Home Angela Schrott, Johanna Wolf & Christine Pflüger (Hg.). 2023. Textkomplexität und Textverstehen. Studien zur Verständlichkeit von Texten (Linguistik – Impulse & Tendenzen 106). Berlin, Boston: De Gruyter. 364 S.
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Angela Schrott, Johanna Wolf & Christine Pflüger (Hg.). 2023. Textkomplexität und Textverstehen. Studien zur Verständlichkeit von Texten (Linguistik – Impulse & Tendenzen 106). Berlin, Boston: De Gruyter. 364 S.

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Published/Copyright: October 15, 2025

Rezensierte Publikation:

Angela Schrott, Johanna Wolf & Christine Pflüger (Hg.). 2023. Textkomplexität und Textverstehen. Studien zur Verständlichkeit von Texten (Linguistik – Impulse & Tendenzen 106). Berlin, Boston: De Gruyter. 364 S.


Der Sammelband widmet sich einem Themenfeld, das in jüngerer Zeit – nicht zuletzt befeuert durch die zunehmende Anwendung und Sichtbarkeit Leichter und Einfacher Sprache u. a. in Medien, Schule, Ämtern und politischer Kommunikation – innerhalb der Linguistik (wieder) größere Aufmerksamkeit erfährt. In elf Beiträgen sowie einer konzeptionell rahmenden Einleitung versammeln die Herausgeberinnen v. a. romanistische und germanistische Perspektiven auf die Komplexität bzw. Einfachheit von Texten aus unterschiedlichen Anwendungsfeldern (darunter [Fremdsprachen-]Unterricht, Behörden, Literatur, digitale Kommunikationsplattformen). Außerdem geht es um Fragen des Verstehens und der Verständlichkeit von Texten. Der Sammelband reiht sich also ein in die aktuelle Wiederentdeckung der Verständlichkeitsforschung (innerhalb der Angewandten Linguistik), verortet sich selbst zumindest in der Theoriebildung allerdings interessanterweise stärker in der linguistischen Komplexitätsforschung. Darauf wird im nächsten Abschnitt noch genauer einzugehen sein.

Im Mittelpunkt der Beiträge stehen die Texte selbst, d. h. die meisten Beiträge beziehen sich zentral auf textlinguistische Konzepte und Analysezugriffe; die psychologische bzw. psycholinguistische Forschung, deren Präsenz man erwarten könnte, wird in einzelnen Beiträgen miterwähnt, bildet aber nicht den zentralen Dreh- und Angelpunkt des Bandes. Das mag angesichts des Titels zunächst etwas irritieren, ist aber letztlich eine nachvollziehbare und stringente Setzung des Sammelbandes, die in der Einleitung auch explizit formuliert wird: Die Herausgeberinnen verorten den Band schwerpunktmäßig in der Textlinguistik und Didaktik, „mit Öffnung auf kognitive Modelle“ (S. 12).

Einer ganzen Reihe von Beiträgen gelingt dann auch etwas, das man zumindest innerhalb der Germanistik, in der meist eine scharfe Abgrenzungslinie zwischen (angewandter) Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik gezogen wird, selten findet: nämlich die selbstverständliche Kombination von textanalytischen und erwerbsbezogenen Perspektiven. Die Beiträge von Meier, Schlaak, Roether & Morente, Pflüger, Dziuk Lameira und Schrott thematisieren Textkomplexität und Textverstehen direkt mit Bezug auf das Fremdsprachenlernen. Angela Schrott, Johanna Wolf und Christine Pflüger beschreiben Textverstehen und Text(rezeptions)kompetenz in ihrer Einleitung programmatisch als zu erlernende Kulturtechniken, was bereits eine weitere Schwerpunktsetzung des Bandes andeutet, nämlich die Betonung des situativen (auch kulturellen) Kontextes beim Textverstehen. In der psycholinguistischen Lese- und Verständlichkeitsforschung spielen diese pragmatischen Aspekte naheliegender Weise kaum eine Rolle, weshalb es sehr wohltuend ist, dass sie sich hier recht prominent und in unterschiedlichen Facetten durch die Analysen und Modellierungen ziehen.

Komplexität – oder nicht doch Einfachheit?

