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Im Gespräch mit Oskar Bätschmann

  • Roger Fayet

    ROGER FAYET ist Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft SIK-ISEA und Titular-professor an der Universität Zürich. Gemeinsam mit Tabea Schindler leitete er das SNF-Projekt Akteure und Akteurinnen des Kunsthandels in der Schweiz. Seine Forschung befasst sich unter anderem mit der Ästhetik der Emotionen, mit der Geschichte der Kunstwissenschaft und mit museumstheoretischen Fragen.

    , Julia Gelshorn

    JULIA GELSHORN ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Universität Fribourg, Schweiz. Sie leitet seit 2023 das SNF-Projekt Real Abstractions: Reconsidering Realism’s Role for the Present. Schwerpunkte ihrer Forschung betreffen Strategien der Aneignung und Wiederholung in der modernen und zeitgenössischen Kunst, neue Realismen, Künstlerschriften und Interviews sowie Theorien und Figurationen der Grazie in der französischen Kunst des 18. Jahrhundert.

    , Sandra Gianfreda

    SANDRA GIANFREDA ist seit 2015 Kuratorin am Kunsthaus Zürich. Davor arbeitete sie an der Universität Bern, an den Kunstmuseen in Basel und Winterthur sowie am Museum Folkwang in Essen. Sie hat Publikationen und Ausstellungen zum Impressionismus, zur Klassischen Moderne und zur amerikanischen, deutschen und italienischen Kunst der Nachkriegszeit verantwortet. Ihre Interessenschwerpunkte liegen in der Rezeptionsgeschichte und in transkulturellen Phänomenen der Kunstgeschichte.

    , Hubert Locher

    HUBERT LOCHER ist seit 2008 Direktor des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg und Professor für Geschichte und Theorie der Bildmedien am Kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte betreffen die Wissenschafts- und Methodengeschichte der Kunstgeschichte, die Kunsttheorie, die Geschichte der Bildmedien einschließlich der digitalen Formate, insbesondere aber der Fotografie als dokumentarisches und künstlerisches Medium.

    , Peter J. Schneemann

    PETER J. SCHNEEMANN ist seit 2001 Direktor der Abteilung Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Universität Bern und seit Sommer 2023 Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät. Er leitet aktuell die Forschungsprojekte Mediating the Ecological Imperative und Öffentlichkeiten der Kunst. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen methodologische Fragestellungen im Umgang mit zeitgenössischer Kunst, Perspektiven der Ökologie, die Ausbildung und Identitätsbildung von Künstler:innen, Mythenbildung des Abstrakten Expressionismus und kulturpolitische Diskurse seit dem 18. Jahrhundert.

    , Tristan Weddigen

    TRISTAN WEDDIGEN ist seit 2017 Direktor an der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom. Schwerpunkte seiner dortigen Abteilung liegen in der globalen Vernetzung italienischer Kunst von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, in Fragen der Materialität und Medialität, in der Wissenschaftsgeschichte des Faches und in der digitalen Kunstwissenschaft.

    and Oskar Bätschmann

    OSKAR BÄTSCHMAN lehrte an Universitäten in Deutschland, Frankreich und bis zur Emeritierung 2009 an der Universität Bern (Kunstgeschichte der Neuzeit und der Moderne). Zu den größeren Publikationen zählen: Kunstgeschichtliche Hermeneutik (1984), Nicolas Poussin (1991), Hans Holbein d. J. (1997), Ausstellungskünstler (1997), Leon Battista Alberti (2000), Ferdinand Hodler (2008–2018), Giovanni Bellini (2008) und Geschichte des Kunstpublikums (2023).

Published/Copyright: November 22, 2023
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Abstract

Oskar Bätschmann, bis 2009 Ordinarius an der Universität Bern und international bekannt durch seine Schriften zur Methodologie der Kunstwissenschaft, zu Phänomenen wie dem Ausstellungskünstler oder der Landschaftsmalerei sowie zu Künstlern und Theoretikern von Giovanni Bellini bis Heinrich Wölfflin, gibt anlässlich seines achtzigsten Geburtstags Einblicke in seine wissenschaftliche Laufbahn und Reflexionen über die Disziplin. Das Gespräch führten Kolleginnen und Kollegen, die an seinen Forschungsprojekten teilgehabt haben, namentlich Roger Fayet (Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft), Julia Gelshorn (Université de Fribourg), Sandra Gianfreda (Kunsthaus Zürich), Hubert Locher (Universität Marburg), Peter J. Schneemann (Universität Bern) und Tristan Weddigen (Bibliotheca Hertziana), im August 2023.

Bild-Diskurs, Hermeneutik, Dialektik

HUBERT LOCHER: Deine Publikationen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, von der Dissertation Bild-Diskurs: Von der Schwierigkeit des ›parler peinture‹ von 1977 bis zur Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik, sind stark theoretisch-methodologisch orientiert. Hierzu ließe sich auch die Habilitationsschrift Dialektik der Malerei von Nicolas Poussin zählen. Auf der Suche nach einem Betreuer für meine Doktorarbeit wurde ich vom Stuttgarter Germanisten Heinz Schlaffer auf deine Schriften verwiesen. Mich hat die theoretische Ambition ebenso fasziniert wie der pragmatische Zugriff, auch die klaren Worte zu einer methodologisch problematischen, damals noch vielfach bewunderten Figur wie Hans Sedlmayr, und nicht zuletzt fand ich die von dir unter Beweis gestellte Anwendbarkeit beeindruckend. Eine theoretisch ausgerichtete Doktorarbeit im Bereich der Kunstgeschichte vorzulegen, war damals nicht üblich und mit Risiken verbunden und ist es vielleicht heute noch. Was hat dich dazu bewogen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Für die Doktorarbeit ging ich während dreier Jahre viele Irrwege, die sich erst nachträglich als ergiebig herausstellten. Emil Maurer riet mir, Johannes Dobai, der an der Universität Zürich über Kunsttheorie las, nach einem Thema zu fragen. Er schlug »Linie und Farbe im Neoklassizismus« vor. Daraufhin verschlang ich alle kunsttheoretischen Schriften aus der Zentralbibliothek Zürich, die teilweise aus dem Nachlass der Familie Füssli stammen, besuchte 1972 die Neoklassizismus-Ausstellung in London und studierte den Katalog. Gleichzeitig begann ich in Paris insgeheim eine völlig andere Arbeit über die Pygmalion-Rezeption, aber erst Wolfgang Kemp bemerkte das darin verborgene Nugget. Da ich über Linie und Farbe kaum etwas gefunden hatte, schrieb ich zunächst eine methodologische Einleitung zur Dissertation und schickte sie meinem Freund Thomas Fries, der in Princeton an seiner Habilitationsschrift über die Aufklärung arbeitete. Seine positive Reaktion ermutigte mich, und ich reichte die Einleitung, die knapp hundert Seiten umfasste, als Dissertation ein. Mauer war überaus tolerant, nicht aber der ursprünglich vorgesehene Zweitgutachter, der Philosoph Hermann Lübbe, weil ich den Jargon der ihm verhassten Frankfurter Schule imitiert hatte. Das Zweitgutachten der Germanistin Eleonore Frey rettete mich.

