Wolfgang Imo & Jörg Wesche (Hg.). 2024. Sprechen und Gespräch in historischer Perspektive. Sprach- und literaturwissenschaftliche Zugänge (LiLi: Studien zur Sprach- und Literaturwissenschaft 7). Berlin: J. B. Metzler. 234 S.
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Wolfgang Imo & Jörg Wesche (Hg.). 2024. Sprechen und Gespräch in historischer Perspektive. Sprach- und literaturwissenschaftliche Zugänge (LiLi: Studien zur Sprach- und Literaturwissenschaft 7). Berlin: J. B. Metzler. 234 S.
Der Sammelband umfasst sprach- und literaturwissenschaftliche Beiträge, die Dramentexte sowie Gesprächsliteratur – Dialogflugschriften, Streitschriften, Beiträge eines gelehrten Periodikums – thematisieren. Diese Gattungen werden in der Sprachgeschichte seit den 1980er Jahren neben (Rechts-)Protokollen, privaten Korrespondenzen oder Tagebüchern herangezogen, um einen Zugang zur historischen Nähesprache zu gewinnen. Dies war und ist zum einen mit der Übertragung von gesprächs-, dialog- und interaktionsanalytischen Kategorien und Verfahren auf historisches Sprachmaterial verbunden, zum anderen mit dem Versuch, Mündlichkeit evozierende sprachliche Einheiten (etwa Gesprächspartikeln) und Strukturen (etwa Extrapositionen) zu identifizieren und ihre Funktionen zu ermitteln. Allerdings eröffnet ihre Untersuchung, wie in der Sprachgeschichte und auch in diesem Sammelband wiederholt festgestellt wird, keinen direkten Zugang zur authentischen ‚Alltagsmündlichkeit‘. In schriftlichen Dialogen findet sich vielmehr eine stilisierte Mündlichkeit, die, wie insbesondere literaturwissenschaftliche Analysen verdeutlichen, ebenso von Gattungstraditionen wie von poetologischen Konzepten sowie von rhetorischen Inszenierungsverfahren abhängig ist. Schriftliche Dialoge in faktualen wie fiktionalen Texten stehen grundsätzlich in Abhängigkeit von ihrer Zweckbindung, etwa dem Belehren oder dem ästhetischen Wirken, und sind mit Selektionen gemäß dieser Zwecke verbunden, was auch in der linguistischen Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz oft hervorgehoben wurde (vgl. Feilke & Hennig 2016). Die historische, teils bis in die Antike zurückreichende Tiefe der Verwendung von schriftlichen Dialogen wirft grundsätzlich die Frage auf, ob sich bestimmte Nähesignale ihrem Fortbestand im Schriftmedium selbst verdanken und möglicherweise gar kein ‚Fenster‘ zur zeitgenössischen Mündlichkeit sind.
Der vorliegende Sammelband knüpft grundlegend an die skizzierten fachlichen Paradigmen an und elaboriert diese. Eine Bereicherung für das gesamte Forschungsfeld stellen m. E. vor allem die Beiträge dar, die eine Verknüpfung in Richtung einer historischen Literaturstilistik aufweisen (Beiträge Hennig & Jacob und Holzhacker) und die „diskursive Normhorizonte“ (Rose in diesem Band, S. 221) einer vermeintlich mündlichen Gesprächspraxis aufzeigen (Beiträge Thelen und Rose ).
Im ersten Abschnitt des Sammelbandes werden, so die Überschrift, „Theoretische und methodische Grundlagen“ vorgestellt. In der Einleitung geben Wolfgang Imo & Jörg Wesche einen Überblick über sprach- und literaturwissenschaftliche Fachtraditionen, die mit der Untersuchung historischer Dialoge in unterschiedlichen Gattungen verbunden sind. Die zwei folgenden Beiträge beziehen sich auf das Nähe-Distanz-Modell von Ágel & Hennig (zentral: 2010), das auf der Basis unterschiedlicher Parameter (Rolle, Situation, Zeit, Code und Medium) sprachliche Einheiten, Strukturen und Verknüpfungen als nähe- bzw. distanzsprachlich ausweist.