Der Titel des Bandes legt nahe, dass v. a. aus dem Blickwinkel der Komplexität auf Texte geschaut werden soll. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass sich eigentlich – beziehungsweise: mindestens gleichermaßen – das Konzept (sprachliche und visuelle) Einfachheit durch die Beiträge zieht. Das zeigt sich schon in der Kapitelstruktur und den Titeln der Beiträge, in denen immer wieder Vereinfachung und (vermeintliche) Einfachheit als Schlagworte auftauchen. In den Beiträgen (z. B. Wolf, Borzi, Meier, Cortí, Klug) wird dann die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis Einfachheit und Kürze, Einfachheit und Reduktion, Einfachheit und Klarheit, Einfachheit und Explizitheit/Implizit­heit, Einfachheit und Verständlichkeit stehen und wie Einfachheit auf sprachlicher vs. visueller oder semantischer vs. morphosyntaktischer Ebene zusammenhängen.

In ihrer theoretisch rahmenden Einleitung verbleiben die Herausgeberinnen leider recht konsequent beim anderen Ende der Skala: der Komplexität. Auf S. 20 wird Einfachheit erstmals explizit erwähnt und es wird konstatiert, dass die Idee der Einfachheit und leichten Verstehbarkeit weniger Aufmerksamkeit in der linguistischen Forschung erhalte. Je nachdem, wohin in der Linguistik man blickt, ist diese Aussage mehr oder weniger zutreffend. Gerade die Teile der psychologischen und kognitiv orientierten Verständlichkeitsforschung, die innerhalb der germanistischen Textlinguistik rezipiert wurden, befassen sich zentral mit der Frage, was sprachliche Einfachheit von Texten ausmacht und welche sprachlichen und auch visuellen Merkmale (auf allen linguistischen Beschreibungsebenen) dazu beitragen. Ausdruck davon sind u. a. die verschiedenen Verständlichkeitsmodelle und -dimensionen, wie sie einerseits in der Psychologie beschrieben und der germanistischen Linguistik intensiv rezipiert und dann auch innerhalb der Textlinguistik und Übersetzungswissenschaft (weiter-)entwickelt wurden. Andererseits stellen ja gerade die Teile der Angewandten Linguistik, die sich seit langer Zeit mit der Verständlichkeit insbesondere von Rechts- und Verwaltungssprache, mit der Textoptimierung für Hörgeschädigte und in jüngerer Zeit mit ‚Leichter‘ und ‚Einfacher Sprache‘ beschäftigen, gerade die Kategorie Einfachheit und leichte Verstehbarkeit in den Mittelpunkt ihrer Beschreibung – und damit schon immer die sprachlichen Möglichkeiten des Abbaus von Komplexität und gerade nicht Komplexität selbst.

Der vorliegende Sammelband hat sich entschieden, vom Skalenende der Komplexität auf Texte und Textverstehen zu blicken. Seine Leistung besteht darin, zwei Forschungstraditionen zusammenzubringen, die weniger im Austausch stehen, als man angesichts der Gegenstände erwarten würde: Ansätze der linguistischen Komplexitätsforschung (mit Bezug auf Texte) und die Textverständlichkeitsforschung. Der Fokus liegt klar bei der Verständlichkeit von Texten, also dem, was in der Komplexitätsforschung häufig als Benutzerkomplexität gefasst wird.

Die Beiträge

Ziel des Bandes ist es, so die Herausgeberinnen einleitend, „einen Zugriff auf Texte zu entwickeln, der nicht nur auf der Textebene arbeitet und den Text als ein gleichsam geschlossenes System betrachtet, sondern der den Text als Kommunikat ernst nimmt und versucht, die Wechselwirkungen zwischen Komplexität innerhalb der Zeichenstrukturen und der Perzeption durch die Rezipient:innen zu analysieren“ (S. 8).

Der erste Teil nach der theoretisch rahmenden Einleitung, von der schon die Rede war, umfasst zwei Beiträge zur „theoretische[n] Modellierung“. Angela Schrott bezieht sich in ihren Ausführungen zur Textkomplexität auf Coserius Modell der Sprachkompetenz und weist u. a. auf den Aspekt der sprachlichen und kulturellen Komplexitäten (sic!) und die Wechselwirkungen zwischen beiden hin. Interessant ist insbesondere ihre terminologische Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Textkomplexität, wobei sie die sekundäre Textkomplexität auf Diskurstraditionen (im Sinne von Grices Kommunikations­maximen) und damit im weitesten Sinne auf pragmatische bzw. gebrauchsbezogene Merkmale bezieht. Katharina Dziuk Lameira nähert sich dem Thema aus der Richtung der Lesbarkeitsformeln und formuliert das Ziel, Lesbarkeitsformeln zu entwickeln, die textlinguistisch fundiert sind. Es geht ihr um eine Prognose des Verstehensaufwands auf Basis einer Analyse und In-Bezug-Setzung von textuellen Merkmalen.

