Gesundheits- und Medizinsoziologie – für wen? Zur Funktion von Büchern als Kommunikationsmedien
Rezensierte Publikationen:
Gina Atzeni, Professionelles Erwartungsmanagement. Zur soziologischen Bedeutung der Sozialfigur Arzt. Baden-Baden: Nomos Verlag 2016, 330 S., br., 59,00 €
Stefan Bär, Soziologie und Gesundheitsförderung. Einführung für Studium und Praxis. Weinheim/Basel: Beltz Juventa Verlag 2016, 148 S., br., 16,95 €
Johann Behrens / Markus Zimmermann (unter Mitarbeit von Anne Dreyer-Tümmel; Gero Langer; Andreas Weber), Sozial ungleich behandelt? A. Sens und P. Bourdieus Theorien und die soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen – am Fallbeispiel präventiver Rehabilitation. Bern: Hogrefe, 2017, 278 S., kt., 39,95 €
Ingo Bode / Werner Vogd (Hrsg.), Mutationen des Krankenhauses. Soziologische Diagnosen in organisations- und gesellschaftstheoretischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2016, 312 S., kt., 54,99 €
Thomas Hehlmann / Henning Schmidt-Semisch / Friedrich Schorb, Soziologie der Gesundheit. München: UVK Verlag 2018, 288 S., kt., 27,99 €
Matthias Richter / Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Soziologie von Gesundheit und Krankheit. Wiesbaden: Springer VS 2016, 458 S., kt., 39,99 €
Simone Suter, Im Namen der Gesundheit. Gesundheitsförderung an Schulen zwischen Disziplinierung und Ermächtigung. Eine soziologische Studie. Bielefeld: transcript 2017, 380 S., kt., 39,99 €
Werner Vogd / Martin Feißt / Kaspar Molzberger / Anne Ostermann / Juliane Slotta, Entscheidungsfindung im Krankenhausmanagement. Zwischen gesellschaftlichem Anspruch, ökonomischen Kalkülen und professionellen Rationalitäten. Wiesbaden: Springer VS 2018, 504 S., kt., 39,99 €
1. Einleitung
Die vorliegende Sammelbesprechung beschäftigt sich mit insgesamt acht aktuellen Buchpublikationen aus dem Bereich der Gesundheits- und Medizinsoziologie, Publikationszeitraum 2016–2018.
Für die Rezensenten war es – neben dem erheblichen Umfang der zu besprechenden Werke (insgesamt mehr als 2500 Seiten) – eine Herausforderung, eine inhaltliche Klammer zu finden. Gesundheits- und Medizinsoziologie ist ein großes, inhaltlich, theoretisch und methodisch diverses Feld, mit vielen Fragestellungen und (Sub-) Diskursen, an die angeschlossen werden kann. Inhaltlich lassen sich die hier besprochenen Bücher im Wesentlichen vier Strängen zuordnen:
Überblicksarbeiten, die versuchen, ein breites Spektrum von Themen abzudecken: Dieser Anspruch wird vor allem von drei Lehrbüchern erhoben.
Arbeiten mit einem Fokus auf Krankenbehandlung, insbesondere auf das moderne Krankenhaus bzw. auf die Rolle von Ärztinnen und Ärzten bzw. Management im Allgemeinen. Dazu gibt es einen Sammelband, einen Forschungsbericht zu einem großen empirischen Forschungsprojekt und eine als Monografie publizierte Dissertation.
Eine Arbeit fokussiert Gesundheitsförderung, ebenso wie eines der Lehrbücher.
Und die letzte hier besprochene Arbeit versucht, Berichte von mehreren Forschungsprojekten zur sozialen Ungleichheit in der Krankenbehandlung/Rehabilitation unter eine gemeinsame theoretische Klammer zu integrieren.
Vorweg sollen einige grundsätzliche Überlegungen zur Bedeutung des Mediums „Buch“ für die wissenschaftliche Kommunikation im Bereich der Gesundheits- und Medizinsoziologie angestellt werden.
Tendenzielle Marginalisierung von Buchpublikationen?
In den meisten wissenschaftlichen Disziplinen, auch in den Sozialwissenschaften, stellen Zeitschriftenartikel das zentrale Kommunikationsmedium für Konzepte, Theorien, vor allem aber auch für empirische Forschungsergebnisse dar.
Bei einem Blick auf Kommunikationsstrukturen in der Gesundheits- und Medizinsoziologie im deutschsprachigen Bereich fällt auf, dass es derzeit keine Zeitschriften gibt, die einen raschen Überblick über den aktuellen Stand der soziologischen Forschung zu Gesundheit, Krankheit, Medizin, Prävention und Gesundheitsförderung ermöglichen und damit eine ähnliche Position einnehmen wie sie etwa die englische Zeitschrift „Sociology of Health and Illness“ innehat.
Nach der Erfahrung der Rezensenten wird aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung zu Gesundheit und Krankheit derzeit primär in inter- bzw. multidisziplinären Zeitschriften publiziert, die auf bestimmte Felder oder Fragestellungen fokussieren und unter den „Umbrella-Begriff“ „Gesundheitswissenschaften“ oder „Public Health“ zusammengefasst werden können.
Mitverantwortlich für diese Entwicklung ist wohl – neben der deutlich besseren institutionellen Verankerung der Public Health z. B. an Medizinischen Universitäten bzw. Fakultäten – die große Bedeutung, die der Status dieses Publikationsorgans für die Wertigkeit von Publikationen in den letzten Jahrzehnten erhalten hat. Für akademische Karrieren, aber auch für die Akquise von Forschungsprojekten ist die Publikation in „reputierten“ Zeitschriften ganz zentral geworden. Diese Publikationspräferenzen dürften in der Gesundheits- und Medizinsoziologie durch die Nähe zur Medizin und den Naturwissenschaften im Rahmen der Gesundheitswissenschaften bzw. Public Health noch stärker ausgeprägt sein als in anderen soziologischen Sub-Disziplinen.
Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage, was in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion der Platz und die Funktion von Buch-Publikationen ist. Wir sehen für die Gesundheits- und Medizinsoziologie folgende sinnvolle Typen von Buch-Publikation:
Lehrbücher (für Soziolog*innen und Gesundheitswissenschaftler*innen, auf unterschiedlichen Niveaus).
Handbücher (die den weit verstreuten aktuellen Stand des Wissens versuchen zusammenzufassen und zu bewerten).
Herausgegebene systematische und qualitätsgesicherte Sammelbände zu spezifischen aktuellen, relevanten Themen.
Exzellente Monografien zu spezifischen relevanten Themen, erstellt auf Basis von z. B. Dissertations- oder Habilitationsprojekten.
Publizierte Berichte über größere/anspruchsvollere empirische Forschungsprojekte, in denen der Kontext, die Vorgangsweise und die Ergebnisse in einer ausführlicheren Weise dargestellt werden können, als dies im Rahmen von Zeitschriftenartikeln möglich ist.
Ein Überblick über die acht besprochenen Arbeiten nach Publikationstypen
Analysiert man das durch die Redaktion der „Soziologischen Revue“ für diese Sammelrezension vorgelegte Sample von acht Büchern unter dieser Perspektive, ergibt sich folgendes Bild:
Zunächst zeigt sich, dass Lehrbücher tatsächlich einen wesentlichen Anteil ausmachen (drei von acht).
Ein Handbuch war keines dabei; als Beispiel für eine solche Publikation kann auf ein anspruchsvolles Werk als Online-Publikation verwiesen werden, mit schon vielen publizierten Kapiteln, das derzeit aber immer noch „Work in Progress“ ist; vgl. Jungbauer-Gans/Kriwy, 2017.
Ein herausgegebener Sammelband (zur Soziologie des Krankenhauses) befindet sich in diesem Sample.
Auch zwei klassische Monografien sind enthalten – dabei handelt es sich um überarbeitete Dissertationen.
In den zwei restlichen Fällen handelt es sich im Wesentlichen um Forschungsberichte aus großen empirischen Forschungsprojekten.
Bearbeitete Themenbereiche
Die in diese Besprechung inkludierten Werke beziehen sehr viele der prinzipiell von der Gesundheits- und Medizinsoziologie beforschten Bereiche mit ein. Vor allem zwei der drei besprochenen Lehrbücher versuchen, die drei Hauptforschungsbereiche der Gesundheits- und Medizinsoziologie zumindest exemplarisch abzubilden, d. h. gesellschaftliche Produktion von Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit, Soziologie der Krankenbehandlung und Soziologie der Gesundheit und Gesundheitsförderung
In der Folge werden wir zu allen vier im Sample vertretenen Publikationstypen jeweils eine kurze Einleitung vorstellen, mit einer Bemerkung, wie der Text in der Publikationslandschaft anschließt. Dann werden die einzelnen Werke kurz charakterisiert.
2. Lehrbücher
Lehrbücher bzw. Einführungsbücher in die Gesundheits- und Medizinsoziologie sind in den letzten 20 Jahren unter unterschiedlichen Titeln publiziert worden. Sehr verbreitet war in Deutschland die traditionelle Bezeichnung als „Medizinsoziologie“ oder „Medizinische Soziologie“.
Aus der Perspektive eines Lehrenden, der regelmäßig Einführungs- bzw. Überblicks-Lehrveranstaltungen im Bereich Gesundheits- und Medizinsoziologie durchführt, war es auffällig, dass in den letzten 20 Jahren im deutschsprachigen Raum keine multiperspektivischen Lehrbücher erschienen sind – anders als z. B. das englische Standardwerk „Sociology as Applied to Medicine“, herausgegeben von Graham Scambler und in nunmehr sieben gründlich aktualisierten sowie überarbeiteten Editionen erschienen (zuletzt 2018).
Mit den Arbeiten von Siegrist (zuletzt 2005), Borgetto/Kälble (2007), Stollberg (2001) und Hurrelmanns Gesundheitssoziologie (2010) in mehreren Auflagen gab es zwar einige Lehrbücher von Einzelautoren, die aber angesichts der Komplexität von Fragestellungen, Forschungen und Ergebnissen nur sehr selektiv vorgehen konnten.
Eine der Schwierigkeit von Lehrbüchern in diesem Bereich ist die erhebliche Heterogenität der Zielpublika. Gesundheits- und Medizinsoziologie wird – zumindest im deutschsprachigen Raum – eher selten im Rahmen von Soziologie-Studiengängen unterrichtet, deutlich häufiger aber im Rahmen der Ausbildung von Gesundheitsberufen (insbesondere Medizin, Pflege) bzw. von Public Health Studiengängen.
Einbezogen wurden drei Lehrbücher mit ähnlichen Zielgruppen, aber unterschiedlichen strategischen Orientierungen und unterschiedlichen methodischen Konzepten.
Gemeinsam ist allen drei Büchern, dass sie primär Studierende der Gesundheitswissenschaften adressieren – also nicht primär Soziolog*innen, und auch nicht vorwiegend Medizinstudent*innen. Das hat sicher wesentlich damit zu tun, dass die Akademisierung von Gesundheitsberufen in den letzten zwei Jahrzehnten endlich auch im deutschsprachigen Raum Fortschritte gemacht hat und im Rahmen vieler dieser Studiengänge sich auch die Sozialwissenschaften etablieren konnten. Das betrifft die Gesundheits- und Krankenpflege, aber auch andere Berufe. In Österreich werden viele „gehobene“ Gesundheitsberufe schon seit einigen Jahren nur mehr als Bachelor-Studien angeboten (primär an Fachhochschulen), und auch eine Reihe von Master-Programmen hat sich in diesem Bereich entwickelt (an FHs, aber auch an Universitäten).
Damit haben sich auch die Arbeitsfelder für Gesundheits- und Medizinsoziolog*innen ausgeweitet und der Bedarf nach Unterrichtsmaterialien, aber auch beruflicher Weiter- und Fortbildung für Soziolog*innen hat zugenommen. Vor diesem Hintergrund ist die gehäufte Publikation von Lehrbüchern in den letzten Jahren sicher sinnvoll.
