Rezensierte Publikation:
Kersten Sven Roth & Steffen Pappert (Hg.). 2024. Ost-West-Konflikte. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Diskurs über Deutschland und die Welt (Sprache – Politik – Gesellschaft 33). Hamburg: Buske. 294 S.
Kersten Sven Roth verdanken wir einen – den geänderten Verhältnissen entsprechend – umfassenderen und wesentlich differenzierteren Blick auf das Thema DDR-Deutsch vs. BRD-Deutsch, als es in der Forschung vor der politischen Wende und kurz nach ihr in Ost wie in West üblich war. Damals konzentrierte man sich vor allem auf die
„Untersuchung der unterschiedlichen Tendenzen der deutschen Sprache in Ost und West [...] unter den Etiketten ‚DDR-Deutsch‘ vs. ‚BRD-Deutsch‘ [...] Die Perspektive dabei war stets eine varietätenlinguistische und stand im Zeichen der Sorge, es könnten sich zwei mehr oder minder eigenständige Varianten des Deutschen herausbilden und letztlich zu Beeinträchtigungen der Kommunikationsfähigkeit zwischen Ost und West führen.“[1]
Diese Sorge hat sich als unberechtigt erwiesen. Die vermuteten Unterschiede beschränkten sich nahezu ausschließlich, so Roth, auf den politisch-ideologischen und den institutionellen Wortgebrauch, sodass es weniger Verstehensschwierigkeiten als vermutet gab.[2] Zudem lösten sich diese in der kommunikativen Praxis des Alltags schneller auf als erwartet. Schon in dieser Forschungsphase hat Roth wegweisend gewirkt, indem er die teilweise zu schlichten Vergleichsversuche in Frage stellte und darauf hinwies, dass die bisherigen Untersuchungen von einer Voraussetzung ausgingen, die irreführend wirken konnte. Gemeint ist, dass die Glieder der Dichotomie ‚Ost‘ – ‚West‘ verschieden gewertet wurden (und noch werden), sodass auf West und Ost unter verschiedenen Voraussetzungen geschaut wird: auf ‚westdeutsch‘ als ‚Normalfall‘, auf ‚ostdeutsch‘ als ‚abweichend vom Normalfall‘ – gemessen immer am Westdeutschen. Diese bis dahin unhinterfragte Perspektivierung bewusst gemacht und methodologisch in Frage gestellt zu haben war eine verdienstvolle Wortmeldung Roths. Sie zielte bereits darauf, das zu beenden, was er „die Mauer in den Köpfen“ nennt. Für die Konferenz von 2023, die der vorliegende Sammelband dokumentiert, erweiterten die Veranstalter die Perspektive, indem sie ein diskurslinguistisches Vorgehen vorschlugen, d. h. der Untersuchungsgegenstand wurde auf den gesamten Bereich von Sprache und Kommunikation ausgeweitet. Damit musste zwar der varietätenlinguistische Forschungsansatz als überholt gelten, nicht aber die Betrachtung des Themas ‚Sprache und Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen‘ an sich. Vielmehr wurden Gegenstände, Perspektiven und Herangehensweisen erweitert, wobei der theoretisch-methodologische Schwerpunkt diskurslinguistischer Natur ist und Wert auf ein interdisziplinäres und internationales Herangehen[3] gelegt wird. Die schon 2006 geäußerten Forderungen, die nur zögernd aufgegriffen wurden, haben die Veranstalter der Konferenz und Herausgeber des Bandes zu Leitlinien ihres Vorgehens gemacht.
So liegt nach dem langen Zeitraum, in dem die diskurslinguistische Auseinandersetzung mit dem Thema zu wenig im Blick war, erfreulicherweise 2024 ein Sammelband vor, der das Angestrebte mit Bezug auf die aktuelle Situation konsequent umsetzt. Darauf werde ich nun mit Blick auf die 15 Beiträge des Bandes eingehen. Die Sammlung setzt das Anliegen bereits in deren Auswahl und Anordnung um. Sie startet mit interdisziplinären, d. h. auch auf die Ergebnisse anderer Sozialwissenschaften bezogenen Beiträgen, und fährt fort mit Aufsätzen, die den innerdeutschen Blickwinkel um die internationale Perspektive erweitern und die Vielfalt diskurslinguistischer Zugänge zeigen.
