung – was nach dem oben Gesagten klar sein müßte – positiv ausfällt, könnte der Versuch unternommen werden, das quanti-tative und qualitative Minimum für drei Szenarien zu bestimmen: – konventionelle Stabilität bei Fortsetzung des nuklearen Abrüstungsprozesses der USA und SU; – im wesentlichen unverändertes konventionelles Kräfteverhältnis, aber durch Abrüstung wie durch Modernisierung verändertes nukleares Kräfteverhältnis (s. oben); – ein Zustand zwischen diesen beiden Szenarien; d.h. sehr mühsames Voran-kommen bei den Verhandlungen über konventionelle Stabilität, Implemen-tierung von INF und START und Aussichten auf weitere Abrüstungsschritte im nuklearen Bereich. Dieses Szenario ist wahrscheinlich dasjenige, das für die operative Politik die größte Bedeutung haben wird. g) Nicht gefördert würden diese Überlegungen, wenn wir auf Grund der – seit Existenz der NATO-Strategie bekannten – Tatsache, daß mit ihrer Hilfe ent-gegengesetzte Interessen von Europäern und USA überbrückt werden, diese Strategie als unehrlich bezeichneten und in Frage stellten. Es erscheint nicht möglich, sie „ehrlicher“ zu machen22, ohne unsere Sicherheitsinteressen zu be-einträchtigen: Das oben für Europa beschriebene nukleare Dilemma gibt es – in anderer Form – auch im europäisch-amerikanischen Verhältnis. Vielmehr sollten wir als Europäer so lange an ihr festhalten, wie die USA dazu bereit sind. Letzte-resistnichtnur eine Frage der deklaratorischen amerikanischen Politik, sondern auch der praktischen Verfügbarkeit von einer die Strategie in den Augen des potentiellen Gegners plausibel erscheinen lassenden Mischung von militärischen Optionen. Dabei ist im Zeitalter nuklearer Parität nicht ausschlaggebend, ob die SU Gewißheit hat, daß die Strategie der NATO implementiert wird, sondern daß sie Zweifel hat, daß sie nicht implementiert wird. 4) Folgende Kriterien sollten aus deutscher Interessenlage Berücksichtigung finden: – Angesichts der gegebenen Kräfteverhältnisse und ihrer wahrscheinlichen Entwicklung werden die Europäer auf voraussehbare Zeit auf die USA an-gewiesen sein, um die Macht der SU auszubalancieren. – Die militärische Präsenz der USA in Europa ist für die Glaubwürdigkeit des Sicherheitsverbundes Europa–USA unverzichtbar. Unabhängig von sonstigen Überlegungen müssen die USA über das Minimum an nuklearen Mitteln für 22 Die Wörter „sie ‚ehrlicher‘ zu machen“ wurden von Bundesminister Genscher unterschlängelt.
146 10. Mai 1988: Aufzeichnung von Richthofen 806ihre in Europa stationierten konventionellen Kräfte verfügen können, das sie selbst für unverzichtbar halten.23 (Die amerikanische nukleare Präsenz in Westeuropa hat eine weitere, in deut-schem Interesse liegende Funktion: Sie relativiert den Statusunterschied zwischen den nuklearen und nichtnuklearen europäischen Partnern – bisher jedenfalls – so weit, daß er sich nicht störend auf den Fortgang der europäi-schen Integration ausgewirkt hat. „Im Windschatten“ dieser US-Präsenz müs-sen noch in anderen Fragen erhebliche weitere Integrationsfortschritte erzielt werden, bevor im Verteidigungsbereich in Westeuropa wirkliche qualitative Fortschritte möglich werden.) – Das für notwendig gehaltene Nuklearpotential muß so strukturiert sein, daß auchunsere vitalen Interessen respektiert werden. Das bedeutet insbesondere: – Die politische Funktion nuklearer Waffen (Kriegsverhinderung) muß deut-lich werden; sie sind kein Ausgleich für mangelnde konventionelle Stärke. Hieraus ergibt sich gleichzeitig die Notwendigkeit konsequenter Anstren-gungen um konventionelle Stabilität durch Rüstungskontrolle sowie kon-ventionelle Verteidigungsanstrengungen, solange Stabilität nicht erzielt ist. Auf die von F und GB so häufig zitierte schiefe Ebene der Denuklearisie-rung begibt sich bereits, wer keine angemessenen Anstrengungen in diesen beiden Bereichen unternimmt. – Ein Teil des Risikos, das mit der Bereitstellung von Nuklearmitteln für und in Europa verbunden ist, muß von den Europäern im Interesse der Glaub-würdigkeit der Strategie und im Interesse ihrer Akzeptanz in den USA mitgetragen werden; d.h., eine allein auf strategische Systeme abgestützte US-Abschreckung, die auf in Europa stationierte Systeme verzichtet, hat in sowjetischen Augen geringe Glaubwürdigkeit und aus amerikanischer Sicht keine ausreichende öffentliche Unterstützung. (Anmerkung: In bezug auf strategische Systeme von F und GB stellt sich diese Frage – angesichts der geographischenLage–völliganders.HiergibteskeinProblemder extended deterrence in dem Sinn, wie es zwischen Europa und USA existiert.) – Wir müssen nolens volens akzeptieren, daß eine zwar durch das nukleare Risiko, nicht aber durch die Geographie mit uns sicherheitspolitisch un-trennbar verbundene Macht wie die USA das Risiko zu kontrollieren ver-sucht, mit dem eigenen Territorium in Haft genommen zu werden. Der Hinweis deutscher Kritiker darauf, daß wir bereits konventionell mit unse-rem Territorium ausreichendes Risiko tragen, hilft demgegenüber nicht weiter. – Im Rahmen dieser Parameter müssen wir darauf bestehen, daß die mit den GPG eingeleitete Umstellung des NATO-Potentials auf möglichst lange Reichweiten entschlossen fortgesetzt wird. Dies können wir stark beeinflus-sen, wenn wir unsere Präferenzen deutlich machen. Ein Offenhalten aller Optionen ist daher auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen. Wenn wir beispielsweise für die Entwicklung eines weitreichenden (in der HLG wird über400kmgesprochen)Abstandsflugkörpers eintreten (ein solches 23 Der Passus „die USA über ... unverzichtbar halten“ wurden von Bundesminister Genscher hervor-gehoben. Dazu vermerkte er handschriftlich: „Wofür unverzichtbar?“