Soziologie von Gesundheit und Krankheit
Unter diesem Titel haben Matthias Richter und Klaus Hurrelmann, zwei etablierte Experten der deutschen Gesundheits- und Medizinsoziologie, einen umfangreichen Sammelband herausgegeben. Auf 460 Seiten sind insgesamt 29 Beiträge in vier Abschnitten versammelt, orientiert an der Systematik von Germov (2014; ein australischer Soziologe):
Theorien, Methoden und Geschichte der Soziologie von Gesundheit und Krankheit.
Die soziale Produktion von Gesundheit und Krankheit.
Die soziale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit.
Die soziale Organisation der gesundheitlichen Versorgung: Politik, Professionen und Strategien.
Die Beiträge stammen primär von ausgewiesenen Größen der deutschsprachigen Gesundheitswissenschaften/Public Health – mehrheitlich erfahrene, aber auch einige jüngere Autor*innen; vorwiegend Soziolog*innen, aber auch andere Professionen. Vertreten sind vor allem Mitarbeiter*innen eines breiten Spektrums deutscher Hochschulen, aber auch zwei Österreicher*innen und zwei Angehörige Schweizer Einrichtungen.
Es handelt sich um ein Werk, das einerseits soziologische Perspektiven auch für Nicht-Soziolog*innen verständlich machen und anderseits gesundheitswissenschaftliches Wissen für Soziolog*innen zusammenfassen will.
Zu den Stärken des Werkes gehört sicher die Qualität der Autor*innen, die den Stand der Forschung in ihrem Bereich sehr gut kennen bzw. auch selbst wichtige Beiträge geleistet haben. Eine weitere Stärke ist der systematische Aufbau. Thematisch bestehen keine wesentlichen Lücken; die Texte weisen alle eine gute Verankerung nicht nur in der deutschsprachigen, sondern auch der internationalen, d. h. im Wesentlichen englischsprachigen Literatur auf – und zwar primär in den sozialwissenschaftlichen Gesundheitswissenschaften, weniger intensiv dagegen in der allgemeinen Soziologie.
Der systematische Aufbau und das recht hohe Niveau stellt aber auch ein Problem dar: Als Basislehrbuch ist das Werk doch sehr umfangreich und jedenfalls für Newcomer*innen unübersichtlich. Vom Aufbau, der Schreibweise und Zitationspraxis her entsteht der Eindruck, es liege ein Hybrid zwischen einem Lehrbuch und einem Handbuch vor.
Von Lehrenden, die mit dem Buch arbeiten wollen, werden damit doch erhebliche Orientierungs- und Selektionsleistungen verlangt. Die für das umfangreiche Buch sehr knappe Einführung der Herausgeber hilft zwar, geht aber auf die Komplexität der Fragestellungen und Perspektiven, die im Band versammelt sind, doch nur sehr minimalistisch ein. Von der Funktion her stellt das Werk wahrscheinlich primär eine Unterstützung für Lehrende dar, die aktuelle soziologische Perspektiven auf ein breites Spektrum gesundheitswissenschaftlicher Themen entlang des Standes der Forschung einbringen wollen und die im Text auch Vorschläge für lehrtaugliche Argumentationslinien bekommen.
Soziologie und Gesundheitsförderung. Einführung für Studium und Praxis
Sehr deutlich unterscheidet sich dieses, von Stefan Bär publizierte Werk von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen Buch. Es handelt sich um einen recht knapp gehaltenen Text eines Einzelautors (Mitarbeiter der Universität Heidelberg) im Umfang von 150 Seiten. Wie schon der Titel sagt, wird ein klarer Fokus auf einen spezifischen Bereich, nämlich „Gesundheitsförderung“ gerichtet. Aber der Text behandelt dann – notwendigerweise – eine Reihe von breiteren gesundheits- bzw. medizinsoziologischen Fragestellungen:
Gesundheit und Gesellschaft.
Individuen, ihre Gesundheit und Lebensführung.
Gesundheit, Umwelt und Kontexte.
Gesundheit und Krankheit.
Gesundheitsförderung aus soziologischer Perspektive.
Eine der expliziten Stärken des Werkes ist eine gut nachvollziehbare, klare Erzählperspektive. Aber auch soziologisch-theoretisch ist der Text durchaus anspruchsvoll, aber dennoch auch für Nicht-Expert*innen verständlich geschrieben. Aus der Perspektive der Rezensenten ist das ein durchaus geglücktes Beispiel dafür, verständlich darzustellen, was man mit einer soziologisch-systemtheoretischen Perspektive sieht. Das Buch scheint gut brauchbar und sehr hilfreich auch als Unterstützung des Unterrichts – zumindest, wenn eine ähnliche theoretische Orientierung vorliegt. Der Text ist auch (mit etwas orientierender Unterstützung von Lehrenden) für Studierende geeignet, die an die Gesundheitsförderung mit einer professionell-praktischen oder auch gesundheitspolitischen Perspektive herangehen.
Zu den Problemen des Werkes zählt seine wenig explizite Strukturierung. Man sieht sich langen Textabschnitten ohne Zwischenüberschriften gegenüber; das Buch enthält auch keinen Index. Insgesamt sind die Erwartungen an die Disziplin der Leser*innen ziemlich hoch. Es entsteht der Eindruck, es handele sich um ein sprachlich redigiertes, aber sonst nicht nachstrukturiertes Vorlesungs-Transskript, dem eine strukturierende bzw. orientierende Überarbeitung sicher nützen würde, um seine Tauglichkeit als Basislehrbuch in einer Lehrveranstaltung noch zu steigern. Auch als Text für Praktiker*innen ist es in der derzeitigen, wenig strukturierten Form nur bedingt geeignet.
Für Lehrende, die mit ähnlichen, aber doch nicht deckungsgleichen Perspektiven unterrichten, besteht damit ein nicht unerheblicher Aufwand dabei, die entsprechenden Verweise zu finden und so aufzubereiten, dass die Studierenden mit dem Text gut begleitend arbeiten können.