Meine Arbeit hieß zuerst Spiegelung – Transparenz, doch erschien 1976 die große thèse von Philippe Junod unter dem Titel Transparence et opacité, worauf ich mit Bild-Diskurs einen neuen, besseren Titel fand. Die Dissertation kommt mir heute als grenzenlose Ambition eines Anfängers vor, eine kritische Grundlegung des kunsthistorischen Sprechens zu liefern. Der Begriff Diskurs war für die deutschsprachige Kunstgeschichte neu. Dagegen sind discorso und discours in Italien und Frankreich gebräuchlich für Rede und Abhandlung. Damals hielt man sich in der Kunstgeschichte an einfache Kost. Der Arbeit Bild-Diskurs wurde der Stempel ›Theorie, leidige‹ verpasst, und ich kam in die Schublade ›Theoretiker, leidiger‹, was die Bände Dialektik und Hermeneutik bestätigten. Es irritierte zwar, dass ich akzeptable Ausstellungen zustande brachte und auch Gemälde von Jacques-Louis David oder Lucas van Leyden lege artis zu analysieren vermochte. Die Befreiung von den Fesseln erfolgte erst durch das wachsende Interesse an methodologischen Fragen in Frankreich, Deutschland, Österreich und den Vereinigten Staaten.

HUBERT LOCHER: Wie kam es dann zur Entscheidung, die Habilitationsschrift zu Nicolas Poussin zu verfassen? War das strategisch überlegt, als der Versuch, eine klassische Position zu diskutieren? Der theoretische Anspruch ist zwar in dem ungewöhnlichen Titel Dialektik der Malerei programmatisch angezeigt, das Buch ist aber auch in sachlich-historischer Hinsicht reich und gelehrt.

OSKAR BÄTSCHMANN: Ich verfolgte, glaube ich, nie eine Strategie. Wie so oft spielte hier der Zufall sein undurchsichtiges Spiel. Ich war der Überzeugung, die Kunstgeschichte ersticke in Langeweile und brauche dringend eine methodologische Intensivkur. Die Kritik an der gängigen Kunstgeschichte von Kurt W. Forster, der 1975–1977 als Direktor des Istituto Svizzero di Roma amtierte, an dem ich zwei Jahre Mitglied war, und von Otto Karl Werckmeister, den ich damals noch nicht persönlich kannte, wurde leitend für mein Vorhaben. Das Thema sollte ›Bild und Sprache‹ sein, also eine unabsehbare Analyse, die gar nicht zu bewältigen war; aber ich meinte, Mut und Kraft zu haben, wie der naive Prinz Tamino. Niemand sagte mir: Das kannst du nie, das schafft niemand. Aber viele dachten es wohl. Später fand ich, dass Jörg Immendorff mit den Arbeiten Ich wollte Künstler werden in den 1970er Jahren für sein Fach eine solche Ambition gut umschrieben hatte.

Selbstverständlich gebar das große Projekt zunächst eine Maus. Die Metamorphosen Ovids und die Ikonologie interessierten mich, und so las ich Dora und Erwin Panofskys Aufsätze über Poussin und studierte Stichwerke nach antiken Statuen. Mir fiel die Ähnlichkeit von Poussins Narziss und einem liegenden Niobiden ins Auge. Man hielt allgemein einen Christus von Paris Bordone für die Referenz, was für einen kleinen Besserwisser eine winzige Chance eröffnete. Nach einem Jahr intensiver Arbeit schickte ich das Manuskript an die Zeitschrift für Kunstgeschichte, und Georg Kauffmann akzeptierte es. Auf diese Ermunterung folgte gleich die nächste, denn ich hörte, dass Rudolf Preimesberger in Berlin diese Arbeit in seinem Methodenseminar diskutierte. Eine außerordentliche Unterstützung des Poussin-Vorhabens kam von Pierre Rosenberg, damals noch conservateur en chef am Musée du Louvre, der dem unbekannten Poussinisten aus Zürich alle Dossiers öffnete und das Studium der Gemälde im Depot ermöglichte. Damit war der Anfänger aus der Schweiz im Zentrum der Poussin-Forschung angekommen.

Das Studium der Poussin-Zeichnungen in den Kabinetten in Rom, Florenz, Paris, London und Düsseldorf verband ich mit dem Studium der Optik und Farbenlehre des 17. Jahrhunderts. Der Titel kam von der Analyse der Pinselzeichnungen mit ihrer klaren Entgegensetzung von Licht und Schatten als These und Antithese und der Synthese in der Farbe, aber er verdankte sich auch meiner anhaltenden Lektüre von Hegel, Theodor W. Adorno, Paul Ricoeur und anderen, von denen ich damals Leitideen für die Kunstgeschichte zu erhalten hoffte. Die Kettenreaktion des Glücks war, dass Georg Germann die Poussin-Arbeit sofort publizierte und Elizabeth Cropper sie im Art Bulletin rezensierte, worauf Michael Leaman für die englische Ausgabe und Yves Bonnefoy für die französische sorgten.

Über Poussin wollte ich keine chronologische Monografie verfassen, sondern eine Analyse seiner Gemälde und Zeichnungen durchführen, die sich nach Prinzipien richtet, die sich in den Werken, Briefen, zeitgenössischen Theorien und Farbenlehren entdecken ließen. So ging es mir etwa darum, den Begriff giudizio sowohl historisch zu bestimmen als auch in der praktischen Arbeit des Malers im Sinne der ›Erwählung‹ aufzuzeigen oder Poussins demonstrativen Gebrauch der Farbenlehren von François Aguillon bis Athanasius Kircher in der Blindenheilung darzulegen und so weiter. In der Interpretationslehre von 1988 nannte ich dieses Vorgehen »kreative Abduktion«.

HUBERT LOCHER: Kann man sagen, dass die Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik die Erkenntnisse des Poussin-Buches und anderer bis dahin in Aufsätzen ausgeführter methodischer Überlegungen zu systematisieren versucht? Welche sind für dich die wichtigsten philosophischen und kunsthistorischen Referenzen gewesen, die positiven wie negativen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Auf die Hermeneutik kam ich durch die Germanisten Wolfgang Binder und Klaus Weimar in Zürich. Letzterer publizierte 1980 die Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, und dieses Buch stellte die Herausforderung dar, auch für die Kunstgeschichte einen methodologischen Versuch zu wagen. Ich trug der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft die Idee einer Einführung vor, ohne zu wissen, wie dieses Projekt durchzuführen wäre: Ich war damals Konservator am Kunstgewerbemuseum Zürich, Lehrbeauftragter an den Universitäten Zürich und Bern, die Antrittsvorlesung in Zürich sowie Bewerbungsvorträge in Kiel, Konstanz und Freiburg im Breisgau standen an. Dass ich neben alledem die Hermeneutik schreiben konnte, scheint mir heute unbegreiflich. Für die ersten Kapitel lehnte ich mich zu stark an Hans-Georg Gadamer an, tendierte aber immer mehr zur Hermeneutik von Ricoeur und anderen Franzosen. Eine selbständige Position in den allgemeinen Problemen zu gewinnen, gelang nicht auf Anhieb. Hingegen bietet der zweite Teil der Hermeneutik mit der Erörterung praktischer Probleme tatsächlich eine Einführung, wie mein kritischer Freund Wilhelm Schlink urteilte. Wahrscheinlich setzt man heute nicht mehr so große Hoffnung in die Philosophie als Leitdisziplin wie ich meinerzeit. Für die Strenge des Denkens ist allerdings eine Vertrautheit mit Sprachphilosophie und Logik nützlich, zum Beispiel für die Bildung und Verifikation von Hypothesen.