Der den Band einleitende Aufsatz von Kersten Sven Roth zum Thema „Ost-West: Warum, wie und worüber wir noch immer reden“ bietet einen wegweisenden Start in eine neue, der aktuellen Situation entsprechende und konsequent theoriefundierte Beschäftigung mit dem Thema. Die programmatisch angeführten sechs „Thesen“ (eher Bestandsaufnahmen?), die darauf zielen, die Problematik des Ost-West-Diskurses deutlich zu machen und dessen Relevanz für die heutige gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik zu zeigen, sind von Bedeutung für eine „systematische sprachwissenschaftliche Forschung zum Ost-West-Diskurs im geeinten Deutschland“ (S. 5). Es folgen – stark verknappt – Roths Bestandsaufnahmen:
1. Die vorfindliche Variante des „Schlussstrich-Topos“ als „Tabuisierungsstrategie“ drückt irreführend aus, dass sich das Problem erledigt habe. (S. 7)
2. Die Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger, die sie nach der Herstellung der deutschen Einheit gemacht haben, werden nicht bedacht. Die sozialen Prägungen der Bundesbürger „bleiben unbesprechbar“. (S. 8f.)
3. Der Ost-West-Diskurs ist nur scheinbar binär: „Nur eines der beiden Konzepte [ist] semantisch gefüllt“ (S. 9); der „Westen als Kontrastfolie eines ‚Normal Null‘“. (S. 9)
4. Es herrscht Anpassungszwang an Muster der „diskursiven Diskriminierung“. (S. 13)
5. Das Ost-West-Muster dient als Mittel zur „Reduktion von Komplexität beim Zugriff auf die Wirklichkeit“. (S. 13)
6. Die ‚Ost-West-Perspektive’ ist Mittel der Selbstvergewisserung und Entlastung.
Indem Roth zeigt, was in der Forschung bisher falsch gesehen bzw. vernachlässigt worden ist, entwirft er ein diskurslinguistisch orientiertes Programm und schlägt vor, dass man künftig angemessener, das heißt vor allem: strikt theoretisch fundiert, interdisziplinär und international vorgehen sollte. Der Band zeigt die Bedeutsamkeit von Interdisziplinarität auch schon, indem er die soziologischen Beiträge an den Anfang stellt.
Der Gewinn interdisziplinären Vorgehens wird deutlich im Beitrag von Susanne Pickel und Gert Pickel zu politischen Kulturen in Ost- und Westdeutschland. Sie fragen, „wie und warum sich die politischen Kulturen und die dafür zentralen politischen Einstellungen zwischen West- und Ostdeutschland 33 Jahre nach dem Umbruch [unterscheiden]“ (S. 21). Als stärkste Faktoren sehen sie das „Gefühl kollektiver Benachteiligung und fehlender Anerkennung sowie die Ausbildung einer eigenen Identität, ‚die Ostdeutschen’ (S. 21). Die eigene wirtschaftliche Situation dagegen gelte als fast belanglos. Grundlage dieser Feststellungen ist die Auswertung „statistisch signifikante[r] und stabile[r] Einstellungsunterschiede“ (S. 44), die durch die Auswertung von „Wahlergebnissen und öffentlichen Debatten“ (S. 21), durch „repräsentative Umfragen zu Überzeugungen der Bürger:innen“ (23) u. a. gewonnen werden und daher als gesichert gelten können.
