Rezensierte Publikation:
Nadine Bieker und Kirsten Schindler. 2023. Deutschdidaktik und Geschlecht (Aktuelle Perspektiven der Deutschdidaktik 1, utb). Bielefeld: wbv. 136 S.
Die Publikation von Bieker und Schindler setzt sich ein ambitioniertes Ziel: wissenschaftliche Forschung zum Thema Gender aus linguistischer und sprachpolitischer Perspektive mit der didaktischen Vermittlung geschlechtersensiblen Verhaltens und den Möglichkeiten sprachlicher Umsetzung im Deutschunterricht zu verbinden. Diese Doppelperspektive scheint dringend geboten, ist doch gerade die Reflexion dieses soziokulturell motivierten und aktuell sehr relevanten Anliegens eine Herausforderung, die sich nicht nur für die Lernenden in den Fächern Deutsch sowie Deutsch als Fremdsprache stellt, sondern auch bei Anwendungen in Behörden und der öffentlichen Verwaltung, für die das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung verbindlich ist.
Die Publikation ist in zwei unterschiedliche Analysebereiche gegliedert: Kapitel 2 und 3 behandeln die wissenschaftliche Diskursperspektive im Bereich linguistischer Forschung sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingen, Kapitel 4 und 5 thematisieren an Beispielen die Möglichkeiten der Analyse und Interpretation von Geschlechterschemata im (Deutsch-)Unterricht und die didaktischen Herangehensweisen an literarische Texte, Sachtexte und Schulbücher.
Diskursperspektive (Kap.2)
Der Forschungsgegenstand mit den Grundlagen linguistischer und soziokultureller Argumentation in feministischer Linguistik, Genderlinguistik, theoretischer Linguistik und angewandter Sprachwissenschaft wird fundiert und differenziert auf der Grundlage der wichtigsten Publikationen zu den verschiedenen Bereichen dargelegt. Zentrale Termini werden in einem Glossar definiert. Dies wird ergänzt durch das umfassende Verzeichnis der Forschungsliteratur sowie die zugrundeliegenden Verordnungen und Erlasse mit Richtlinien zur Behandlung des Themas aus Politik und Verwaltung. Diskutiert werden Bedeutung und Stellenwert des generischen Maskulinums, die Genus-Sexus-Problematik als Schnittstelle von biologischem und grammatischem Geschlecht bei Personenbezeichnungen und die Möglichkeiten sprachlicher Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit, -sensibilität und -inklusion – so die Alternativen zur sprachlichen Sichtbarmachung von Frauen und weitergehend von diversen Personen – und schließlich die Vermittlung dieser Themen in Schule und Hochschule. Bereits hier zeigt sich die enge Verschränkung gesellschaftlicher, sprachlicher und sprachpolitischer Aspekte, die die unterschiedlichen Diskursperspektiven widerspiegeln. Die darauf beruhenden Widersprüche und die Schwierigkeiten einer Vereinbarung der gegensätzlichen Positionen werden überzeugend dargelegt.
Dabei erfolgt allerdings eine nicht immer ausgewogene Gewichtung. So werden unter den zentralen Positionen fast ausschließlich einschlägige Pro-Gender-Publikationen mit soziologischem/sozialpsychologischem Ansatz genannt (Trömel-Plötz, Pusch, Hornscheidt, Kotthoff, Nübling), sprachsystemische Aspekte – grammatische, morphologische, orthografische – treten eher zurück. Als kritische Position ist Peter Eisenberg aufgeführt – sprachpolitisch eine eindeutige Polarisierung.[1] Reflektiert wird auch nur ansatzweise, dass die empirischen Bezüge durch Studien mit vergleichsweise kleinen Probandinnen- und Probanden-Gruppen belegt sind und daher Verallgemeinerungen zweifelhaft erscheinen.[2]
Begründet wird die Notwendigkeit einer Öffnung zu mehr sprachlicher Diversität mit bisher unzureichenden Möglichkeiten der Adressierung und Einbeziehung verschiedener Geschlechtsidentitäten. Gerade das Hochschulumfeld bietet dabei Gelegenheit, Neuentwicklungen zu reflektieren und die jeweiligen Markierungen und Formulierungen auch in eigenen Texten richtig ein- und umzusetzen. Damit eng verbunden ist das Anliegen, Geschlechtergerechtigkeit und -sensibilität auch in anderen Bereichen der Gesellschaft nachvollziehbar zu vermitteln.