HUBERT LOCHER: Die Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik war ein großer Erfolg und liegt inzwischen in der sechsten Auflage vor. Es ist aber auch zu Widerspruch und Missverständnissen gekommen, und es sind andere Positionen daneben entwickelt worden. Welchen Stellenwert würdest du im Rückblick der Hermeneutik im Diskurs der 1980er Jahre zuweisen? Wie würdest du zum Beispiel deine Position bestimmen im Vergleich mit jener zeitgleich von Gottfried Boehm entwickelten?

OSKAR BÄTSCHMANN: Zu Beginn waren die Schriften von Gottfried Boehm und die Begegnungen mit ihm sehr wichtig. Unsere Auffassungen lagen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nahe beieinander, doch war er als Gadamer-Schüler mir in der Philosophie weit überlegen. Es war mir immer wichtig, nahe an den Objekten zu bleiben und mich mit einzelnen Gemälden oder einer Werkgruppe zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung mit methodologischen Fragen läuft ja Gefahr, in einem sich selbst genügenden Diskurs zu kreisen. Das wollte ich vermeiden.

HUBERT LOCHER: Die Tendenz zur methodischen Selbstgenügsamkeit wurde damals ja durchaus kritisch gesehen; zumal man auch meinte, in der hermeneutischen Annäherung eine konservative Agenda erkennen zu können, ohne dass dies immer ausgesprochen wurde. Für die heutigen Leserinnen und Leser ist diese politische Besetzung unterschiedlicher methodischer Ansätze wohl schwer zu verstehen. Kannst du das erläutern? Wie hat man das heute zu beurteilen?

OSKAR BÄTSCHMANN: In den 1970er Jahren hielt ich mich nur für Recherchen und Vorträge in Deutschland auf und konnte die feindlichen Auseinandersetzungen kaum nachvollziehen. Auf der einen Seite begehrten die Jungen um Martin Warnke in Marburg auf, und auf der Gegenseite kämpften die Ordinarien um ihre Privilegien und geistigen Pfründen. Wie alle Promovierten erhielt ich vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München die Einladung zur ›Schlachtbank‹, die man nicht ablehnen durfte. Mein Vortrag wurde denn auch von Karl-August Wirth mit dirty tricks verrissen, die aber Willibald Sauerländer durchschaute. Er fand den Vortrag gut und fragte mich, ob ich Wolfgang Kemps Buch über das Zeichnen der Laien von 1979 für die Kunstchronik besprechen würde. Man erwartete einen scharfen Verriss, doch ich fand das Buch vorzüglich, und die Kunstchronik erhielt einen weiteren Anstoß, ihre Einstellung zur jungen Generation zu ändern; das hatte der schlaue Sauerländer wohl beabsichtigt.

Hodler und das Unternehmen catalogue raisonné

ROGER FAYET: Dein Schaffen kennzeichnet sich wesentlich aus dadurch, dass du bestimmten Forschungsgegenständen über Jahrzehnte hinweg verbunden bleibst. Eine dieser thematischen Konstanten bildet das OEuvre Ferdinand Hodlers. Im Katalog der Schweizer Universitätsbibliotheken finden sich mehr als vierzig Titel von dir mit Bezug zu Hodler, mit einer zeitlichen Bandbreite von ebenso vielen Jahren. Was macht Hodlers Werk für dich so interessant?

OSKAR BÄTSCHMANN: Die meisten meiner Schriften über Hodler entstanden auf Anregung oder durch Aufträge. Ich war nie ein ›Hodler-Fan‹. Mich faszinieren sein unglaublicher Wille zur Kunst, seine phänomenale Begabung, seine unbändige Arbeitskraft und sein Geschick, die schwierigen Bedingungen der Kunstwelt erfolgreich für den sozialen Aufstieg zu nutzen. Allgemein ist Hodler interessant für die politische Vereinnahmung von Künstlern durch Nationalismen und für die enge Verbindung von Landschaftsmalerei und Tourismus. Hodler, Edvard Munch, Gustav Klimt und andere nehmen gegenüber dem Impressionismus, der nach 1900 zur dominanten Richtung gemacht wurde, weitgehend unabhängige Positionen ein, sodass die Kunstgeschichte nicht alle Phänomene auf eine einfache Entwicklungslinie bringen kann.

ROGER FAYET: Bei aller offenen Ablehnung gegenüber der zeitgenössischen Ästhetik hat Hodler sich doch bemerkenswerte Theoriekonstrukte zusammengezimmert. Macht seine theoretische Reflektiertheit, die sich sowohl in persönlichen Aussagen wie auch in programmatischen Texten äußert, nicht auch eine Eigenschaft aus, die zur kunstwissenschaftlichen ›Verwertung‹ einlädt?

OSKAR BÄTSCHMANN: Im Gegensatz etwa zu Albert Anker oder Paul Klee hatte Hodler keine höhere Schulbildung erhalten, wohl aber eine gründliche Kunstausbildung bei Barthélemy Menn in Genf. Seine Notizen zur Praxis der Malerei und zur Rezeption durch das Publikum enthalten eigene Erfahrungen und zeitgenössische Ideen. Meine Frage war, welche Einsichten in sein Werk wir durch diese Reflexionen gewinnen können. Hodler beschäftigte sich intensiv mit dem Parallelismus, der als ›Weltgesetz‹ für die Kunst gelten sollte. Der ›psychophysische Parallelismus‹ wurde in Europa und den Vereinigten Staaten breit diskutiert, von der Psychophysik bis zur Esoterik. Diese Neuauflage des Leib-Seele-Problems war für Hodlers vielfache Wiederholungen der Formen wichtig. Zudem erhoffte er sich durch die Wiederholung der Formen das unmittelbare Verständnis seiner Kunst auf Seiten des Publikums, ohne Hilfe der Literaten und Kunsthistoriker.