Soziologie der Gesundheit
Unter diesem Titel haben Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb (Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen) ein 288 Seiten langes, umfangreiches, aber doch noch überblickbares Werk verfasst. Die einzelnen Kapitel wurden definitionsgemäß „in gemeinsamer Verantwortung“ geschrieben, Unterschiede im Duktus lassen jedoch unterschiedliche Autorenschaften vermuten.
Vom Anspruch her versuchen die Autoren eine klare Positionierung. Das Lehrbuch will eine „Soziologie der Gesundheit“ sein bzw. eigentlich eine „Soziologie der Gesundheitswissenschaften/Public Health“. Damit soll ein reflexiver, kritischer Beitrag zum Selbstverständnis der Gesundheitswissenschaften bzw. Gesundheitsberufe geleistet werden. Unmittelbar gemeint ist wohl auch das Selbstverständnis der Studierenden, die lernen sollen, dass viele der Annahmen der Public Health (und nicht nur der klinischen Medizin!) hinterfragt werden sollten.
Der Band gliedert sich in zehn Kapitel:
Der soziologische Blick auf Gesundheit.
Gesundheit wird zur Wissenschaft.
Ungleiche Gesundheit.
Normativität und Gesundheit.
Medikalisierung und „Healthismus“.
Soziologie gesundheitlicher Risiken und Probleme.
Biomacht, Gouvernementalität, Neoliberalismus.
Gesundheit und Krankheit als Diskurs.
Körper- und geschlechtersoziologische Perspektiven auf Gesundheit.
Resümee: Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ruhig auch mal die Soziologie.
Zu den Stärken des Bandes zählt sicher zunächst seine klare Strukturierung. Viele Themen werden dabei recht dicht und gut nachvollziehbar dargestellt. Das macht den Band übersichtlich und als Lehrbuch attraktiv.
Eine zweite Stärke ist sicher die klare soziologische Distanz zu den doch angewandten Gesundheitswissenschaften. Und auch die Herstellung von Querbezügen zu Bereichen, die bisher in der deutschsprachigen Gesundheits- und Medizinsoziologie wenig einbezogen wurden, ist eine positiv hervorzuhebende Leistung. Die Auseinandersetzung mit der Normativität von Gesundheitskommunikation, mit Diskursanalyse und Gouvernementalität, mit Perspektiven der Körpersoziologie im Rahmen der Soziologie der Gesundheit ist verdienstvoll.
Das Konzept einer klaren Distanzierung von den Grundannahmen der Public Health erzeugt aber auch Probleme. Es scheint den Rezensenten doch etwas fragwürdig, ob das Reflexionsangebot an die Studierenden (oder Praktiker*innen) der Gesundheitswissenschaften so in dieser Form leicht annehmbar ist. Im Wesentlichen wird – stark vereinfacht gesagt – argumentiert, dass alles, was in unserer Gesellschaft zu Gesundheit/Krankheit gedacht und getan wird, Ergebnis von gesellschaftlichen Prozessen ist – soziale Tatsachen, die aber alle kontingent sind – so oder anders sein können –, zumindest in einer anderen Gesellschaft.
Damit das aber verständlich wird, bedarf es einer Reihe von Vorannahmen, die in diesem Lehrbuch weder klar expliziert noch systematisch entwickelt werden.
Als Fazit ist festzuhalten: Was Gesundheitsberufe bzw. Gesundheitswissenschaftler von dieser Distanz haben, ist etwas unklar. Sie setzen sich in Ausbildung und Beruf ja mit häufig zeitkritischen biologischen, psychologischen und sozialen Prozessen mit teilweise schwerwiegenden Folgen auseinander, und Erwartungen werden an sie häufig mit Klarheit, Dringlichkeit und Härte gestellt. Fraglich ist, was ihnen angesichts dieser Erwartungen das hier kommunizierte Bild von gesellschaftlicher Konstruktion nützt. Es bedarf jedenfalls erheblicher Vermittlungsleistungen von Lehrenden, die mit diesem Buch im Bereich der Public Health bzw. Gesundheitsberufe arbeiten wollen. Im Rahmen der universitären Soziologie kann man dagegen erwarten, dass Lehrende und Studierende eher bereit sind, sich auf diese Perspektiven einzulassen – das entspricht mehr dem Selbstverständnis der Soziologie.
3. Sammelbände zu spezifischen Fragestellungen
Eine klassische Strategie, mit der Komplexität von Fragestellungen, der Knappheit an Forschungsressourcen, der Vielfalt von theoretischen und methodischen Perspektiven und dem Fehlen von zentralen Journals in der Gesundheits- und Medizinsoziologie umzugehen, ist die Herausgabe von themenzentrierten Sammelbänden. In diesen wird versucht, den Stand der Forschung zu bestimmten Fragestellungen in seiner Vielfalt sichtbar zu machen und – meist in Einleitungen und Schlusskapiteln – doch eine zusammenfassende Perspektive auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Mutationen des Krankenhauses
Im Sample der Sammelrezension befindet sich ein Band zur Soziologie des Krankenhauses, der versucht, einen Einblick in den Stand soziologischer Forschung zum Krankenhaus als einen besonders relevanten und interessanten Bereich der Krankenversorgung und zu einer der interessantesten Organisationsformen der modernen Gesellschaft zu vermitteln.