Gesellschaftliche Perspektive: Gesetzliche Rahmenbedingungen, Sprachwandel, Sprachgebrauch (Kap.3)
Die juristischen Rahmenbedingungen bilden die Grundlage für alle Regelungen, die den Sprachgebrauch im öffentlichen Raum betreffen, allem voran das Grundgesetz und die Landesgleichstellungsgesetze in Deutschland, die sowohl für Behörden als auch für Schulen und Hochschulen verpflichtend sind. Mit der veränderten Regelung zum Personenstandsrecht wird 2017 in Deutschland, zeitversetzt auch in Österreich (2018) und in Belgien (2019), u. a. eine dritte Kategorie der Personenbezeichnung für nicht-binäre Personen eingeführt (divers), was auch die sprachliche Umsetzung in (schrift-)sprachlicher Kommunikation nahelegt.[3] Zumindest die Schulen und die Deutsch-Lehrenden sind an die von den Bildungsministerien aller deutschsprachigen Länder und Regionen staatlich sanktionierten orthografischen Regelungen des Amtlichen Regelwerks gebunden. „Für die sprachliche Realisierung fehlen aber bisher Formen“ (S. 27). So können sowohl die Multiplikation gendergerecht neu zu konstruierender Wortformen als auch die Nutzung verkürzender Zeichen im Wortinneren einer einheitlichen grammatischen und orthografischen Systematik und Morphologie zuwiderlaufen. Diese Grundproblematik wird in der vorliegenden Publikation mit Bezug auf die Beschlüsse des Rats für deutsche Rechtschreibung allerdings nur in einer Fußnote erwähnt (S. 25).
Eine vorerst finale Positionierung des Rats ist mit dem Erscheinen des neuen Amtlichen Regelwerks im Dezember 2023 erfolgt.[4] Sie umschreibt die Problematik einer Umsetzung von Genderinklusion vor allem in Bezug auf die verkürzenden Sonderzeichen im Wortinneren wie Asterisk, Doppelpunkt u. a., denn „diese Wortbinnenzeichen gehören nicht zum Kernbestand der deutschen Orthografie“; sie „sollen eine [...] metasprachliche Bedeutung zur Kennzeichnung aller Geschlechtsidentitäten [...] vermitteln“ und können „zu grammatischen Folgeproblemen führen“ (Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung (Hg.) 2024: 153f.). Der Rat konstatiert aber auch, dass die Entwicklung in diesem Bereich noch nicht abgeschlossen ist – er lässt damit Raum für potentielle künftige Veränderungen.
Die Offenheit in dieser Frage zeigt einmal mehr die Einbindung des Gender-Themas in übergreifende Kontexte sowohl gesellschaftlicher Entwicklungen wie auch didaktischer Konzepte. Hier stellt sich allerdings auch die Frage nach Umfang und Verhältnismäßigkeit von Veränderungen im Hinblick auf Sprachsystematik und eingeführte Sprach- und Schreibkonventionen einerseits und die Notwendigkeit der Spiegelung gesellschaftlichen Wandels in Sprache und Schreibung andererseits. Auch die Methoden sinnhafter Modifikationen und deren allgemeiner Akzeptanz in Sprachgemeinschaft und Öffentlichkeit sind umstritten. Die Vermittlung des Themas in der Schule sollte dabei nicht nur im Deutschunterricht ein zentraler Meilenstein auf dem Weg zu künftiger Kommunikations- und Verhaltensänderung sein.