Thomas Ahbe antwortet auf die – auch den vorhergehenden Beitrag mitbestimmende – Frage, warum sich das Bild vom Osten bisher kaum gewandelt hat, indem er den Ansatz der Untersuchung von identitätsstiftenden Narrativen (bzw. „historischen Meistererzählungen“) soziologisch nutzt – mit Rückblick auf anfänglich zwei deutsche Nachkriegsnarrative (Deutung des NS und Distanz zum NS) und stellt diesen drei aktuell dominierende gegenüber: das antitotalitaristische Narrativ, das Narrativ von der zweiten deutschen Diktatur und das Narrativ von der zweiten Gründung der Bundesrepublik. Diese prägen, so Ahbe, die „mediale Darstellung der Ostdeutschen“ (S. 51) und stehen unter dem Einfluss „alt-bundesdeutscher Identitätserzählungen“ (S. 51). Hier erweisen sich Narrative als ein für diskurslinguistisches Arbeiten sehr geeignetes Analyseobjekt.
Detlef Pollack befasst sich mit dem Widerspruch zwischen dem medialen Bild der unzufriedenen Ostdeutschen und deren Zufriedenheitsbekundungen in statistisch ausgewerteten repräsentativen Umfragen. Er stellt diese Bekundungen dem „Empörungsdiskurs der Ostdeutschen“ (S. 73) gegenüber, wie ihn u. a. Dirk Oschmanns Buch „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“ (2023) ausgelöst hat. Als Resultat kritischer Lektüre dieses Buches konstatiert Pollack: 1. den Differenzierungsunwillen Oschmanns, 2. dessen vereinfachenden Blick auf den Westen als kritikwürdigen Täter, 3. die Beschreibung des Westens mit „nivellierender Aufrechnungslogik“ (S. 78) und 4. die Betrachtung der Ostdeutschen als Opfer (S. 79). Letzteres ist aus meiner Sicht eine besonders problematische der an sich kritikwürdigen Einordnungen Oschmanns. Pollack liefert die hier dringend nötige Zurückweisung. Die Opfer-Kategorisierung hieße ja, die Ostdeutschen aus aller Verantwortung für Vergangenheit und Gegenwart zu nehmen. Das wäre in jeder Hinsicht bedenklich.
Zum interdisziplinären Vorgehen gehört Gerd Antos’ Auseinandersetzung mit dem vor psychologisch-kognitionswissenschaftlichem Hintergrund zu erklärenden – kommunikativen – Phänomen der „Illusionen Ost-West“. Dies hat sich in „unterschiedlichen Selbstermächtigungs-Diskursen mit ihren eigenen identitätsstiftenden Funktionen“ (S. 141) herausgebildet. Es trägt die Gefahr der Fehlinterpretation in sich und kann „sprach- und politikwissenschaftlich relevant“ (S. 145), also zum Politikum, werden (S. 142). Trotz zunehmender Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West verstärken sich die Gefühle in „wechselseitiger Entfremdung und Desillusionierung“ (S. 141). Sowohl Ingroup-Illusionen als auch wechselseitig kritisierte Illusionszuschreibungen bringen das zum Ausdruck. So erliegt man Selbsttäuschungen, medial erzeugten irreführenden Vorstellungen, die sich als trügerisch erweisen können (S. 152).
Der Text von Charlotta Seiler Brylla steht am Anfang der sprachbezogenen, d. h. linguistischen und literaturlinguistischen Beiträge, die nun in ihrer Vielfalt knapp charakterisiert werden sollen. Auch Seiler Brylla wendet sich Oschmanns Buch zu – nun aus linguistischer Perspektive. Sie behandelt es als diskursprägenden Einzeltext und führt aus, dass der „asymmetrische Gebrauch von ostdeutsch* und (west)deutsch* seine Wurzeln bereits im geteilten Deutschland hat“ (S. 87, S. 98–100). Das ist ein wichtiger, längst fälliger Hinweis, der den Horizont der Debatte um den Blick auf die Vergangenheit erweitert. Resümierend stellt sie fest, dass Oschmanns „stereotype Konzeptualisierungen des Ostens und der Ostdeutschen zur Herausbildung einer gesamtdeutschen Identität wenig beigetragen“ haben (S. 87). Mit diesem Aufsatz, der eine Reihe linguistischer Beiträge einleitet, wird nun die Bedeutung der Linguistik deutlich. Vor dem Hintergrund soziologischer Beiträge wird klar, wie erhellend es sein kann, an interdisziplinäre Probleme, die sich sowohl diskurstheoretisch als auch soziologisch stellen, mit diskurslinguistischen (diskurssemantisch, textsortenlinguistisch – ‚Pamphlet’, ‚Wutschrift’ – stilistisch-rhetorisch angelegten) Analysen heranzugehen.