Katrin Ortmann & Stefanie Dipper setzen sich das Ziel, „einen automatisch bestimmbaren Score für Nähe und Distanz zu entwickeln, der anhand einfacher linguistischer Annotationen die Klassifizierung historischer Texte bezüglich ihrer konzeptionellen Mündlichkeit ermöglicht“ (S. 20). Im Gegensatz zu allen anderen Beiträgen, die dominant einem qualitativ-hermeneutischen Zugang verpflichtet sind, handelt es sich hierbei um einen korpuslinguistischen, quantifizierenden Beitrag. Die Verfasserinnen nutzen das Kasseler Junktionskorpus (acht Texte mit jeweils mindestens 12.000 Token, hauptsächlich Ego-Dokumente) und die von Expertinnen mittels Annotationen zugewiesenen Nähe- und Distanzwerte und überprüfen automatisch Komplexität (etwa Wortlänge), Referenz/Deixis (etwa Personalpronomen), Lexik (etwa Antwortpartikeln) und Satztypen (etwa Interrogativsätze) (vgl. S. 26). Die Wortlänge, das Verhältnis von Vollverben zu Nomen und der Anteil der Personalpronomen der ersten Person sollen Unterscheidungen zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit ermöglichen. Unterschiede innerhalb der Nähetexte sollen sich durch den Anteil ‚kurzer‘ Demonstrativpronomina (der, die, das etc.), durch Ausprägungen des verbalen Stils und durch das Spektrum von Inhaltswörtern ergeben. Im Beitrag werden Nähewerte berechnet, wobei Ko(n)texte jedoch nicht berücksichtigt werden. Dass die untersuchten Lebensberichte, Tagebucheinträge und Briefwechsel, Ego-Dokumente allesamt, einen hohen Anteil von Personalpronomen der ersten Person aufweisen, dürfte kaum überraschen. Doch ist nicht davon auszugehen, dass jedes Ich, betrachtet man andere Textsorten, identisch verwendet wird und als Nähesignal fungiert (etwa das lyrische Ich oder das generische Ich). Insofern stellt sich die Frage, ob die Ermittlung von Nähewerten nicht stärker die syntagmatische Kotexte berücksichtigen müsste.
Mathilde Hennig & Joachim Jacob wollen „das Verhältnis zwischen Gesprächen im ‚engeren Sinne‘ der mündlichen Alltagskommunikation und literarisch vermittelten Dialogen im Drama“ (S. 38) reflektieren. Dies erfolgt auf der Basis von Auszügen aus Gryphiusʼ Peter Squentz und Büchners Woyzeck. Für die Auszüge ergibt sich, dass auf Situationsparameter zurückführbare Signale gehäuft vorkommen, wohingegen Nähesignale für die Zeitlichkeit (etwa Satzabbrüche) „dem hohen Planungsgrad literarischer Texte entgegenstehen“ (S. 45). Es zeigt sich also die „reduktiv-expansive[n] Nutzung von Nähemerkmalen zur Imitation von Mündlichkeit in Dramendialogen“ (S. 46), die sowohl von der Antizipation der Verstehensbedingungen der anvisierten Rezipientenschaft als auch vom ästhetischen Programm abhängig ist. Es werden jeweils Mündlichkeitsmarker genutzt,
„die a) zum jeweiligen historisch-poetologischen Programm passen bzw. kalkuliert von ihm abweichen, b) vor diesem Hintergrund die Normerwartungen entweder nicht oder sehr gezielt verletzen und c) die Grenzen der Verstehbarkeit wahren“ (S. 53).
Der zweite Abschnitt des Sammelbandes widmet sich dem Themenfeld „Nähe und Distanz in Dramentexten“. Der sehr reflektierte Beitrag von Daniel Holzhacker setzt sich mit literästhetischen Funktionen von Ellipsen in Büchners Woyzeck auseinander. Er leistet nicht nur eine eigenständige Bestimmung von Ellipsen (vgl. S. 141) und ihrer Differenzierung (v. a. interne und externe Prädikation, Komplementsetzung), sondern erläutert auf der Basis eines linguistischen close reading einzelner Szenen auch die ästhetischen Funktionen von Ellipsen – so die „leise Charakterisierung“ (S. 138) von Figuren. Neben der Charakterisierung werden ästhetische Kohäsion, Hervorhebung, Vieldeutigkeit und Verdichtung als Funktionen dargestellt.
