Zwischen Elitenkooptation und Staatsausbau. Der polnische Adel und die Widersprüche russischer Integrationspolitik in den Westgouvernements des Zarenreiches (1772-1850)
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Jörg Ganzenmüller
Zusammenfassung
Die zarische Integrationspolitik in den Westgouvernements krankte in erster Linie an ihren inneren Widersprüchen. Eine Elitenkooptation, wie sie in der Tradition des russischen Vielvölkerreiches stand, war mit einem Ausbau der Staatsgewalt nicht vereinbar. Während es ein unverzichtbarer Bestandteil der Kooptationspolitik war, daß sich das Zentrum möglichst wenig in die Verhältnisse vor Ort einmischte, verfolgte eine Politik des Staatsausbaus umgekehrt das Ziel, den Zugriff des Zentrums auf die Provinz möglichst zu erhöhen. Dieser Widerspruch ließ sich jedoch nicht auflösen.
Da das Zarenreich an einem Mangel an ausgebildeten Beamten litt, konnte es den annektierten polnischen Provinzen keine eigene Bürokratie überstülpen. Die Herrschaftssicherung basierte zwangsläufig auf einer Kooperation mit dem lokalen Adel. Andererseits war der Staatsausbau ein europäisches Phänomen jener Zeit. Wollte das Zarenreich seinen eben erst gewonnenen Großmachtstatus behalten, konnte es sich dieser Entwicklung nicht entziehen.
Die widersprüchlichen Ziele der zarischen Regierung führten zu einer widersprüchlichen Politik. Dies hatte unmittelbare Folgen für deren Wahrnehmung durch die polnischen Adligen. Eine Politik, die Rechte und Freiheiten versprach, diese Zusagen in der Praxis jedoch sogleich wieder einschränkte oder aushöhlte, war in polnischer Perspektive eine wortbrüchige und letztlich unehrliche Politik. Hier setzte eine Entfremdung ein, welche die Integration des polnischen Adels unterlief.
Der Novemberaufstand erwies sich sowohl in der Adelspolitik als auch in der lokalen Selbstverwaltung als entscheidender Einschnitt. Unter Nikolaus I. setzte sich eine normative Integrationspolitik gegen eine pragmatische durch. Politische Partizipation und ein Aushandeln von Interessen galten nach 1830 nicht mehr als Strategien, die den polnischen Adel in das Zarenreich einbanden, sondern als Schwäche der zentralen Staatsgewalt. An deren Stelle trat die Überzeugung, daß die Szlachta nur dann erfolgreich in die zarische Gesellschaft integriert werden könne, wenn sie deren Normen- und Wertesystem übernehme.
Die Konfrontation von zarischer Staatsgewalt und polnischem Adel war in ihrer Grundkonstellation der Konflikt einer ausgreifenden Staatsgewalt und eines auf seinen ständischen Rechten beharrenden Adels. Diese Frontstellung wiederum ist kein Spezifikum der Geschichte des Zarenreiches, sondern findet sich im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in beinahe ganz Europa. Die Besonderheit im Russischen Reich besteht vielmehr darin, daß der Konflikt national aufgeladen werden konnte und dies nach dem Novemberaufstand auch zunehmend wurde, da hier eine russische Staatsgewalt auf einen polnischen Adel traf.
Abstract
The integration of partitioned Poland in the Russian Empire was full of contradictions. The cooptation of foreign elite in the Russian nobility had a long tradition in the history of the Russian frontier, but it was inconsistent with the expansion of the bureaucratic apparatus of the tsarist state. On the one hand a main part of cooptation policy was to keep the central government away from local policy, on the other hand the tsarist government tried to establish the state authority on the local level of the empire in order to increase central control.
This contradiction couldn′t be resolved: At that time all European powers tried to expand state authority. If the tsarist empire didn′t want to lose its recent status as a great power, it couldn′t oppose this historical development. However, the tsarist Empire lacked educated civil servants and wasn′t able to establish a state bureaucracy in the Polish province, so Russian rule had to be based on cooperation with the local nobility.
The inconsistent political aims of the tsarist government resulted in inconsistent political measures which in turn had an effect on the Polish perception of the tsarist Empire. Although the Russian government promised traditional rights and freedom, it in fact limited Polish rights and privileges. Therefore the Polish nobility of the western borderlands considered Russian policy as false and dishonest. This was the beginning of an alienation which undermined the integration of the Polish nobility into the Russian Empire.
The November uprising of 1830 was a decisive point in Russian policy. For Nicholas I integration meant no longer cooptation of Polish nobility but acculturation. After 1830 political participation and a certain sensibility for local political interests wasn′t seen as a means of integration but as a sign of a weak tsarist government. Nicholas and the tsarist elite were convinced that an integration of Polish nobility in the tsarist society was only possible, when the Szlachta adopted Russian norms and values.
The confrontation of the Tsarist Empire and Polish nobility was in fact a conflict between expanding state authority and nobility which wanted to secure its traditional rights and privileges. This confrontation is not specific to the history of the tsarist Empire. It is rather a conflict which can be found all over Europe in the late 18th and beginning 19th century. The peculiarity of our example is that it could be seen as a national issue. And this is what happened after the November uprising, because a Russian state authority clashed with Polish nobility.
© by Oldenbourg Wissenschaftsverlag, Jena, Germany
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