Ingo Bode, Professor für Sozialpolitik an der Universität Kassel und Werner Vogd, Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke, haben unter dem Titel „Mutationen des Krankenhauses. Soziologische Diagnosen in organisations- und gesellschaftstheoretischer Perspektive“ auf 312 Seiten elf Beiträge versammelt und mit einer Einleitung und zwei Abschlusskapiteln gerahmt. Bei Werner Vogd ist die Beschäftigung mit dem Krankenhaus Teil eines 20-jährigen Forschungsinteresses, das die Aufmerksamkeit der Rezensenten mit der Publikation zu „Moderne(n) Mythen der Medizin. Studien zur organisierten Krankenbehandlung“ schon 2008 erregt hat. Dieser Band, den Vogd gemeinsam mit Irmhild Saake im Kontext des Münchner Soziologie-Instituts (A. Nassehi) herausgegeben hat, versprach einiges. Zu erwarten war die Entwicklung gesundheits- und medizinsoziologischer Perspektiven, die sich nicht auf vergleichsweise Randthemen des Systems der Krankenbehandlung bzw. auf Nebenschauplätze, wie die noch nicht von der Medizin vereinnahmten neuen Ansätze wie „Gesundheitsförderung“ beschränken. Erwartbar war ein Beitrag zu einem besseren Verständnis zentraler Aspekte des Kerns der Krankenbehandlung. In seinem Buch „Zur Soziologie der organisierten Krankenbehandlung“ hatte Vogd 2011 Mut zu komplexeren soziologischen Beschreibungen des Krankenhauses eingefordert – die Rezensenten waren gespannt, wie diese Programmatik vom Autor einige Jahre später weiterverfolgt wurde.
In ihrer Einleitung beschreiben die Herausgeber Krankenhäuser als Organisationen unter Stress, die sich an dynamische Umwelten anzupassen versuchen, d. h. die sich verändern. Der theoretische Rahmen ist – wie der Untertitel anzeigt – orientiert an organisations- und gesellschaftstheoretischen Perspektiven und nicht primär an medizinsoziologischen Traditionen. Das ist angesichts der in den letzten Jahrzehnten in diesem Kontext primär angewandten Perspektiven in der Medizinsoziologie (Versorgungsforschung, Qualitätsforschung, Evaluationen) wohl auch ganz sinnvoll.
In der Einleitung wird die aktuelle Situation der (deutschen) Krankenhäuser als Geschichte von Institutionen beschrieben, die zusätzlich zu ihren anspruchsvollen Aufgaben mit der Einführung des DRG-Systems einem großen Sozialexperiment ausgesetzt werden, das bei vielen Betroffenen Unruhe und zusätzlichen Stress erzeugt. Das DRG-System ist ein Krankenhausabrechnungssystem, das auf Fallpauschalen beruht, die nach Gruppen von Diagnosen – Diagnosis Related Groups – zusammengefasst wurden. Diese Problemsicht wirkt eher „intern“, sehr nahe an den Sichtweisen jedenfalls der medizinischen Profession (bzw. generell der der Gesundheitsberufe). Viele Angehörige der Gesundheitsberufe fühlen sich durch das von der Politik forcierte Management primär irritiert. Etwas in den Hintergrund tritt in dieser Einleitung die gesellschaftstheoretische Rahmung im Sinne eines Bezugs auf die Analyse der Auswirkungen der Dynamik funktionaler Differenzierung und die Rolle von Organisationen in diesem Kontext. Dass das Sozialexperiment DRG vielleicht auch eine Reaktion auf eine Eigenentwicklung des Systems ist – auf Kostenentwicklungen und die dahinterstehenden technischen Entwicklungen, auf das Durchschlagen von Profitinteressen der Pharma- und MedTech Industrie –, wird jedenfalls in der Einleitung nicht klar thematisiert. Die Beiträge der verschiedenen Autor*innen werden in vier Blöcke eingeteilt:
Teil 1: Veränderte gesellschaftliche Umwelten des Krankenhauses: Ökonomie, Politik und Diskurs;
Teil 2: Lösungsansätze: Ausdifferenzierung, Entkopplung, Informalität;
Teil 3: Professionelle Identitäten und Kulturen: Aushöhlung, Re-Konsolidierung, Neuerfindung;
Teil 4: Mutationen des Krankenhauses: mögliche Lesarten und ihre Konsequenzen.
Sehr hilfreich für eine rasche Orientierung über zentrale Thesen bzw. Ergebnisse sind zusammenfassende Abschlussartikel der beiden Herausgeber.
Der Artikel von Ingo Bode mit dem Titel „Stress durch rekursive Ambivalenz – Wie und warum das Krankenhauswesen mutiert“ thematisiert die – jedenfalls in der internen Wahrnehmung im Gesundheitssystem viel diskutierte – Beschreibung einer seit den 90er Jahren verschärften „Ökonomisierung“ der (öffentlichen) Krankenhäuser und kommt zum Schluss, dass es wenig Hinweise für eine erfolgreiche „Machtübernahme der Ökonomie“ bzw. der diese Perspektive primär vertretenden Manager im Krankenhaus gibt. Allerdings erzeugt der von der Politik forcierte verstärkte Einsatz betriebswirtschaftlicher Perspektiven erheblichen Dauerstress vor allem in den öffentlichen Krankenhäusern. Nach Bode produziert das einen Zustand „rekursiver Ambivalenz“. Klare Entscheidungen für ein Primat eines bestimmten Gesichtspunktes sind nicht in Sicht.
Der Artikel von Werner Vogd mit dem Titel „Das Missverstehen des Ökonomischen. Oder vom Sündenfall falsch verstandener Rationalitäten im Krankenhaus“ versucht, Trivialisierungen der Diskussion über die Rolle der ökonomischen Perspektive für Krankenhäuser in einer systematischen und ansprechenden Weise zu dekonstruieren.
Insgesamt handelt es sich um einen ambitionierten und aus Sicht der Rezensenten geglückten Versuch, eine massive Lücke der Medizinsoziologie zu bearbeiten, nämlich ein einigermaßen komplexitätsadäquates soziologisches Verständnis des modernen Krankenhauses zu entwickeln. Zwei weiter unten besprochene Werke (die Monografie von Atzeni und der Projektbericht von Vogd et al.) liefern weitere, vertiefende Einblicke in diese Forschungsperspektiven.