Anne-Laure Daux-Combaudon untersucht in einer diskurslinguistischen Untersuchung Benennungen für ‚Ostdeutsche’ und ‚Ost-West-Teilung’, indem sie analysiert, wie diese im aktuellen Deutschland, 33 Jahre nach der „Auflösung der DDR“ (S. 107), „diskursiv konstruiert werden“ (S. 109). Sie blickt dazu auf den „medialen Diskurs über Russland-Bewertungen in Ostdeutschland im Kontext des Krieges in der Ukraine“ (ebd.) und zeigt methodisch überzeugend und gut nachvollziehbar, wie und mit welchen v. a. lexikalischen Mitteln (Nomina/Komposita, Metaphern, Topoi) Einstellungen zum Ukraine-Krieg und damit deren Träger (teils diskriminierend) bewertet werden. Im Zentrum der Analysen stehen drei Gegenstände: die Benennung der Deutschen im Osten, die Benennung ihres Andersseins und die Benennung ihrer Einstellungen (S. 109).
Nadia Centorbi geht literaturlinguistisch vor. Sie wendet sich der Metaebene zu, d. h. hier den sprachkritischen Überlegungen des Schriftstellers Ingo Schulze zur „diskursiven Praxis der Ost-Westkonfrontation“ (S. 123) am Fall des Gebrauchs von Fahnen- und Stigmawörtern, und zeigt, worauf sich Schulzes oft geäußertes Vorhaben einer Sprachkritik richtet: auf „sprachliche Falschetikettierungen“ (S. 126), zu denen er sich – vom Gefühl geleitet – kritisch äußert, wobei er, wie man den Zitaten und Beschreibungen entnehmen kann, die Vielfalt von Bedeutungen und die aktuellen und historischen Kontexte zu wenig im Blick zu haben scheint.
Maximilian Krug untersucht die sprachliche Konstruktion von Ost-Zugehörigkeit, indem er mithilfe von Mixed-Methods die Verwendung der Benennung DDR als gruppenkategorisierenden Ausdruck (in medialen Telegram- und Leserbrieftexten) analysiert. In einer qualitativen Analyse (MCA) wird DDR als Teilnehmenden-Kategorie – d. h. als von den Äußerungen Teilnehmender selbst abgeleitet – soziologisch aufschlussreich betrachtet. Die quantitative Analyse, die die Gruppenkategorien DDR-Zeiten, DDR-Bürger, Unrechtsstaat untersucht, geht bei der Verwendung von DDR in den untersuchten Datensätzen statistisch vor. Aufschlussreiches Fazit: „Die Kategorie DDR kann [...] als politisches System, als Lebensort oder als Bedingungsrahmen [...] unterschiedliche Funktionen für eine Identitätskonstruktion übernehmen“ (S. 168).
Michael Drommler nutzt einen diskurssemantischen Ansatz, um in einer korpusgestützten qualitativen Frame-Analyse (S. 171) zu ermitteln, „wo im gesellschaftlichen Wissen Verbindungen liegen zwischen ‚Ostdeutschland‘ und ‚nationaler Identität‘“ (S. 171). Er liefert Beiträge zu einem Wissensrahmen ‚Ostdeutschland‘, der „die Suchlexeme ‚Ostdeutschland‘, ‚Osten‘, ‚ostdeutsch‘, ‚Neue Bundesländer‘ und ‚DDR‘“ umfasst. Seine Studie „zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität im deutschen Mediendiskurs“ (S. 171) ist diskurssemantisch angelegt, knüpft rückblickend an Humboldt, de Saussure und Wittgenstein an und führt mithilfe einer korpusgestützten qualitativen Frame-Analyse zu sehr differenzierten Ergebnissen von hoher Präzision und Aussagekraft (s. Frame-Grafiken im Anhang, S. 191–196).