ROGER FAYET: Der Aufsatz »Ferdinand Hodlers Kombinatorik« von 1986 war so etwas wie ein Fanal der neueren Hodler-Forschung. Deine Argumentation, die von einem Katalog der identifizierten Schemata begleitet wird, zielt darauf ab, das Konstruktive an Hodlers Bestrebungen herauszuarbeiten und diese zu systematisieren. Der fast zeitgleich erschienene und nicht weniger grundlegende Beitrag über das Landschaftswerk befasst sich hingegen kontextorientiert mit den Wechselwirkungen zwischen Hodlers künstlerischen Problemen und zeitgenössischen Kulturphänomenen wie Pantheismus und Mystizismus. OSKAR BÄTSCHMANN: Die ›Kombinatorik‹, die aus der kunsthistorischen Sezierarbeit resultiert, missfiel all jenen, die in Künstlern höhere Wesen sehen wollten und meine Arbeit daher für ein Sakrileg hielten. Die Analyse der künstlerischen Kompositionen macht die Nähe zur industriellen Serienproduktion sichtbar und belegt Hodlers spezielle Modernität. Er fasst Kompositionsschemata als Matrizen auf, die mit austauschbaren Figuren besetzt werden, und so verschiedene Inhalte generieren oder auch an weltanschauliche oder mystische Inhalte andocken können.

ROGER FAYET: Was hat dich dazu bewogen, dich der Erarbeitung des catalogue raisonné der Gemälde Hodlers zu widmen, einem zwei Jahrzehnte währenden Großprojekt, das in erheblichem Maß durch den Anspruch auf Vollständigkeit und Verlässlichkeit mitbestimmt wurde?

OSKAR BÄTSCHMANN: Hodlers catalogue raisonné war bereits der zweite. Beim ersten, Paul Klee gewidmeten, war ich nur im Leitungsgremium und reichte zusammen mit Hans Christoph von Tavel die Drittmittelgesuche ein. Die operative Leitung hatte Josef Helfenstein, und die Forschungsarbeiten wurden von einem Team durchgeführt. Die riesige Zahl von über 9.000 Werken zwang uns, auf Einleitungen und Kommentare zu verzichten, was vielleicht nicht notwendig gewesen wäre, wenn ich neben Professur, Dekanat und eigenen Projekten mehr Forschungszeit hätte aufbringen können. 1998 organisierten Josef und ich ein internationales Kolloquium über Klee samt Publikation, was die Mängel des catalogue raisonné etwas ausglich.

Für den Hodler-Katalog verfassten wir hingegen Kommentare zu jedem Werk und Einleitungen zu den Bänden. Das Hodler-Team hat über Jahre hinweg mit bewundernswerter Ausdauer die technischen Angaben zu jedem Werk gesammelt, die Literatur studiert und die Kommentare erarbeitet. Für die unité de doctrine sorgte vor allem Paul Müller. Im Team haben wir das Konzept der Bände, den zeitlichen Ablauf und andere grundsätzliche Fragen besprochen, wie etwa Formulierungen der Kommentare. Mit den Restauratorinnen und Restauratoren am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich und weiteren Fachleuten diskutierten wir über maltechnische Fragen und den Status der Werke (Original, Kopie, Fälschung).

ROGER FAYET: Hast du das Format des Werkverzeichnisses und die aus ihm hervorgehenden methodischen Implikationen primär als limitierend empfunden, oder brachte es dich auf neue Fragestellungen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Den Katalog mit nahezu 2.000 Einträgen zu erstellen, war Knochenarbeit. Für die Einleitungen haben wir versucht, neue Aspekte zu erarbeiten, und im vierten Band eine kritische Biografie zu entwickeln, in der wir mit den angesammelten Mystifikationen aufräumten und stattdessen Analysen von Hodlers Lebensphasen, Zielsetzungen und Widerständen erarbeiteten.

ROGER FAYET: Welche Rolle haben für dich das Zusammenarbeiten und die Auseinandersetzung mit den Ideen und Vorschlägen anderer gespielt?

OSKAR BÄTSCHMANN: Vieles wäre einem Einzelkämpfer gar nicht möglich. Am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern nahmen Pascal Griener und ich die Forschungen über Hans Holbein den Jüngeren auf, die zu verschiedenen Publikationen führten. An der Universität Bern wurde ich über die Jahre in der Recherche unterstützt von Peter J. Schneemann, Anita Haldemann, Bernadette Walter, Julia Gelshorn, Sandra Gianfreda, Andreas Rüfenacht und anderen. Zu hoffen ist, dass auch in den Geisteswissenschaften die Forschungsarbeiten wie in den Natur- und Sozialwissenschaften künftig vermehrt von Teams durchgeführt werden. Zugleich sollte die Forschungsförderung nicht ignorieren, dass große Leistungen häufig durch Einzelne erbracht wurden, die sich für Jahre einer Sache verschrieben haben.

Landschaftsmalerei: Gattungstheorie und Weltzugang

JULIA GELSHORN: Über Hodlers Werk hinaus hat dich das Thema der Landschaftsmalerei in unterschiedlichen Publikationsformaten beschäftigt. Das erste Buch, das ich selbst von dir gelesen habe, war Entfernung der Natur: Landschaftsmalerei 1750–1920, eine Studie von 1989, die von einem breiten Quellenanhang begleitet wird. Später habe ich dich mit Literaturrecherchen zur englischen Ausgabe von Carl Gustav Carus’ Nine Letters on Landscape Painting und zu einem Katalogbeitrag zu Gerhard Richters Landschaften unterstützen dürfen. Worin ist das spezifische Interesse begründet, das du der Gattung der Landschaftsmalerei entgegengebracht hast, etwa auch in Studien zu Hodler, Poussin oder Paul Cézanne?

OSKAR BÄTSCHMANN: Zunächst muss man dieses Interesse für die Landschaft vielleicht breiter einordnen, denn es bleibt ja in einer Forscherlaufbahn auch eine große Menge an Strandgut aus gescheiterten Ideen und Projekten zurück. Nur ein Beispiel: Nach der Hermeneutik wollte ich umfassend über die Bildgattungen arbeiten, aber nicht ohne einen Verlag. Doch die Wissenschaftliche Buchgesellschaft konnte sich nicht dazu entschließen, obwohl die Hermeneutik sich verkaufte wie warme Semmeln. Vielleicht kursierte aber auch bereits das große Projekt über die Bildgattungen von Thomas W. Gaehtgens. Dann kam Hans A. Lüthy vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft mit der Idee, eine Ausstellung von Hodlers Landschaften in Los Angeles, Chicago und New York zu veranstalten. Er lud Stephen Eisenman und mich ein, Essays für den Katalog zu schreiben. Damit verbunden waren Vorträge an der University of California, Los Angeles, und in New York, wo ich mit Robert Rosenblum zusammentraf. Das ist ein Beispiel dafür, dass die eigene Initiative den Anfang macht und für die Fortsetzung Glück und Gelegenheit verantwortlich sind: Fortuna und Kairos. Interessant für mich war an der Landschaft die Entdeckung von Eingriffen in eine ›natürliche‹ Ansicht durch ideale Komposition, Verbesserung durch harmonische Anordnungen, Einbringung von Schrecken durch Gewalttaten oder Gewitter und die Beobachtung von meteorologischen Phänomenen.