4. Monografien
Auch in den Sozialwissenschaften wird anspruchsvolle Forschung primär ein teamförmig organisiertes Unternehmen. In der Gesundheits- und Medizinsoziologie bedeutet das häufig interdisziplinäre oder auch transdisziplinäre Teamarbeit. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum klassische Monografien nicht (mehr) die Standard-Publikationsform anspruchsvoller Forschung in diesem Bereich sind. Dieser Trend wird ein Stück durch das Beharren von manchen (vielen?) Universitäten bzw. Instituten auf der klassischen Form von akademischen Qualifikationsarbeiten (vor allem Dissertationen oder Habilitationen) gebremst. Damit entstehen in mehrjährigen Arbeitsprozessen immer noch umfangreiche, durchaus anspruchsvolle, aber durch die begrenzten Arbeitskapazitäten von Personen häufig auch limitierte Monografien. Solche Monografien können eine sehr gute Qualität erreichen – auch auf Grund des hohen Drucks zu Geschlossenheit und Konsistenz. Für die Sammelbesprechung lagen zwei Bücher vor, die im Rahmen von Dissertationsprojekten entwickelt wurden. In der Darstellung beginnen wir mit einer knappen inhaltlichen Zusammenfassung der Arbeit von Gina Atzeni, einer Autorin aus dem Kontext der Münchner Soziologie, die auch eines der Kapitel im oben besprochenen Sammelband von Bode und Vogd verfasst hat und schließen daran eine kurze Darstellung des Beitrages aus dem Kontext der Forschung zu Settings-orientierter Gesundheitsförderung von Simone Suter an.
Professionelles Erwartungsmanagement. Zur soziologischen Bedeutung der Sozialfigur Arzt
In der von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit dem Dissertationspreis 2016 ausgezeichneten Dissertation „Professionelles Erwartungsmanagement“ setzt sich Gina Atzeni mit dem „eigentümlichen Faszinosum“ Arzt auseinander. Sie zeigt, wie sich die „moderne Sozialfigur“ des Arztes im engen Austausch mit gesellschaftlichen Strukturen konstituiert und wandelt. Angeschlossen wird an den aktuellen systemtheoretischen Diskurs zu Professionalität, ergänzt durch das Konzept von Pfadenhauer zu Professionalität als Kompetenzdarstellungskompetenz. Aus einer Materialauswahl ärztlicher Selbst- und soziologischer Fremdbeschreibung entwickelt Atzeni einen Begriff ärztlicher Professionalität. Sie beginnt mit Beobachtungen vom Übergang des 19. ins 20. Jahrhundert, den sie als Beginn der modernen Medizin kennzeichnet und zeichnet die Entwicklung bis in die heutige Zeit nach. Die zentralen Erzählmotive ärztlicher Professionalität sind laut Atzeni vorerst gekennzeichnet durch Wissen, Autonomie, Altruismus und auch Mystifikation. Erst später scheinen Patient*innen eine Rolle zu spielen. Es findet also eine (Motiv-)Verschiebung statt, die zu einer Weiterentwicklung der soziologischen Arzterzählung führt. Für die Ärzt*innen selbst ist diese Veränderung geprägt von Verwirrung, Reflexion und Neujustierung. Über die sozialen Erwartungen ändert sich das Selbstbild der Ärzt*innen, auch orientiert an der Professionskritik. Die Gegenüberstellung der soziologischen und ärztlichen Professionsnarration macht das professionelle Erwartungsmanagement sichtbar, welches Atzeni als „sozialen Mechanismus der Medizin“ (281) und als „funktionale Voraussetzung für die moderne Medizin“ beschreibt. Ziel ist es weniger, die Figur des Arztes an sich greifbar zu machen, vielmehr soll Professionalität an einem Exempel sichtbar und diskutabel gemacht werden.
Im Namen der Gesundheit
In der Gesundheitsförderungsforschung, einem anderen etablierten Forschungsfeld der Gesundheits- und Medizinsoziologie, ist die zweite hier besprochene Monografie situiert. Als studierte Erziehungswissenschaftlerin widmete sich Simone Suter im Zuge eines Forschungsprojektes der pädagogischen Hochschule Bern der Auseinandersetzung mit Gesundheitsförderung an Schulen. Die soziologische Studie „Im Namen der Gesundheit“ aus diesem Projekt wurde 2016 als soziologische Dissertation an der Universität Siegen angenommen. Die Arbeit will Fragestellungen nach der Umsetzung des staatlichen Gesundheitsförderungsauftrags vor dem Hintergrund unterschiedlicher aktueller gesellschaftlicher und politischer Diskurse über Gesundheitsförderung kritisch reflektieren, also einen Beitrag zur „Soziologie der Gesundheitsförderung“ leisten. Mit einer bildungssoziologischen Perspektive auf „Gesundheitsförderung an Schulen zwischen Disziplinierung und Ermächtigung“ soll erarbeitet werden, welchen Einfluss diese Institution auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit hat. Es geht der Autorin nicht nur um die Frage der Wirksamkeit des Lehrpersonals als ausführende Akteur*innen der Gesundheitsförderungsprogramme, sondern vor allem auch um die „normativen Setzungen, die im Hintergrund wirksam sind“ (13).
Anhand von Literaturanalysen und Expert*innen-Interviews wird der Themenkomplex erarbeitet und aus einer wissenssoziologischen Grundorientierung (Soeffner/Oevermann) werden vier unterschiedliche Deutungstypen des Gesundheitsförderungsauftrags gebildet.
(1) Arbeitspsychologsicher Deutungstypus: Gesundheitsförderung wird primär als Instrument zur Steigerung des Lernerfolgs verstanden; der Fokus liegt dabei auf Bewegung.
(2) Paternalistisch-kompensatorischer Deutungstypus: Gesundheitsförderung wird als Mittel gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen verstanden.
(3) Emanzipatorischer Deutungstypus: Im Zentrum steht Empowerment/Ermächtigung als Ziel von Gesundheitsförderung.
(4) Strukturell-politischer Deutungstypus: Gesundheitsförderung wird als Legitimation für angestrebten gesellschaftlichen Wandel und schulpolitische Veränderung verstanden.
Kritisch kommentiert wird ein eher diffuses Gesundheitskonzept der Gesundheitsförderung, das zu unterschiedlichen Perspektiven auf die Ergebnisse führt, an die, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gesundheits- und Professionsverständnisse, auch sehr divers angeschlossenen werden kann.