Bettina Bock geht der Frage, was alles mit dem Lokaladverb drüben im Ost-West-Diskurs gemeint sein kann, mit lokaldeiktischen Überlegungen nach. Ein konstruktiver Ansatz, der den in der Ost-West-Forschung vor allem untersuchten Bereich der Benennungen (s. auch diesen Band) um die Betrachtung von Funktionswörtern ergänzt, deren Aussagewert oft unterschätzt wird. Hier geht es um Adverbien, die einen gemeinsamen Ortsbezug voraussetzen und gegebenenfalls – je nach Kontextfaktoren – auch politische Orientierungen ausdrücken können. In den untersuchten Texten (Bundestagsprotokolle und Zeitungstexte) kommt neben der semantischen Leistung der Verdeutlichung der Beziehungen zwischen den Inhaltswörtern noch etwas inhaltlich Wichtiges in den Blick: eine mögliche politische (Ost-West-)Konnotation,
Josef Klein fügt den in diesem Band bisher betrachteten sprachlichen Phänomenen (Lexik im weitesten Sinne) einen weiteren linguistisch unbedingt zu beachtenden Gegenstand hinzu – den Text. Als Textsorte wählt er die aktuell besonders relevante ‚Kriegsrede‘. Er betrachtet systemische Eigenschaften dieser Textsorte nach deren Typologie – v. a. nach dem Beteiligtenstatus als oberstem Kriterium – und unterscheidet ‚Angreiferrede‘, ‚Rede des Angegriffenen‘ und ‚Kriegsrede Dritter‘: Er fordert, die Letzteren gleichermaßen zu beachten – und zwar mit den anderen Kriegsredetypen. Zwei Kriegsreden Dritter (BK Scholz, 2.3.2023, MP Sachsens Kretschmer 5.1.2023) werden gezielt betrachtet, Scholz’ Rede auf ihre Topoi hin, Kretschmers Rede unter dem Ost-West-Aspekt. Als zentrales Argument führt Kretschmer die höhere Kompetenz der Ostdeutschen, Russland betreffend, an – eine „explizite Umkehr des Klischees vom ‚Besser-Wessi‘ als Autoritätstopos“ (S. 215).
Janett Haid betrachtet sechs Reden der Gattung „Rede[n] zu einem internationalen Feiertag“ (S. 234), die Erich Honecker in den 1970er/80er Jahren zum Internationalen Frauentag gehalten hat. Sie zeigt Diskursmuster auf und prüft, wie Gruppenkonstruktionen (WIR, FREUND, FEIND) sowie Hierarchisierungen (Wert- und Unwertwörter) ausgedrückt werden. Als dominantes Muster stellt sie sprachliches Abgrenzen des Guten vom Schlechten heraus: Freund – Feind. Haids methodologisches Vorgehen ist vielfältig, so setzt sie MAXQDA ein – geeignet für Inhaltsanalysen, Muster-Erfassen und Erschließen intertextueller Zusammenhänge, tabellarische Ordnungen und damit Verdeutlichung des antagonistischen Verhältnisses in Paradigmen, Gegenüberstellung von Hoch- und Unwertwörtern, aussagekräftige Textstellenanalysen. Theoretisch wie methodologisch ist dies eine beeindruckende Studie.