JULIA GELSHORN: In der Entfernung der Natur, einem Titel, der ja nicht zufällig häufig falsch zitiert wird, geht es dir um die »Erfahrung einer Distanz zur Natur«, die du sowohl in den harmonisierenden Kompositionen von idealen Landschaften wie auch in einem künstlerischen »Forschen nach dem ›Innern‹ der Natur« verortet hast. Heute interessieren sich Kunst und Kunstgeschichte neben vielen anderen Disziplinen im Kontext der ökologischen Krise wieder ganz zentral für das Verhältnis von Natur und Kultur und für das, was wir Anthropozän nennen. Wir fragen uns, ob eine Natur jenseits menschlicher Eingriffe als Agentin denkbar ist. Wie würdest du heute dein Buch über die »Entfernung der Natur« vor diesem Hintergrund erweitern oder fortschreiben wollen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Sowohl Entfernung der Natur als auch Dialektik der Malerei wurden häufig falsch zitiert – vielleicht wollte man vermeintliche Fehler des Schweizers diskret verbessern… ›Wegschaffen‹ oder ›Beseitigen‹ sind eine der drei Bedeutungen von ›Entfernung‹; die anderen beiden sind ›Distanz‹ zur Natur und ›Weggehen‹ von ihr. Ich suchte nach bildlichen und literarischen Zeugnissen für die problematischen Beziehungen zur Natur und zur Landschaft, weil ich die Bewunderung schöner Gegenden für ebenso naiv und uninteressant hielt wie das Erschauern vor Höhe und Tiefe. Doch würde ich heute versuchen, nicht um 1920 mit Hannah Höch, Klee und Fernand Léger aufzuhören, vielmehr würde ich mit aktuellen Reflexionen die Problematik bis in die Gegenwart verfolgen. Die Arbeit über Gerhard Richter war eine kleine Fortschreibung bis in die damalige Gegenwart.

Die Beziehungen zu Natur und Landschaft dürften mit der aufkommenden Industrialisierung um 1750 problematisch geworden sein, weshalb einige das Anthropozän schon in dieser Zeit ansetzen. Die Problematik hat sich seither ungemein verschärft, weshalb andere erst die Zeit nach der Jahrtausendwende als Anthropozän bezeichnen. Die Problematik wird auch vom Kunstschaffen vorgetragen.

JULIA GELSHORN: Zeitgenössische Kunst wird im Kontext der aktuellen Diskurse häufig zur Illustration herbeigezogen oder auch als genuiner Ort der Reflexion verstanden. Wie siehst du den Beitrag der Kunst zu Fragen über Ökologie und neuem Realismus? Und können wir in diesem Zusammenhang heute noch von einem Künstler und Universalgelehrten wie Carus und seinem erdgeschichtlichen Ansatz lernen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Bei Carus dachte ich wirklich, dass der ausgezeichnete Anatom und Mediziner auf dem Gebiet der Reflexion über Malerei ziemlich altbacken und als Maler nur in seinen geologischen Ansichten interessant sei. Nun hat sich im 21. Jahrhundert eine Art von Animismus wieder ausgebreitet, sowohl gegenüber der Natur als auch gegenüber der Kunst. Der unmögliche Ausdruck »Erdlebenbildkunst« von Carus meinte eine lebendige Kunst von der beseelten Natur im Gegensatz zur emotionalen und kommerziellen Ausbeutung. Viele, darunter auch Künstlerinnen und Künstler, setzen sich heute für eine solche Auffassung von Natur und Kunst ein.

JULIA GELSHORN: Wir haben es bei Carus’ Briefen über Landschaftsmalerei – einmal mehr – mit einer von dir kommentierten und ausführlich eingeleiteten Quellenedition zu tun. Welchen Stellenwert misst du der Kunsttheorie für die Betrachtung von Kunst im Speziellen und für die Wahrnehmung der Welt im Allgemeinen zu?

OSKAR BÄTSCHMANN: Wir sind geneigt, die Schriften einer Künstlerin oder eines Künstlers als privilegierte Äußerungen über das Werk zu behandeln, etwa analog zu ›Insiderwissen‹. Das hat mit dem Künstlerstatus zu tun, aber auch mit unserer Vorstellung, das Authentische (das noch in den 1960er Jahren ›Wahrheit‹ genannt wurde), müsse unter der Oberfläche oder hinter einem Schleier gesucht werden. Deshalb produziert man heute eine Vielzahl von Künstlergesprächen und bezeichnenderweise von ›Hintergrundgesprächen‹. Um 1435/36 riet Leon Battista Alberti den Künstlern, bei ihrer Arbeit alle – Freunde und Passanten – anzuhören, aber nur die sachkundigen Hinweise zu befolgen. Ein erstaunlicher Rat, auch wenn das Auswahlkriterium dabei unbestimmt bleibt.

In den sprachlichen Äußerungen zu gemalten, gegossenen, gemeißelten oder gebauten Werken, also in diesen zeitgenössischen Kommentaren, sind die Herkunft und die Bildung der Schreibenden aufschlussreich, ebenso die Nähe oder Distanz zu den Kunstschaffenden, die Nutzung von Topoi für die Beschreibung der Schaffensakte und der Wahrnehmung, die Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Künsten, ferner die Adressaten dieses Schreibens.

JULIA GELSHORN: Um noch einmal auf Gerhard Richter zurückzukommen: Bei ihm wird die ›Entfernung der Natur‹ ja in den Wiederholungen von Fotografien und in der Unschärfe markiert; Hubertus Butin hat Richters Landschaften daher als ›Kuckuckseier‹ bezeichnet, die uns ins Nest gelegt werden. Was trägt ein Künstler wie Richter für dich zu aktuellen Fragen bei, die uns am Thema Landschaft interessieren?

OSKAR BÄTSCHMANN: Für die ›Entfernung der Natur‹ ist Richter ein signifikanter Fall. Er führt uns ein Motiv vor, das uns als ›schön‹ und ›vertraut‹ rührt, und entzieht es sofort unserer Rührung. Die Unschärfe ist das eine Mittel des Entzugs, das andere ist der ikonoklastische Farbenwurf. Beides ist Entfernung von dem, was wir, von Rührung benebelt, als vertraut oder schön wahrnehmen wollten. Das geschieht auch auf subtilere Weise als Abwendung. Das Porträt der Tochter, genannt Betty, von 1991, gibt eine junge Frau wieder, von der wir den Hinterkopf sehen, nicht aber das Gesicht. Richter wiederholt und verfremdet alle Arten von Bildern, die je geschaffen wurden. Heute würde ich ihm im Ausstellungskünstler, wo er bloß als ›Star‹ figuriert, einen prominenteren Platz geben.