Analytische Perspektiven (Kap.4)
Das Ziel einer ganzheitlichen Wissens- und Bewusstseinsbildung im Deutschunterricht durch Vermittlung von Geschlechtersensibilität in den verschiedenen Bereichen von Literatur und Sachtexten führt zu einer anregenden Vorstellung von Konzepten für neue analytische und didaktische Perspektiven. Die Positionierung zur Professionalität der (Deutsch-)Lehrkräfte im Hinblick auf Wissen, Einstellungen und Handeln ist klar umrissen. Deutlich wird, „dass das Thema bislang kaum (und wenn, nicht systematisch oder curricular verankert) im Studium vorkommt“ (S. 55).
Interessant sind die Analyseschemata zur Untersuchung der Kategorie Geschlecht im Gegenstandsbereich der Texte im Deutschunterricht. Bezug genommen wird v. a. auf literarische Erzähltexte, auf Bilderbücher und Sachtexte. Dabei geht es darum, Stereotype hinsichtlich der Geschlechterthematik zu erkennen und zu reduzieren und damit einer Diskriminierung bestimmter Gruppen entgegenzuwirken. Um für die Schule wirksam mit den vorgestellten Analysemethoden arbeiten zu können, bedarf es allerdings einer didaktisch-methodischen Operationalisierung, die hier fehlt. Wichtig wäre auch die Einbeziehung der Rezeptionsforschung: Wie sind Lesemotivation und Leseverstehen durch die Kategorie Geschlecht geprägt?[5] Wie kann vermieden werden, dass durch eine Fixierung auf diese Kategorie unabsichtlich Stereotypisierungen verstärkt werden?
Didaktische Perspektiven (Kap.5)
Diese Fragen führen zu den didaktischen Perspektiven. Insofern es im Deutschunterricht stets sowohl um Texte und Medien als auch um die Sprache selbst geht, bieten sich hier viele Anlässe, um über die Kategorie Geschlecht zu reflektieren. In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch für die Primarstufe und die Sekundarstufe I von 2022 ist zudem aufgeführt, dass bei der Umsetzung im Unterricht die „Heterogenität der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden [muss], die unter anderem [...] mit ihrem Geschlecht verbunden ist (Kultusministerkonferenz 2022: 4a; Kultusministerkonferenz 2022b: 4).
Verdienstvoll präsentieren Bieker und Schindler Beispiele, die für den Deutschunterricht geeignet erscheinen, und führen eine Sachtextanalyse an einem Text von Peter Eisenberg durch, der 2021 im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht worden ist. Für Schulbücher werden Hinweise zur kritischen Nutzung gegeben. Curriculare Fragen werden angerissen, dabei wäre es hilfreich für die Schule, wenn Hinweise mit Blick auf den Primar- und Sekundarbereich (I und II) differenziert würden. Außerdem stellt sich für einen ganzheitlichen Deutschunterricht die Frage, in welcher Weise und in welchem Umfang dieses zweifellos wichtige, aber nicht einzige Thema in den Unterricht eingebunden sein sollte. Und diese Frage führt zu einer weiterführenden Überlegung im Hinblick auf fächerübergreifende Vermittlungsstrategien: Wie kann in einem wechselseitigen Prozess das im Deutschunterricht vermittelte und erarbeitete Wissen in anderen Fächern unterstützt und altersgerecht genutzt werden, etwa im Geschichts-, Politik- oder Ethikunterricht?
Ein fächerübergreifender Unterricht erscheint auch in Bezug auf die Vermittlung von Rechtschreibung sinnvoll, auf die die gesellschaftliche Problematik und die sprachpolitische Dimension in der Öffentlichkeit oft verlagert werden. Eine altersgemäße und an bereits vorhandenen Kompetenzen orientierte Vermittlung aller Themen bietet sich an – sowohl in der Auswahl von Literatur wie in ersten Bild- und Schulbüchern. In der Mittelstufe (7. und 8. Jahrgangsstufe) sollte zunächst eine erste differenziertere Beschäftigung mit den Grundregeln der Rechtschreibung im Zentrum stehen, bevor eine Verkomplizierung durch Sonderzeichen das Erlernen und Festigen von Rechtschreibung erschwert. In den weiterführenden Jahrgangsstufen könnte dann die sprachpolitische Dimension besprochen werden: in einer reflektierenden Diskussion über die verschiedenen Ebenen von Geschlecht und Geschlechtsidentität und ihre Verschränkung – biologisch, sozialpsychologisch, gesellschaftlich, grammatisch, sprachsystematisch – sowie über die Möglichkeiten der Umsetzung genderinklusiver Schreibweisen in verschiedenen Textsorten und Adressatenkreisen (vgl. Krome 2022: 104).