Der zweite Teil des Bandes umfasst drei Beiträge zu „Rekontextualisierung und Komplexität“ und behandelt eine Reihe von Gegenständen, darunter historische Quellentexte, journalistische und literarische Texte. Christine Pflüger blickt als Geschichtsdidaktikerin auf die Komplexität historischer Texte für heutige Leser:innen und reflektiert an einer Reihe von Beispielen die (Un-)Angemessenheit der (didaktischen) Kürzung und Vereinfachung von Quellentexten; Kontextualisierung beschreibt sie dabei als alternative Strategie der Verständlich­keits­unterstützung im didaktischen Kontext. Der Beitrag von Augustín Corti fokussiert dann das Phänomen der Rekontextualisierung als ein grundsätzliches Textmerkmal von Comics, das auch zur Vereinfachung im didaktischen Kontext eingesetzt werden kann. Sehr überzeugend wird in der Analyse gezeigt, wie visuelle Einfachheit in der Rezeption doch ein Komplexitätsmerkmal sein kann, da sie gerade voraussetzungsreich ist hinsichtlich des zur Dekodierung benötigten Wissens. Abgeschlossen wird dieser Teil mit einem recht praktisch ausgerichteten Beitrag von Valentina Roether und Àngela Falero Morente, die eine Datenbank mit digitalen Texten zur Nutzung im Spanischunterricht vorstellen.

Dass auf die Frage, was in Texten ‚einfach‘ und was ‚komplex‘ ist, meist keine einfache Antwort folgt, schlägt sich ganz direkt auch im Titel des dritten Teils im Sammelband nieder: Hier geht es nun um „vermeintliche Einfachheit“. Der erste Beitrag von Claudia Borzi nimmt für sich kognitionslinguistische, gebrauchsbasierte Ansätze in Anspruch und beschreibt anhand des Resumptivpronomens im Spanischen, wie sich Merkmale wie Informationsstruktur, Bedeutung, Struktur und Position des Antezedenten je nach Verwendungskontext verändern. In diesem Beitrag geht es zwar durchaus auch um diskursive Einfachheit und syntaktische Komplexität, der Fokus unterscheidet sich aber doch, denn im Vergleich sind bei allen anderen Beiträgen im Band Komplexität/Einfachheit und Verstehen unmittelbarer Ausgangspunkt und Ziel der Überlegungen. Der Beitrag von Nina-Maria Klug widmet sich Internet-Memes und beschreibt diese aus Verstehensperspektive als einfach und komplex zugleich. Der Beitrag von Johanna Wolf bezieht sich dann ebenfalls auf „Internet-Texte“, nämlich u. a. Postings auf Twitter/X und Instagram, und rekonstruiert in gewinnbringender Weise textanalytisch, wie Komplexität in der Interaktion aufgebaut und entzerrt wird. Ein Schwerpunktaspekt dabei ist Kürze als Komplexitätsfaktor und die Frage, wie diese mit vorhandener oder fehlender Kontextualisierung zusammenspielt.

Im letzten Teil erwarten die Leser:innen dann Überlegungen zu „Techniken, Praktiken und Strategien der Vereinfachung“. Claudia Schlaaks Beitrag komplettiert die im engeren Sinne sprach- und textbezogenen Beiträge des Sammelbandes um eine Metaperspektive auf Einstellungen von Lernenden mit diversen Sprachbiografien gegenüber Textkomplexität und Textverstehen, während Kerstin Meier sich der Frage nach der (Un-)Möglichkeit der Vereinfachung literarischer Texte im Französischunterricht annimmt. Interessant ist besonders ihre Analyse, da sie hier mit der graduellen Ausprägung von Komplexitätsmerkmalen in drei Dimensionen arbeitet: Abweichung von Normen/Traditionen, Implizitheit sowie Anforderungen an das Wissen der Rezipient:innen. Einen anregenden Punkt für weiterführende Diskussionen bietet m. E. ihre Feststellung, dass es ihrer Auffassung nach offensichtlich literarische Texte gibt, bei denen eine sprachliche Modifikation „zulässig“ ist, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Im letzten Beitrag von Lidia Becker und Marta Estévez Grossi geht es dann um Leitfäden für Leichte und Einfache Sprache (so die Übersetzung bzw. Inbezugsetzung der Autor:innen) in der Verwaltungssprache in Lateinamerika, wobei sich aus der Darstellung m. E. nicht ganz klar nachvollziehen lässt, inwiefern es sich tatsächlich (nur) um laienlinguistische Praktiken handelt, wie im Artikeltitel beschrieben. Da viele Bezüge zur deutschsprachigen Leichte- und Einfache-Sprache-Forschung hergestellt werden, wäre es auch interessant gewesen, welche Bezüge zur deutschsprachigen Verwaltungssprachforschung, die sich breit mit Verständlichkeits- und Einfachheitsfragen befasst hat, gesehen werden.