Ausstellungskünstler: Exponieren, Kuratieren, Performen

PETER J. SCHNEEMANN: Der Ausstellungskünstler von 1997, komplementär zu Warnkes Hofkünstler angelegt, nimmt meines Erachtens viele Diskurse heutiger Problemstellungen vorweg: Das ›Sich-Ausstellen‹ und das ›Ausgestellt-Werden‹ als Dispositive zwischen Selbstermächtigung und Gewaltausübung im Sinne von ›Exponieren‹. Die Ausstellung ist als Vermittlungsmodell von Kunst und Welt an entscheidende Grenzen gestoßen. Wie stehst du zu diesen heutigen Repolitisierungen der Ausstellung als potenziell toxisches Setting?

OSKAR BÄTSCHMANN: Die Kunstschaffenden müssen im neuen Kunstsystem unbedingt die Öffentlichkeit erreichen. Jacques-Louis David oder Édouard Manet betonten wie viele andere die Bedeutung der öffentlichen Präsentation für die Künstler. Das neue Medium war anfällig für Tricksereien: Schon 1791 enthüllte James Gillray in London die Betrügerei John Boydells. Zur Problematik, auf die du Bezug nimmst, zitiere ich eine Beurteilung vom Künstler, Kritiker und Kunsthändler Kenny Schachter von 2018: »In einem Bereich, der so rammelvoll ist mit Taschenspielertricks wie die Kunstwelt, zählt am Ende des Tages nur, dass das Publikum die Show genossen hat. Mit seinem Starauftritt bei Sotheby’s hat Banksy uns allen eine souveräne Vorstellung geboten.« Es geht hier darum, dass Banksy alle, die Auktionatoren, die Sammler, das weltweite Publikum etc. an der Nase herumgeführt hat. Die Gelegenheiten für die Millionen von Künstlerinnen und Künstler sind immens angesichts der Millionen von Ausstellungen und Performances jährlich. Allerdings empfiehlt die Historie Zurückhaltung: In den 1950er und 1960er Jahren war der Vorwurf der Betrügerei an Künstler (nicht an Künstlerinnen) an der Tagesordnung, und dies nur weil sie Blumen oder Kühe nicht realistisch genug malten. 1972 brachte Daniel Buren gegen Harald Szeemanns Equipe der documenta 5 das Argument der ›Kuratorenausstellung‹ vor, die nicht die Werke ausstelle, sondern für ihr Konzept über diese verfüge. Ich kann mir vorstellen, dass die Kuratorinnen und Kuratoren heute bei Ausstellungen nicht-europäischer Artefakte in Europa und den USA besonders darauf achten, dass sie die Objekte nicht einfach in ein Konzept einfügen, so schwierig dies auch ist.

PETER J. SCHNEEMANN: Du hast bei deinem Werdegang auch Erfahrungen im Museum gesammelt. Hat es dich je gereizt, neben der sorgfältigen Analyse der Protagonistinnen und Protagonisten von Ausstellungen selbst neue kuratorische Formate zu erproben? Ich möchte dabei darauf verweisen, dass das Kuratieren als eine Alternative zur Hermeneutik gehandelt wird.

OSKAR BÄTSCHMANN: Praktische Hermeneutik ist eine interessante Ergänzung, ich hatte kaum Gelegenheit dazu. Man bezeichnet die Gegenüberstellung von Werken ja auch als ›Befragung‹ oder als ›Diskurs‹: Giovanni Bellini befragt Andrea Mantegna, Pablo Picasso ist im Diskurs mit Eugène Delacroix und so weiter. Gegenüber solchen Arrangements bin ich ein wenig skeptisch. Die einzige meiner wenigen Ausstellungen, die in die Nähe deiner Idee kommt, war die der Neuen Wilden in Zürich 1982, in der durch eine ausgeklügelte Gegenüberstellung des Gestalters Silvio Schmed die Gemälde einander zu einer Gesamtwirkung steigerten, was das Publikum und die Künstlerinnen und Künstler überraschte und von anderen Ausstellern nachgeahmt wurde.

PETER J. SCHNEEMANN: Die Ausstellung als temporäres Event konkurriert zunehmend mit den Regelwerken des Museums als bewahrende Institution. Könnte es sein, dass wir nach einer Epoche des Sammelns und einer Epoche des Ausstellens zu einer Epoche des Performativen gelangen, in dem soziale Handlungen und Verhandlungen das ausgestellte Objekt und die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler ablösen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Die Kunstgeschichte, die Museen, der Kunsthandel, die Sammler und das Publikum hängen an den Objekten. Sie sind die Einsätze im Spiel um Geld, und dieses zieht die Aufmerksamkeit des globalen Publikums auf sich. Das lässt sich an den big players erkennen, den masters of the universe und ihren Zudienern Christie’s, Sotheby’s, Gagosian etc. Giovanni Antonio Boltraffios ruinierter Salvator, der mit Raffinesse auf die Höhe eines Leonardo gehisst wurde, ist ein Exempel dafür, dass sich sogar angesehene Kollegen in ein Betrugsspiel einspannen lassen, derweil die ganze Welt das faszinierte Publikum stellt. Wir Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker wollen uns weder über die verderbliche Macht der Milliarden im Kunsthandel noch über die trickige Preistreiberei (von der sich der seriöse Kunsthandel fernhält) und schon gar nicht über deren Folgen für öffentliche Museen, Kunstschaffende, das Kunstpublikum und unsere Mentalität Rechenschaft geben. Sind wir käuflich? Ja, wenn es die Aufmerksamkeit betrifft, nein, wenn es um das Geld geht, denn die meisten von uns sind zu wenig wichtig, um einer Versuchung ausgesetzt zu werden. Sehr aufschlussreich ist der Bericht von Patrick Radden Keefee über die Methoden eines Dealers im Dienst der big players im New Yorker vom Juli 2023.

Die Macht der big players besteht aus den Milliarden, aus der Aufmerksamkeit der Medien und dem Staunen des Publikums: 140 Millionen US-Dollar für einen großen Fußgänger in Bronze von Alberto Giacometti, eine arrangierte Sensation. Die Kunstproduzenten spielen die Rolle von Hoflieferanten und werden in den Events als exzentrische Zutat geschätzt, neben Stars und Models. Sollte es Anzeichen für eine ›Epoche des Performativen‹ geben, wie du sie nennst, also für ernsthaft Interessierte, so wahrscheinlich nur weit unterhalb der Ebene der big players und ohne die Objekte, um deren Besitz zu streiten die Milliardäre animiert werden. Aber auch unterhalb dieser big players: Wir unterschätzen den Kunsthandel und seine Auswirkungen auf die Kunstschaffenden, die Karrieren der Werke und auf die Kanones, die auch unsere Wertungen steuern.