Aneta Bučková führt wieder auf die Metaebene, indem sie den Gebrauch der Ausdrücke der Osten und der Westen in narrativen sprachbiographischen Interviews mit zwei Gruppen deutsch-tschechischer Bilingualer vorstellt. Die Interpretation stützt sich auf die Konzepte Sprachregime (Coulmas), Sprachideologie (Errington u. a.) und Sprachmanagement (Nekvapil u. a.). Die Interviewpartner (geb. um 1955 in der damaligen Tschechoslowakei) kamen 1960 als Spätaussiedler (mit deutschsprachigem Hintergrund) oder als politische/ökonomische Migranten (ohne diesen Hintergrund) in die Bundesrepublik und berichten über die monolingualen Sprachregime in beiden Ländern: v. a. die Bevorzugung der offiziellen Sprache und Anpassung.
Dorothee Meer betrachtet die Folgen, die der Ukrainekrieg für den medialen Interdiskurs der Bundesrepublik zum Thema Energiepartnerschaften zwischen Wasserstoff und LNG hat. 550 Medienbeiträge aus dem Jahr 2022 wurden daraufhin untersucht, wie sich Konzepte diskursiv so verändert haben, dass Wasserstoff und Flüssiggas als miteinander verhandelbare Lösungen – Gleichzeitigkeit der Ressourcennutzung – für den Weg in eine klimaneutrale Zukunft nebeneinander erörtert werden konnten. Kategorie des Topos (Topoi der ‚Zeitenwende‘, der ‚Unabhängigkeit‘ und der ‚noch zu lösenden Probleme‘) und Konzepte des Narrativs (v. a. Narrativ der Diversifikation) werden in ihrer Verknüpfung miteinander betrachtet.
Abschließend bleibt die Aufgabe, in einem resümierenden Rückblick die Frage zu beantworten, ob der vorliegende Sammelband den im Vorwort und im ersten Beitrag beschriebenen künftig anzustrebenden Herangehensweisen selbst schon gerecht wird. Die Antwort ist eindeutig ein Ja. Die Herausgeber Steffen Pappert und Kersten Sven Roth heben die Bedeutung des diskurslinguistischen Vorgehens hervor und betonen in diesem Rahmen – die varietätenlinguistischen Fragestellungen entschieden überschreitend – die Notwendigkeit, den Bereich aller SPRACHLICHEN Phänomene in den Blick zu nehmen, sofern diese für die Beantwortung von aktuell diskutierten sprachlich-politischen Fragen von Gewinn sein können. Das wird in nicht wenigen Beiträgen umgesetzt. Fast überraschend war es, an den Themen und deren Ausführungen zu sehen, welch vielfältige diskurslinguistische Lösungsansätze für sprachlich-politische Probleme zur Verfügung stehen. Deutlich zeigt sich das auch in der Vielfalt der Methoden. Die Skala der linguistischen Themen reicht von Textsortenuntersuchungen über Framestudien, Kategorisierungsfragen und Phänomenen der Konstruktivität, von Inhaltswörtern über Funktionswörter und Terminologien bis hin zu Ausflügen auf die Metaebene (u. a. Arbeiten zu Dirk Oschmann, Ingo Schulze, Juli Zeh/Simon Urban).
Als großen Gewinn ist die Aufnahme sozialwissenschaftlicher Beiträge zu verbuchen. Es wird deutlich, dass man sich den in diesen Texten behandelten Problemen – allem voran der Suche nach der Klärung des Widerspruchs zwischen Empörungsdiskurs und positiven Umfrageergebnissen – auf verschiedene Weise nähern kann. Immer jedoch erweist sich ein gemeinsames soziologisch-linguistisches Herangehen als weiterführend. Der Bezug auf sozialwissenschaftliche Studien, so auf Umfragen, Statistiken, Wahlergebnisse, öffentliche Debatten gibt dem linguistischen Vorgehen Stabilität. Der Blick auf Internationales, dargestellt z. B. am Fall der Erfahrungen mit Bilingualität, zeigt, wie aufschlussreich diese Perspektive sein kann. Allerdings würde man sich solche Blicke über den Tellerrand in größerer Zahl wünschen. Dem könnte ein nächster Sammelband, der sehr zu begrüßen wäre, ja abhelfen.
© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.