Text-Leser-Interaktion

Der Sammelband bietet also eine große Breite an Untersuchungsgegenständen und schafft es insgesamt gut, die verschiedenen Perspektiven durch eine kohärente Zusammenstellung zusammenzubringen. Nicht ganz nachvollziehbar bleibt inhaltlich, wieso in manchen Beiträgen das Zusammenspiel zwischen Textmerkmalen (sprachlich, visuell) und Rezipient als Leerstelle dargestellt wird, die theoretisch und analytisch zu schärfen sei. Auch wenn die textlinguistische Analyse notwendig auf der Seite der Textmerkmale arbeitet und erst Rezeptionsstudien klären können, wie Leser:innen mit spezifischen sprachlichen und visuellen Textmerkmalen umgehen, so kann die Textanalyse ja beschreiben, welche Annahmen von einfacher/vereinfachter Rezeption hinter bestimmten Formen der Textgestaltung stehen (die sich z. B. als leicht, einfach, Easy Reader, verständlich usw. bezeichnen). Zudem kann auch die Textlinguistik fachlich fundierte Einschätzungen zu diesen Annahmen formulieren, wenn sie auf die empirischen Studien zum Lesen und Textverstehen zurückgreift, nachdem sie bestimmte in der Sprachpraxis vorfindliche Textmerkmale analytisch herausgearbeitet hat. Und genau das tun auch einige der Beiträge. Das, was in der Verständlichkeitsforschung traditionell mit dem Schlagwort der Text-Leser-Interaktion gefasst wird – Verstehen ist demnach als Zusammenspiel aus Text- und Leser:innenmerkmalen zu begreifen – sowie der damit verbundene Hinweis, dass Verständlichkeit (und auch [Rezeptions-]Einfachheit) immer eine relative Größe ist, stellt aus meiner Sicht die Füllung dieser vermeintlichen theoretischen Leerstelle dar.

Fazit

Insgesamt bietet der Sammelband sehr lesenswerte, gut zusammengestellte Beiträge mit vielschichtigen, differenzierten Textstudien zu aktuellen Anwendungs­feldern, in denen Sprache und visuelle Textmerkmale in ihrer Rezeptions­schwierigkeit an spezifische Verwendungskontexte und Adressatenkreise angepasst werden. Außerdem dokumentiert er anregende Impulse für die Theoriebildung zur Einfachheit und Komplexität von Texten, bei der auf unterschiedliche Weisen pragmatische Aspekte stark gemacht werden. Es wird überzeugend gezeigt, inwiefern eindimensionale Ansätze zur Beschreibung von Textkomplexität/Texteinfachheit unzulänglich sind und wie Analysen und Modelle Texteigenschaften stattdessen differenziert beschreiben und mehrdimensional zueinander in Beziehung setzen können (z. B. in Form von Komplexitätsprofilen).

Die programmatische Darstellung, dass der Sammelband eine vermeintliche Leerstelle adressiere, indem er das Zusammenspiel aus Text- und Rezipient:innenmerkmalen erörtere, bleibt jedoch – ebenso wie die schwerpunktmäßige Verortung des Bandes in der Komplexitätsforschung – nicht ganz nachvollziehbar. Man könnte dies zum Anlass nehmen, um die vielfältige Forschung zu sprachlicher Einfachheit, Verständlichkeit und (Lese-)Verstehen mit der linguistischen Komplexitätsforschung weiter in einen vertieften Dialog zu bringen.

Online erschienen: 2025-10-15

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 16.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zrs-2025-2026/html
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