Editionen: Geschichte für die Zukunft vorbereiten

TRISTAN WEDDIGEN: Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hast du dich auch der historisch-kritischen Herausgabe von Grundlagentexten der Kunstwissenschaft gewidmet. Dazu gehören Albertis Kunsttraktate, Benedetto Varchis Vorlesungen zum Wettstreit der Künste und zuletzt Heinrich Wölfflins Renaissance und Barock. Einerseits sind das vermutlich erhebende Momente vertiefter Beschäftigung mit Schriften von anhaltendem Interesse für unsere Disziplin, andererseits auch knochenharte Übungen in Bescheidenheit… Dennoch: Was ist der Wert von Grundlagenprojekten wie geisteswissenschaftlichen Editionen? Was bedeutet es, wenn sich eine Disziplin zunehmend mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigt?

OSKAR BÄTSCHMANN: Mein Interesse an der Kunsttheorie wurde angeregt durch Dobai, der in Zürich an seinem monumentalen Werk über englische Kunstliteratur arbeitete. Albertis De pictura wollte ich schon in den 1970 er Jahren neu übersetzen und kommentieren. An der Universität Bern interessierte sich der Latinist Christoph Schäublin für die Übersetzung der lateinischen Traktate Albertis. Für die Einleitung und den Kommentar habe ich lange in Washington, London und Paris in Bibliotheken gearbeitet, und an der Bibliotheca Hertziana in Rom verbrachte ich dafür zwei Forschungssemester. Natürlich ging es wie immer auch darum, Meinungen, Daten und Hypothesen zu überprüfen und gegebenenfalls eine andere Position zu vertreten. Es war mir zum Beispiel wichtig, Albertis neue Vermessung des Menschen und die Aufnahme seiner Proportionsstudien durch Albrecht Dürer herauszustellen, die historia neu zu diskutieren oder Albertis Künstlerrat zu beleuchten. Es sind auch im Vieldurchpflügten noch Funde möglich, zum Beispiel, dass Alberti, Leonardo und viele andere das Publikum als Rezipienten einsetzten, nicht den einzelnen Betrachter.

Ich komme auf die Kanones zurück. Wir halten viele literarische, wissenschaftliche und künstlerische Werke für erhaltenswert. Wir versuchen, diese weiter zu vermitteln, weil wir hoffen, dass die Nachfolgenden vielleicht wieder einen emotionalen und intellektuellen Zugang dazu gewinnen wollen. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte kann dazu dienen, in der heutigen Tätigkeit das kritische Bewusstsein zu schärfen. Die Kunstgeschichte hat wie andere Disziplinen unaufgeklärte Ideologien wie Nationalismus, Rassismus, Kolonialismus, Chauvinismus. Wir hoffen, dass die aufklärerische Arbeit solche Aberrationen künftig vermeiden hilft.

TRISTAN WEDDIGEN: Wenn du auf jene Werke und auch auf dein eigenes OEuvre zurückblickst: Wie kommt der Autor zu seinem Werk?

OSKAR BÄTSCHMANN: Kleine Entdeckungen können den Anstoß geben, wie Hans Heinrich Füsslis Beschreibung einer erotischen Erfahrung an den Niobiden im Garten der römischen Villa Medici. Das war die Anregung dazu, der Rezeption von Skulpturen nachzugehen. Das Interesse wurde bestärkt durch weitere Zeugnisse, etwa Beschreibungen von Johann Joachim Winckelmann oder Schilderungen der nächtlichen Museumsbesuche im Fackellicht. Ich wusste nicht, was daraus werden könnte, bevor die Anfrage für einen Aufsatz zum 18. Jahrhundert eintraf. Ich denke, dass dieser Vorgang häufig ähnlich verläuft: Interesse, Idee, Anreicherung, Motivation, Ziel. Im Fall von Alberti organisierten Kurt W. Forster und Hubert Locher an der ETH Zürich 1998 eine Tagung, und mein Vorhaben stieß auf Interesse.

TRISTAN WEDDIGEN: Ob die Schriften von Alberti, Varchi, Wölfflin oder gar die eigenen: Was hält das Interesse an ihnen über Generationen aufrecht?

OSKAR BÄTSCHMANN: Wir klammern uns an Werte, an Kanones der Kunst, der Literatur, der Kunsttheorie, um sie für uns zu bewahren und als immaterielles Vermächtnis an die Nachfolgenden weiterzugeben, von denen wir erwarten, dass sie die Werte weiter schätzen und sie als nützlich erachten im materiellen und geistigen Leben. Es ist die Hoffnung auf die weitere Pflege einer Kultur, die vielleicht auch weiterhin Antworten auf die Fragen der Zeit finden lässt.

TRISTAN WEDDIGEN: Gibt es für dich einen methodologischen Unterschied zwischen der Deutung eines Kunstwerks und der Auslegung eines wissenschaftlichen Werks?

OSKAR BÄTSCHMANN: Die Interpretation kann erst nach der Abklärung des materiellen Bestandes einsetzen, die häufig eine anspruchsvolle Aufgabe ist. Insofern ist die Ausgangsbasis (Text, Sprache, Gemälde, Bauwerk etc.) gänzlich unterschiedlich, ebenso die Vorarbeiten, die vor der kreativen Abduktion geleistet werden müssen. Gemäß den Wissenschaftstheorien, auf die ich mich für die »Anleitung zur Interpretation« bezogen habe, sind die Schritte von der kreativen Abduktion zur Verifizierung nicht nach Wissenschaften verschieden. Unterschiedlich sind aber die Methoden, zum Beispiel die der Verifizierung: Die Geisteswissenschaften, die keine Experimente anstellen können, arbeiten mit Versuch und Widerspruch der Argumentationsgemeinschaft.

TRISTAN WEDDIGEN: Auch im Vergleich zu den genannten Autoren: Was sind für dich die Möglichkeiten, Kunst wissenschaftlich zu behandeln? Und wie lässt sich in diesen Texten das Verhältnis der Wissenschaft zur Kunst charakterisieren?

OSKAR BÄTSCHMANN: Lange vor der Etablierung der Kunstgeschichte an den Universitäten wurde über Kunst gesprochen und geschrieben (Vergil, Plinius der Ältere, Philostrat etc.), es gab Erzählungen (des Lebens), Beschreibungen der Werke, Sammlungen der Ideen, Theorien über das künstlerische Vorgehen, kritische Reflexionen über Ideen, Unterscheidung der Stile und so weiter. Zum universitären Aufstieg hängte sich die Kunstgeschichte an die geschichtlichen und literarischen Disziplinen an. Für die Auszeichnung als Wissenschaft fehlten ihr wie allen geisteswissenschaftlichen Fächern eine sichere Grundlage und überprüfbare Experimente. Wölfflin zum Beispiel wollte den Mangel beheben durch zehn Kriterien, die einen Stilwandel für alle einsehbar machen würden. Die allgemeine Übereinstimmung sollte die Kontrolle der Hypothesen durch Experimente ersetzen. Wissenschaftspolitisch war die Etablierung der Kunstgeschichte unter den Wissenschaften klug, da überlebenswichtig. Aber es gelang noch lange nicht, ein wissenschaftliches Vorgehen zu definieren, das heißt die Beschreibung des Sachverhalts, die Entwicklung von Hypothesen, die Verifizierung. Wölfflin war 1888 mit Renaissance und Barock nahe an einem solchen wissenschaftlichen Vorgehen.