Insgesamt zieht sich eine recht kritische Grundhaltung der Autorin zur Gesundheitsförderung durch, aus der Perspektive der Rezensenten doch stark normativ gefärbt, ähnlich wie im Lehrbuch von Hehlmann et al. Diese verstärkte Orientierung auch an den Widersprüchen der Gesundheitsförderung und der (New) Public Health ist offenbar im letzten Jahrzehnt ebenfalls in der deutschsprachigen Gesundheitssoziologie angekommen – ein eigener Beitrag von einem der beiden Rezensenten hat ja Fragen in eine ähnliche Richtung gestellt (Handbuchartikel zu soziologischen Perspektiven auf die Gesundheitsförderung: Krajic et al., 2017).
5. Publizierte Forschungsberichte
Wir haben in der Einleitung schon darauf verwiesen, dass die in der Gesundheits- und Medizinsoziologie gegenwärtig dominante Publikationsform – der Zeitschriftenartikel – gerade bei großen, komplexen Forschungsprojekten viel Hintergrund, aber auch viele prinzipiell interessante Ergebnisse als graue Literatur im Schatten lässt. Unter den Bedingungen der leichten technischen Herstellbarkeit von Projekt-Websites, auf denen mit wenig Zusatzaufwand alle Berichte und Materialien zur Verfügung gestellt werden können, ist das zwar kein Problem für die Nachvollziehbarkeit der Forschung mehr (zumindest im jeweiligen Sprachbereich), aber die Beschränkung der Darstellung von oft jahrelangen Anstrengungen kleinerer und größerer Projektteams auf einige PDF-Files mit wenigen MB ist doch desillusionierend. Wenn den Rezensenten die (selbst-)ironische Bemerkung erlaubt wird: Die haptische Qualität von Büchern, insbesondere auch dicken Büchern, ist nicht leicht zu ersetzen und das symbolische Gewicht von Publikationen, die von reputierten Verlagen akzeptiert und für zumindest minimal marktfähig gehalten werden, ist immer noch deutlich größer als ein elektronischer Bericht im Eigenverlag.
Auch erzwingt eine Buchpublikation, das empirische Projekt und seine Ergebnisse expliziter im Kontext von wissenschaftlichen Diskursen zu verorten.
Entscheidungsfindung im Krankenhausmanagement
Werner Vogd, Martin Feißt, Kaspar Molzberger, Anne Ostermann und Juliane Slotta haben 2018 – zwei Jahre nach dem Erscheinen des oben besprochenen Sammelbandes „Mutationen des Krankenhauses“ – einen umfangreichen Band zu Ergebnissen eines großen DFG-Forschungsprojektes veröffentlicht. Unter dem Titel „Entscheidungsfindung im Krankenhausmanagement. Zwischen gesellschaftlichem Anspruch, ökonomischen Kalkülen und professionellen Rationalitäten“ ist ein 500 Seiten umfassendes Werk publiziert worden, das neben dem Bericht des DFG Forschungsprojektes auch Teile von akademischen Abschlussarbeiten von zwei Koautor*innen enthält. Das Forschungsprojekt wurde 2013–2016 durchgeführt und stellt eine qualitative Studie über Management in fünfzehn deutschen Krankenhäusern dar.
Insgesamt wirkt der Text anspruchsvoll, differenziert und auch explizit theoretisch orientiert. Selbst bei rascher Lektüre gewinnt man den Eindruck, dass hier durchaus auf der Höhe einer empirischen, theoretisch informierten und interessierten Organisationssoziologie gearbeitet wurde.
Angesichts des Umfangs und der Komplexität der Arbeit dürfte die Publikation wohl primär vor allem für Forscher*innen, die in diesem Bereich – oder einem ähnlichen – forschen wollen, relevant sein. Vom Umfang und der grafischen Lesbarkeit (eher kleine Schrift, dichte Seiten) und von den Voraussetzungen in Bezug auf Vorverständnisse ist das Werk für ein breiteres Publikum eher abschreckend. Eine weitere Funktion ist natürlich auch die Rolle als Backup für andere, kürzere, stärker publikumsorientierte Publikationen (Artikel). Mit dieser Publikation im Hintergrund ist Vieles, was man als Artikel publizieren kann, prinzipiell entlastet.
Sozial ungleich behandelt?
Johann Behrens war bis zu seiner Emeritierung 2014 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Professor für Pflege- und Gesundheitswissenschaft tätig. Markus Zimmermann ist Professor für pflegerische Versorgungsforschung und Gründungsdekan an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Unter dem Titel „Sozial ungleich behandelt? A. Sens und P. Bourdieus Theorien und die soziale Ungleichheit im Gesundheitswesen – am Fallbeispiel präventiver Rehabilitation“ haben die beiden ausgewiesenen Experten zu Pflege und Rehabilitation einen umfangreichen Band von Forschungsergebnissen publiziert. Drei weitere Wissenschaftler*innen (Anne Dreyer-Tümmel, Gero Langer und Andreas Weber) werden als „mitarbeitend“ geführt.
Der Text richtet sich nach Wahrnehmung der Rezensenten an eine Community rund um die Gesundheits- und Medizinsoziologie, die ihr Schwerpunktinteresse auf das Phänomen der sozialen Ungleichheit legt. Zumindest theoretisch könnte der Inhalt auch Personen im Management medizinischer Rehabilitation ansprechen oder Professionelle, die in diesen Organisationen oder mit diesen Organisationen arbeiten.
Grundlegend geht es um die Frage, ob der freie, einkommens-unabhängige Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems, hier der medizinischen Rehabilitation, verhindern kann, dass es zu sozialen Ungleichheiten in der Behandlung kommt. Im günstigen Fall könnte ein solches System gesundheitliche Ungleichheiten, die in anderen Lebenswelten entstehen (z. B. in der Arbeitswelt), sogar kompensieren. Ausgehend von den Ansprüchen der Institutionen und insbesondere auch der professionellen Ärzteschaft, dass individueller Behandlungsbedarf zähle und nicht Kaufkraft, wird am Beispiel einer der ressourcenintensivsten präventiven Interventionsmaßnahmen (Rehabilitation) geprüft, ob die Finanzierungsgarantie auch gleiche Behandlung sichert. Unter dem Titel „Reha vor Rente“ wird am Beispiel des „Zugang[s] zu Reha-Maßnahmen, die präventiv einer Frühberentung aus gesundheitlichen Gründen vorbeugen sollen, [...] bevor sie eine für den Erkrankten leidvolle und für die Versichertengemeinschaft kostspielige Frühberentung erzwingen“ (18), die Auswirkung des Systems auf soziale Ungleichheit von Gesundheit untersucht.
