Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit sogenannter „psychopathologischer Kunst“, im Besonderen mit einigen künstlerischen Arbeiten zweier langjähriger Patienten psychiatrischer Anstalten: Gustav Sievers’ und Erich Spießbachs. Sievers, der 1941 den „Euthanasie-Aktionen“ der Nazis zum Opfer fiel, verbrachte beinahe 40 Jahre in „Irrenanstalten“; Spießbach, der 1956 bei einem Fluchtversuch aus seiner Anstalt starb, fast 14. Der Beitrag wendet sich gegen die Vorstellung, aus den Werken ließen sich Rückschlüsse auf die psychische Verfassung oder gar das „innere Wesen“ ihrer Schöpfer ziehen. Wenn sich nach Adorno Kunst im Sinne einer materialistischen Ästhetik im Verhältnis zu dem ihr Auswendigen bestimmt, sind die genannten Werke dahingehend zu untersuchen, inwiefern sich in ihnen die individuellen Erfahrungen der Künstler ausdrücken, die sich im Falle psychiatrischer Anstaltspatienten aus einem besonderen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ergeben. Der Wahrheitsgehalt der Werke wird in ihrer negativen Reflexion des gesellschaftlichen Zustands aufgesucht, wie sie sich insbesondere in den inhaltlichen Motiven darstellt.
Abstract
The article deals with so-called “psychopathological art”, especially with the works of two long-term patients of mental institutions: Gustav Sievers and Erich Spießbach. Sievers, who in 1941 fell a victim to the Nazis’ “euthanasia” killings, spent almost 40 years in “madhouses”, Spießbach, who died in an attempted escape from his asylum in 1956, nearly 14. This article opposes the assumption that from works of art one might leap to conclusions about the mental condition or even the “inner nature” of their authors. If, according to Adorno’s materialistic aesthetics, art is being determined by the relation to its “other”, those works ought to be examined as to how far the artists’ individual experiences are being expressed in them; experiences which in case of patients of mental institutions result from a particular relation between individual and society. The true content [Wahrheitsgehalt] of those works might rather be grasped in the negative reflection of the state of society as it presents itself particularly in their subject matters.
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