Rezensierte Publikation:
Florian Busch & Christian Efing. 2024. Sprachliche Variation (Linguistik und Schule. Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis. LinguS 12). Tübingen: Narr Francke Attempto. 170 S.
Sprachliche Variation von Florian Busch und Christian Efing ist der zwölfte Band der Reihe „Linguistik und Schule. Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis“. Laut Verlagsangaben richtet sich die Reihe insbesondere an „(Lehramts-)Studierende, Referendare, Lehrerfortbildungen“ und will eine Brücke zwischen aktuellen fachwissenschaftlichen Inhalten und schulischer Praxis schlagen. Für den Bereich der sprachlichen Variation fehlte bislang ein solches fachwissenschaftlich-fachdidaktisches Einführungswerk, sodass die Publikation ein wichtiges Desiderat erfüllt.
Sprachliche Variation ist ein Thema, das – auch wenn es in den Bildungsstandards der KMK als Reflexionsgegenstand vorgesehen ist – im Unterrichtsalltag in der Regel kaum berücksichtigt wird. Statt einer differenzierten Reflexion sprachlicher Varianten, ihrer Bedingungen und sozialen Bewertungen ist der schulische Sprachunterricht meist durch normorientierte Dichotomien von „richtig“ und „falsch“ geprägt. Ziel der Autoren ist es daher, mit ihrer Einführung einen „Ansatz- und Reflexionspunkt“ zu schaffen, indem sie „die soziolinguistischen Beschreibungen und Erklärungen vielfältiger Phänomene an die didaktischen Ziele und praktischen Erfordernisse des schulischen Deutschunterrichts anbinden“ (S. 24).
Diesem Ziel gehen sie in insgesamt fünf Kapiteln nach. Die Einleitung (Kap. 1) führt in sprachliche Variabilität, zentrale soziolinguistische Begriffe und sprachdidaktische Perspektiven ein. In vier Hauptkapiteln werden ausgewählte Themen behandelt: Variation in der Schreibung (Kap. 2), grammatische Variation (Kap. 3), Ethnolekte (Kap. 4) und Sprachideologien (Kap. 5). In jedem Kapitel werden grundlegende Konzepte und Forschungsergebnisse vorgestellt; anschließend erfolgt ein expliziter Anwendungsbezug zur Schule. Wichtige Termini sind typographisch hervorgehoben; Schlüsselbegriffe werden definiert. Der Schulbezug wird unterschiedlich gestaltet – durch Reflexionen über das didaktische Potenzial der Themen oder Vorschläge zur Umsetzung. Dabei folgt jedes Kapitel einer eigenen Struktur. Ein einheitlicher Aufbau (z. B. Einführung, Grundkonzepte und Forschungsstand, Beispielanalyse, didaktisches Potenzial, Didaktisierungsvorschlag, Zusammenfassung) hätte für stärkere Orientierung und leichteren Zugriff gesorgt, was insbesondere von Lehrkräften geschätzt würde. Für die genannten Zielgruppen wären zudem Übersichten wie ein Glossar oder eine Sammlung thematisch passender, verfügbarer Unterrichtsmaterialien pro Kapitel hilfreich gewesen. Die Kapitel schließen jeweils mit Aufgaben, „um Gelesenes zu reflektieren oder weiterzudenken“ (S. 26). Manche Aufgabenstellungen sind jedoch recht weit gefasst und eignen sich eher für Seminardiskussionen als für das Selbststudium; die Lösungshinweise am Ende des Bandes bieten jedoch ausreichend Orientierung.
Mit einer dichten, aber konzisen Einleitung spannen Busch & Efing in Kapitel 1 das thematische Feld der sprachlichen Variation auf. Neben Grundbegriffen wie Variabilität, Variable oder Variante wird in zwei Unterkapiteln auf die Forschungstraditionen der strukturorientierten und der handlungsorientierten Soziolinguistik eingegangen – in Anlehnung an Differenzierungen, wie sie etwa auch Spitzmüller (2022) vornimmt. Die Unterkapitel stellen Schlagworte in dichter Folge zusammen und geben so einen ersten Überblick, ohne die Konzepte jeweils im Detail zu entfalten. Als sprachdidaktische Perspektiven identifizieren die Autoren die Entwicklung von Kompetenzen, die aus der Sprach- und Normenreflexion gewonnen werden können: sprachreflexive, -analytische und -produktive Kompetenzen. Einen besonderen Schwerpunkt legen sie auf die Sprachkritik, für die drei aufeinander aufbauende Ziele benannt werden: Normenkenntnis, Sprachreflexionskompetenz und Sprachkritikkompetenz. Damit wird zugleich der übergeordnete Zielpunkt der Thematisierung sprachlicher Variation im Deutschunterricht markiert.