Theoretische Ansätze nach Sen und Bourdieu sollen die Grundlage für diese Verlaufsstudie bilden. Es werden prospektive Verläufe aus Versichertendaten mit retrospektiven Befragungen derselben Versichertengruppen von Frühberenteten mit und ohne Reha verknüpft. Die Befragungen zielten auf die Meinungen, Wahrnehmungen, Motive und Gründe der Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an jeweiligen Programmen ab. Etwa die Hälfte der Früh-Berenteten hatte keine Reha in den fünf Jahren vor der Frühberentung. Zentraler Bestandteil der Ergebnisse sind drei Erklärungshypothesen für die „Penetranz sozialer Ungleichheit trotz sozialstaatlicher kaufkraftunabhängiger Finanzierung“ (206). (1) Dass die sozial ungleiche Gesundheit auf unterschiedliche finanzielle Zugänglichkeit von Versorgungsdiensten zurückgehe, wird als falsifiziert angenommen. (2) Die Finanzierung der Dienste für alle schaffte allein noch keine Zugänglichkeit für alle. (3) Die Finanzierung des Zugangs ist aber nicht automatisch gesichert, sondern wird oft verweigert – durch ärztliche „gatekeeper“ und ihre „Bedarfsgutachten“ – und diese Verweigerung erfolge sozial ungleich.
In einem Fazit fassen die Autoren zusammen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die selbstbestimmte Teilhabe an Programmen zwar etabliert sei, die praktische Umsetzung jedoch dahinter zurückbleibe. Mit den theoretischen Konzepten von Bourdieu und Sen kann die Problematik teilweise sichtbar gemacht werden, ist aber an anderer Stelle fehlleitend. Zentral erweist sich das an Bourdieu anschlussfähige Konzept des Empowerments, durch welches die Macht der Rehabilitanden im Feld sichtbar wird und ihr Einfluss auf die Teilhabe in den Fokus rückt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Finanzierung der Leistung nicht ausreicht, kulturelles Kapital zu kompensieren, sondern Unterstützung im Aufbau „interner Evidenz“ notwendig ist.
Das vorliegende Werk ist insgesamt interessant: in hohem Maße kenntnisreich über das Feld und auch in seinem Ansatz, nicht einfach Daten zu präsentieren und nach oft nicht klargelegten Annahmen im Hintergrund zu interpretieren, sondern systematisch in Bezug zu häufig verwendeten Theorien der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit zu setzen, verdienstvoll.
Die Grundhaltung der Autoren wirkt auf die Rezensenten als charakterisiert durch eine große Lust an der Ent-Mystifikation. Annahmen des Feldes „präventive Rehabilitation“ über sich selbst werden launig dekonstruiert, ebenso auch mechanistische Annahmen der kritischen Soziologie.
Allerdings ist es nicht ganz leicht für die Leser*innen, an die klugen Überlegungen bzw. Argumente zu gelangen – viel Interessantes versteckt sich im abschließenden Kapitel, und es ist auch dort nicht unbedingt nach den Standards der Mainstream-Wissenschaft geschrieben, sondern orientiert sich nur partiell am Kriterium der leichten Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit. Ganz kann man den Verlag hier nicht aus der Verantwortung für sein Lektorat bzw. für die Auseinandersetzung mit den Autoren entlassen.
Mit der von den Autoren gewählten Form schränkt sich das Publikum dann doch relativ stark ein, primär auf Soziolog*innen mit viel einschlägigen Vorkenntnissen. Angesichts der prinzipiell sehr wohl gegebenen Praxis- und Politikrelevanz der Ergebnisse ist das bedauerlich – aber vielleicht haben die Autoren für diese Publika auch andere Publikationsformen geplant bzw. benutzt.
6. Gesamtfazit
Insgesamt verweisen die hier besprochenen acht Werke auf eine lebendige, vielfältige und auch anspruchsvolle Forschungsszene in der Gesundheits- und Medizinsoziologie. Der in internen Diskussionen gelegentlich geäußerte Generalverdacht der empiristischen, fragmentierten und primär anwendungsorientierten Perspektive wird nicht bestätigt. Von der Passung der Form der Buchpublikation mit möglichen kommunikativen Funktionen überzeugen allerdings nicht alle besprochenen Werke gleichermaßen.
Das ist sicher zum Teil ein Problem von nicht klaren Publikationsstrategien der Autor*innen, muss aber auch den Verlagen zugerechnet werden. Insbesondere die Lektorate sind hier – als Unterstützung der Autor*innen – gefordert.
Literatur
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© 2020 Karl Krajic und Charlotte Dötig, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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- Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit in differenzierten Ordnungen. Zur Wechselwirkung zweier Strukturprinzipien. Tübingen: Mohr Siebeck 2019, 275 S., br., 49,00 €
- Bernd Baldus, Origins of Inequality in Human Societies. New York/London: Routledge 2017, 250 S., gb., 136,45 € (kt. 50,49 €)
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- Gerhard Schulze, Soziologie als Handwerk. Eine Gebrauchsanleitung. Frankfurt a. M./New York: Campus 2019, 381 S., kt., 29,95 €
- Elmer Luchterhand, Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager. Hrsg. Andreas Kranebitter und Christian Fleck. Wien: New Academic Press 2018, 285 S., kt., 24,90 €
- Leila Akremi / Nina Baur / Hubert Knoblauch / Boris Traue (Hrsg.), Handbuch Interpretativ forschen. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2018, 962 S., gb., 49,95 €
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