Thema des Beitrags von Wolfgang Imo sind „Interaktionale Ellipsen: Nichtfinite Prädikationskonstruktionen (NFPK) und Aposiopesen im Dramenwerk von Andreas Gryphius“. Er bezieht sich auf interaktionslinguistische Beiträge zum heutigen Deutsch, die zu historischem Material in Beziehung gesetzt werden, so dass die Vorgehensweise als retrochron eingestuft werden kann. Anders als in den bisher skizzierten Beiträgen geht es nicht um ästhetisches Wirken, sondern um aus Dramentexten rekonstruierbare Formen des „Interaktionsmanagements“ (S. 59) bzw. um den historischen Nachweis von Konstruktionen. NFPK (9 Belege, etwa „Cardenio von hir?“) finden sich im gesamten Dramenwerk v. a. als Ausdruck von Empörung und Erstaunen, wie dies auch heute der Fall ist. Ein mit dem aktuellen Deutsch vergleichbares Funktionsspektrum (etwa das Anzeigen von Wissenshypothesen) zeigen auch Aposiopesen (21 Belege), deren höhere Anzahl auf ihre Verankerung in der historischen Tradition zurückgeführt wird.
Der Beitrag von Melissa Müller beleuchtet die primären Interjektionen ach und o sowie die mit ihnen gebildeten interjektionalen Phrasen mit diversen Subtypen (etwa Ach ja! Oh ja! Ach Vater!). Einer akribischen Kategorisierung der Einheit ‚Interjektion‘, die auch diachron orientiert ist, folgt eine quantitative Auswertung (410 Vorkommen von ach, 524 Vorkommen von o, untergliedert nach Formtypen), wobei die Gattungsabhängigkeit insbesondere von ach durch das häufigere Erscheinen in Tragödien deutlich wird (vgl. S. 100). Unabhängig von der Gattung drücken primäre Interjektionen Empfindungen aus. Ferner kommen interjektionalen Phrasen Funktionen beim Themenmanagement, bei Handlungsanweisungen und beim Ausdruck von Optativen zu.
Anke Detken untersucht „Rhetorische Repräsentation und historische Mündlichkeit im Schulactus von Christian Gryphius“. Der Schulactus wird erläutert, das Stück Der Deutschen Sprache unterschiedene Alter und nach und nach zunehmendes Wachsthum thematisiert und von anderen Gattungstraditionen (Barockdrama, Komödie der Wanderbühne) abgegrenzt. Die Verfasserin zeigt, dass die Funktion dieses Schulactus (Wissen vermitteln) bestimmte rhetorische Techniken wie die Wiederholung in den Vordergrund treten lässt. Der Actus sei wenig interaktional und die Nähesprache ließe sich v. a. im Prolog des Schulactus finden. Dieser selbst erinnere an „eine frühneuzeitliche Form des Referatehaltens“ (S. 130). Die Verfasserin kann mit ihren Darlegungen demonstrieren, dass die Gestaltung von Rede und Gegenrede wesentlich von Zweckbindungen abhängig ist.
Der dritte Abschnitt widmet sich mit drei Beiträgen der „Nähe und Distanz in Gesprächsliteratur“. Der Beitrag von Bernhard Jahn thematisiert Dialogflugschriften der Reformation. Er betrachtet Dialoge als Experimentierfeld für später einsetzende Reformationsdramen und die Schultheaterproduktion, „in dem neue dramatische Elemente zunächst im Modus eines Lesetextes erprobt wurden“ (S. 179). Das Material bilden Szenen aus zwei Dialogen der Frühreformation, bei denen ein Bauer gegenüber einer höher gestellten Person auftritt. Während Jahn den Dialog Ain Schöner Dialogus wie ain bawr mit aim frawenbrůder münch redt (1525) – gemessen an Anzahl und Länge der Redebeiträge sowie in Bezug auf Gesprächswechsel – als schwach dialogisch ausweist, soll das Gesprächsbüchlein (Gespräch büchlein / von eynem Bawrn / Belial / Erasmo Roterodamo vnd doctor Johann Fabri, 1524) stark dialogisch sein. Als Teil des oben genannten Experimentierfeldes wird jedoch auch der erste Dialog durch seine Handlungsdramaturgie, einen Wechsel von einem Alltagsgespräch zu Beginn zur theologischen Debatte am Ende, betrachtet.