Kapitel 2 widmet sich der „Variation in der Schreibung“. Mit dem Konzept der literalen Praktiken wird Schreiben als soziale Praxis perspektiviert. Eine Grundunterscheidung erfolgt zwischen textorientiertem und interaktionsorientiertem Schreiben. Anhand von Beispielen, überwiegend aus digitaler Schriftlichkeit, werden Typen und Funktionen graphematischer Variation und Interpunktionsvariation vorgestellt (z. B. Buchstabeniteration, Majuskelschreibungen, Punkt, Auslassungszeichen). Die Beispiele sind gut nachvollziehbar, da sich die interaktionsbezogenen Funktionen im Kontrast zur Standardschriftlichkeit unmittelbar erschließen und die eigene Erfahrung mit digitalem Schreiben widerspiegeln. Hieraus ergibt sich auch die Eignung für den Unterricht: Schülerinnen und Schüler können ihre eigenen Textnachrichten auf Abweichungen von der Standardsprache hin untersuchen und funktional analysieren. Besonders fruchtbar erscheint die Erkenntnis, dass standarddivergentes Schreiben in der digitalen Kommunikation eigene kommunikative und soziale Funktionen erfüllt und so zu einer differenzierten Sprachreflexion jenseits der „defizit-orientierten Wahrnehmung von Orthographie“ (S. 55) anregen kann.
Kapitel 3 stellt die grammatische Variation ins Zentrum. Da häufig die Vorannahme besteht, es gebe nur eine korrekte Grammatik des Deutschen, begründen die Autoren zunächst die Notwendigkeit, Variation auch im Standardbereich zu thematisieren, und betonen die Eigenständigkeit der Grammatik der gesprochenen Sprache. In diesem Zusammenhang führen sie die Konzepte der Nähe- und Distanzgrammatik ein, die auf dem klassischen Nähe/Distanz-Modell aufbauen. Ein Bezug zu Kapitel 2 (text- vs. interaktionsorientiertes Schreiben) wird jedoch nicht hergestellt, sodass die Konzepte unverbunden bleiben. Es folgt die Darstellung verschiedener morphologischer und syntaktischer Variationsphänomene. Die Zusammenstellung erfolgt allerdings ohne erkennbar einheitliche Systematisierung. Dabei werden mögliche Ordnungsprinzipien und Steuerungsfaktoren durchaus eingeführt, z. B. die diasystematischen Variationsdimensionen wie diatopisch, diachron, diaphasisch und diastratisch (S. 13) oder auch die in Kap. 1 eingeführte Dreigliederung von „systembedingte, feste Formen“, „sprachliche Zweifelsfälle“ und „Sprachgebrauchsvarianten“ (S. 20). Durch die fehlende Systematik wirkt die Auswahl der Phänomene beliebig. Hinzu kommt, dass aktuelle Referenzliteratur und verfügbare didaktische Materialien nicht durchgängig berücksichtigt werden (z. B. zum Konjugationsklassenwandel Nowak 2015, Nowak & Schröder 2017). Auch die Kapitel zu Kasusvariation hätten von einer stärkeren Fokussierung – z. B. die Beschränkung auf den adverbalen oder den präpositionalen Genitiv – profitiert. Die Aufnahme weiterer Phänomene, wie des Flexionsklassenwandels der schwachen Maskulina, führt zu Unübersichtlichkeit. Zudem finden sich sachliche Fehler, etwa: diesen in der Wendung „diesen Jahres“ ist ein Artikel, kein Pronomen (S. 64); die tun-Periphrase gehört in die Morphosyntax, nicht in die Verbalmorphologie, und der am-Progressiv ist dem Bereich Aspektualität, nicht Tempus/Temporalität zuzuordnen. Als Didaktisierungsvorschlag werden schließlich noch weil-Verbzweitsätze aufgegriffen, für deren konkrete Umsetzung aber auf andere Arbeiten verwiesen wird. Insgesamt überzeugt das Kapitel weniger, da es an Systematik und klarer Auswahl fehlt.