Fazit
Die Publikation von Bieker und Schindler bietet sowohl eine informative Orientierung im Hinblick auf die Grundlagen und Kontexte für das Anliegen eines geschlechterinklusiven bzw. -sensiblen Deutschunterrichts als auch anregende praktische Beispiele. Teilweise bewegen sich die Analysen auf einem hohen Abstraktionsniveau, so dass sie die Lehrenden ohne weitere Zwischenschritte einer methodisch-didaktischen Operationalisierung vor Umsetzungsprobleme stellen. Ansätze für den praktischen Einsatz im Unterricht sind vor allem im letzten Teil der Publikation enthalten.
Das Anliegen, die aktuell relevante Thematik von Deutschdidaktik und Geschlecht aufzugreifen, ist sehr zu begrüßen. Die Frage einer Vereinbarkeit von (Wissenschafts-)Theorien einerseits, von Sprachkonventionen und Schreibpraxis andererseits bleibt dennoch weiterhin teilweise offen. Hier wird die zukünftige Entwicklung zeigen, ob es gelingt, soziokulturelle, sprachpolitische und sprachsystematische Perspektiven und Aspekte zur Deckung zu bringen.
Literatur
Garbe, Christine. 2019. Gender und Genre. Gendersensible Leseförderung und attraktive Genres der Kinder- und Jugendliteratur. In: Christine Garbe et al. (Hg.). Attraktive Lesestoffe (nicht nur für Jungen). Erzählmuster und Beispielanalysen zu populärer Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 1–34.Search in Google Scholar
Garbe, Christine et al. (Hg.). 2019. Attraktive Lesestoffe (nicht nur für Jungen). Erzählmuster und Beispielanalysen zu populärer Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.Search in Google Scholar
Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung (Hg.). 2024a. Amtliches Regelwerk der deutschen Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Mannheim: IDS-Verlag. Search in Google Scholar
Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung (Hg.). 2024b. Bericht des Rats für deutsche Rechtschreibung über die Wahrnehmung seiner Aufgaben in der 3. Amtsperiode 2017–2023). Mannheim 2024. Ebenfalls abrufbar unter www.rechtschreibrat.com: Berichte und Mitteilungen.Search in Google Scholar
Krome, Sabine. 2022. Gendern in der Schule: Zwischen Sprachwandel und orthografischer Norm. In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 69(1), 86–110.10.14220/mdge.2022.69.1.86Search in Google Scholar
Kultusministerkonferenz. 2022a. Bildungsstandards für das Fach Deutsch im Primarbereich. Beschluss der KMK vom 15.10.2004 i. d. F. vom 23.06.2022. Berlin.Search in Google Scholar
Kultusministerkonferenz. 2022b: Bildungsstandards für das Fach Deutsch. Erster und Mittlerer Schulabschluss. Beschluss der KMK vom 15.10.2004 und 04.12.2003 i. d. F. vom 23.06.2022. Berlin.Search in Google Scholar
Meineke, Eckhard. 2023. Studien zum genderneutralen Maskulinum. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. (Rez. In: ZRS 16 & 17.)Search in Google Scholar
Stickel, Gerhard & Gisela Zifonun. 2025. Genderinklusive Umformulierung von Pressetexten: Anmerkungen zu einer Korpusstudie des IDS. In: Deutsche Sprache 25(1), 91–95. 10.37307/j.1868-775X.2025.01.07Search in Google Scholar
Zifonun, Gisela. 2018. Die demokratische Pflicht und das Sprachsystem. Erneute Diskussion um einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch. In: Sprachreport 34(4), 44–56. Search in Google Scholar
Zifonun, Gisela. 2021. Eine Linguistin denkt nach über den Genderstern: In: Sprachreport 37(2), 46–51.Search in Google Scholar
© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.