Julius Thelen beschäftigt sich mit den periodisch erscheinenden Monatsgesprächen von Thomasius. Er erläutert zunächst die Konzeptualisierung des Dialogs bei Thomasius, mit der verbunden ist, Konversation und die Ausübung von Vernunft in einem engen, schon in der Antike verbürgten Zusammenhang zu sehen. Die mit dem Dialogischen verbundene Figurenrede stellt sich darüber hinaus anders als in dramatischen Werken dar. Die Monatsgespräche sind nicht nur gelehrsam, sondern auch unterhaltend und beruhen auf unterschiedlichen Vorbildern (etwa Cicero, Lukian, Erasmus oder auch Barockschriftsteller wie Rist): „Thomasiusʼ Gespräche bleiben so tief in Traditionen der Schrift verwurzelt, die ihren Wert aus der Simulation von Mündlichkeit und Nähe beziehen“ (S. 210). Gerade für den interdisziplinären Austausch ist das Bewusstsein, dass Werke zu einem spezifischen Zeitpunkt immer auch Anschlüsse an teils jahrhundertalte Traditionen besitzen, zentral.
Dirk Rose behandelt in seinem Beitrag „Streitschrift/Streitgespräch“ den Medienwechsel vom mündlichen Streitgespräch zur schriftmedialen Streitliteratur und fragt dabei,
„wie die Umstellung auf eine primär schriftliche Auseinandersetzung polemische Konstellationen zusätzlich verschärft bzw. wie, im Gegenzug, der Rekurs auf die mündliche Praxis des Streitgesprächs als ein Modus der Konfliktreduktion verstanden werden kann“ (S. 217).
Grundlage bildet ein theologisches Streitgespräch aus den Monatsgesprächen Thomasius’. Mit seinem Beitrag dürfte Rose die Erwartungen seiner Leserinnen durchkreuzen. Während Mündlichkeit häufig mit einer höheren emotionalen Involviertheit assoziiert werden dürfte, kann er sowohl durch Verweis auf Eintragungen im Universal-Lexicon Zedlers als auch durch die Analyse des theologischen Disputs zeigen, dass die polemische Streitschrift gegenüber dem Streitgespräch eine höhere Stufe der kommunikativen Eskalation darstellt. Er verweist darauf, dass Schrift Konflikte eher verhärte, eine Verständigung teils verunmögliche und wirft einen interessanten Blick auf die diskursethische Suggestion von fingierter Mündlichkeit, die von diskursethischen Implikaten profitiere, „die sie gleichzeitig parasitär überschreibt“ (S. 228).
Insgesamt liegt ein inspirierender Sammelband vor, dessen Beiträge in ihrem Gesamt demonstrieren, wie vielfältig historische Gespräche betrachtet werden können und welche Forschungsfragen noch zu bearbeiten sind. Dabei wäre es m. E. gewinnbringend, sich verstärkt diachronen Längsschnittstudien zuzuwenden, um das Spannungsfeld zwischen Gattungsgebundenheit und der Inszenierung historischer Interaktion noch detaillierter in den Blick zu nehmen.
Literatur
Ágel, Vilmos & Mathilde Hennig (Hg.). 2010. Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung (Linguistik – Impulse und Tendenzen 35). Berlin, New York: De Gruyter.10.1515/9783110220872Search in Google Scholar
Feilke, Helmuth & Mathilde Hennig (Hg.). 2016. Zur Karriere von ‚Nähe und Distanz‘. Rezeption und Diskussion des Koch-Oesterreicher-Modells (Reihe Germanistische Linguistik 306). Berlin, Boston: De Gruyter. 10.1515/9783110464061Search in Google Scholar
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