Kapitel 4 thematisiert „Ethnolekte“ als Beispiel für „kommunikative Stile“ (S. 85). Es werden stärker soziolinguistisch ausgerichtete Konzepte aufgegriffen, die auch die individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit berücksichtigen. Mit der Unterscheidung von innerer und äußerer Mehrsprachigkeit werden zudem sprachdidaktische Konzepte eingeführt, die auf die System- und Registerkompetenz verweisen und intraindividuelle Variation sichtbar machen. Mit Kapiteln zu Gastarbeiterdeutsch und Ethnolekten werden Sprechweisen vorgestellt, die sich durch Sprachkontakt bzw. Mehrsprachigkeit entwickelt haben. Die Darstellung von Merkmalen, Beispielen und deren kommunikativer Funktion verdeutlicht die sozialen Funktionen, die ethnolektale Sprechweisen als kommunikative Stile im Alltag der Sprechenden haben. Grundbegriffe der Sprachkontaktforschung (z. B. Code-Mixing, Code-Switching, primärer/sekundärer/tertiärer Ethnolekt) werden prägnant eingeführt und anhand von Beispielen illustriert. Bemerkenswert ist, dass die Autoren trotz knapper Darstellung die Komplexität der Materie erhalten und verständlich vermitteln. Die vorgeschlagenen didaktischen Impulse sind anregend, allerdings auch anspruchsvoll und setzen intensive Auseinandersetzung voraus.
Kapitel 5 schließlich widmet sich Sprachideologien – einem im schulischen Deutschunterricht selten thematisierten, für die Ausbildung sprachreflexiver Kompetenzen jedoch zentralen Gegenstand. Der Begriff der Sprachideologie erlaubt einen analytischen Zugriff auf die soziale und evaluative Bewertung von Sprachgebrauch und Sprechenden sowie auf allgemeine Vorstellungen über Sprache. Es ist sehr erfreulich, dass sich die Einführung auch diesem durchaus anspruchsvollen und komplexen Thema widmet. Mit sozialer Indexikalität und sozialer Registrierung werden Grundkonzepte der Soziolinguistik eingeführt. Eine Übersicht ideologischer Annahmen verdeutlicht den der Standardsprachideologie zugrunde liegenden Linguizismus, den die Autoren auch für das Deutsche annehmen. Mit dem komplexen Modell der metapragmatischen Positionierung wird eine interaktionsbezogene Perspektive ergänzt. Das Unterkapitel „Sprachideologien und Schule“ zeichnet ein kritisches Bild sprachideologischer Realitäten im Klassenzimmer, das von defizit-orientierten, stigmatisierenden und monolingualen Perspektiven geprägt sei. Diesen stellen die Autoren Konzepte wie Scaffolding und Translanguaging gegenüber, die Mehrsprachigkeit als Ressource und nicht als Hürde verstehen. Reflektiert wird auch die Rolle der Lehrkraft, deren Auftreten als Normautorität maßgeblich die in der Schule verinnerlichten Sprachbewertungen prägt.
Insgesamt erweist sich das besprochene Buch – mit den genannten Einschränkungen – als lohnende Lektüre. Busch und Efing gelingt es, sprachliche Variation in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit abzubilden und zugleich schulische Bedarfe einzubeziehen. Neben der Beschreibung sprachstruktureller Variation wird stets nach der sozialen und kommunikativen Bewertung der sprachlichen Varianten gefragt, womit mehrere Analyseebenen und Reflexionsbereiche eröffnet werden. Die Darstellungen sind zwar dicht, aber durch die Beispiele in der Regel gut nachvollziehbar. Für Einsteiger:innen in das Thema wären zusätzliche Übersichten, Glossare oder kommentierte Literaturempfehlungen wünschenswert gewesen. Für den Transfer in die Schule bietet das Buch zahlreiche Impulse.
Selbstverständlich kann eine Einführung zur sprachlichen Variation nicht allen Themen gleichermaßen gerecht werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Autoren einerseits auf eine systematische Darstellung der regionalen Sprachvariation verzichten, andererseits aber zahlreiche dialektale bzw. regionalsprachliche Beispiele anführen. Aus diesem doch recht auffälligen Desiderat ließe sich ein Impuls für einen weiteren Band der für Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik gleichermaßen verdienstvollen Reihe „Linguistik und Schule“ gewinnen.
Literatur
Nowak, Jessica. 2015. Zur Legitimation einer 8. Ablautreihe. Eine kontrastive Analyse zu ihrer Entstehung im Deutschen, Niederländischen und Luxemburgischen. Hildesheim et al.: Olms.Search in Google Scholar
Nowak, Jessica & Etje Schröder. 2017. Das Kräftemessen der Verben. Wie Schwach gegen Stark gewinnen kann. In: Praxis Deutsch 264 „Grammatische Zweifelsfälle“, 21–29. Search in Google Scholar
Spitzmüller, Jürgen. 2022. Soziolinguistik. Eine Einführung. Stuttgart: J. B. Metzler. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05861-410.1007/978-3-476-05861-4Search in Google Scholar
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