TRISTAN WEDDIGEN: Was lernen wir von der Kunstwissenschaft und Ästhetik um 1900?

OSKAR BÄTSCHMANN: Für Wölfflin und seine Generation war die Etablierung der Kunstgeschichte als eigenständige universitäre Wissenschaft ein dringliches Anliegen. In Verbindung mit der philosophischen Ästhetik hätte dies kaum gelingen können, eine Annäherung an weniger von Subjektivität kontaminierte Disziplinen versprach mehr Erfolg. Am Anfang waren für Wölfflin eher Psychologie und Naturwissenschaften als die Ästhetik leitend, wie an der Beschäftigung mit der Kunstwahrnehmung und an der Übernahme der Entwicklungsvorstellung zu erkennen ist. Doch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts suchten Max Dessoir und andere die Verbindung von Ästhetik und Kunstwissenschaft, woraus Publikationen, Kongresse und eine florierende Zeitschrift entstanden. Wie andere versuchte Wölfflin, für die Kunstgeschichte eine begriffliche Grundlage zu erarbeiten, die es gestatten sollte, einen geschichtlichen Wandel präzise zu erfassen und das wissenschaftliche Vorgehen zweifelsfrei darzulegen. Zudem konzentrierte sich Wölfflin auf die Kunst und auf Form und Stil. In seinen Hauptwerken schloss er die Beschäftigung mit den Urhebern der Werke oder ihrem Kontext aus. In diesem Absehen von allem anderen außer Form und Stil liegt Wölfflins großer Erfolg in der Kunstgeschichte und beim Kunstpublikum begründet. Heute allerdings erscheint uns der Verzicht auf alles, was den Kontext ausmacht – wie Auftraggeberinnen und Auftraggeber, Funktionen, Itinerare und Rezeptionen – als großer Nachteil. Aber man muss auch sehen, dass Wölfflin ein überaus aufmerksamer Beobachter der Kunstpräsentationen, der Fotografie von Skulpturen und der Beziehung von Künstlern und Publikum war und einen großen Beitrag zum Kunstverständnis des Publikums leistete.

Das Kunstpublikum: Der Blick zurück

SANDRA GIANFREDA: Im Prolog zu The Art Public: A Short History, deinem jüngsten Buch, erschienen 2023 zunächst auf Englisch und bald auch auf Deutsch erhältlich, schreibst du, dass die Kunstgeschichte die Analyse des Publikums gerne der Kunstsoziologie überlässt, und du fragst rhetorisch, ob die Kunstgeschichte gegenüber den soziologischen Untersuchungen und statistischen Erhebungen eigene Fragestellungen zum Kunstpublikum ausarbeiten soll und kann. Für die Studie stützt du dich auf literarische und bildliche Darstellungen des Kunstpublikums. Sie ist daher als Untersuchung zur Rezeptionsgeschichte des Publikums zu verstehen, denn diese Quellen stellen sozusagen gefilterte Blicke der damaligen Zeitgenossen dar. Insofern ist der Untersuchungsgegenstand der Kunstgeschichte ein anderer als derjenige der Soziologie. Würdest du dem zustimmen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Die Frage war, ob sie soll, und die Frage war auch, ob ich es soll und kann. Die Untersuchungen von Pierre Bourdieu etwa sind so magistral, dass ich mich wirklich fragen musste, ob und wie ich daneben eine kunstgeschichtliche Fragestellung entwickeln könnte. Wie immer ging es in kleinen Schritten: Im Juni 2005, kurz nach der neuen Präsentation von Leonardos Mona Lisa im Musée du Louvre, fiel mir das Verhalten der Masse auf. Ich machte keine soziologische Befragung: Woher kommen Sie, welche Bildung besitzen Sie, wie oft gehen Sie ins Museum, gefällt Ihnen der Leonardo oder der Tizian besser oder dergleichen. Ich beobachtete, dass die Besucherinnen und Besucher mit digitalen Kameras hantierten, und ich habe ihr Verhalten in Beziehung gesetzt zur Mona Lisa, die neu als Altarbild inszeniert war. Daraus entstand 2006 mein kleiner Beitrag für Wolfgang Kemp: »Die Bilder macht das Publikum.« Der zweite Test kam mit deiner Ausstellung Gefeiert und verspottet im Kunsthaus Zürich, für dessen Katalog ich einen Beitrag über das Publikum in den Salons schrieb. Der dritte war der Aufsatz »Karikaturen des Publikums« für Matthias Haldemann in Zug. Die Sammlung von bildlichen und literarischen Dokumenten wuchs an, sodass ich einen größeren Versuch wagte. Das Hauptproblem war: Wie kann man so etwas wie eine Geschichte eines Rezipienten schreiben, der gar kein Subjekt ist, sich nicht äußert und kaum sichtbare Reaktionen wie Zorn oder Freude zeigt?

SANDRA GIANFREDA: In deiner wegweisenden Studie Ausstellungskünstler behandelst du den Wandel der Künstlerrolle innerhalb des tradierten Kunstsystems seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bei dem natürlich dem Kunstpublikum eine zentrale Rolle zukommt. Hattest du schon damals die Idee, den Kunstrezipienten eine separate Studie zu widmen oder kam das später und wenn ja, was war der Auslöser dafür?

OSKAR BÄTSCHMANN: In der Analyse der Wandlung des Kunstsystems seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geht es darum, dass die Kunstschaffenden sich in den Ausstellungen direkt an die Interessenten wenden, nicht mehr oder nicht zuerst an die Auftraggeber. Mich interessierten die Folgen dieses Wandels für die Produzenten, die Kunst und das Kunstsystem. Das Kunstpublikum stand nicht im Vordergrund. Wie alle habe ich mich mit der Rezeption in der Art befasst, die Wolfgang Kemp intensiviert hat. Zu spät habe ich die große Unterlassung der Rezeptionsforschung bemerkt: Sie beachtet immer nur den ›Betrachter‹, kaum je das Publikum. Auch ich übrigens, denn meine Arbeiten über Pygmalion und Alberti etwa handeln vom spectator. Erst spät erkannte ich meinen blinden Fleck, denn Alberti handelt in De pictura unübersehbar vom Publikum, von der Menge, der multitudine, wie übrigens auch Leonardo und nach vielen anderen auch Gotthold Ephraim Lessing 1766. Niemand hat das je bemerkt, und erst im Kunstpublikum ist es korrigiert, und die Konsequenzen sind aufgezeigt.

SANDRA GIANFREDA: Künstler und Rezipient sind nur zwei Akteure innerhalb des Kunstsystems. Dazu gehören auch der Kunstmarkt und die Institutionen – die du zu den Distributoren zählst – sowie die Kunstkritik. Du hättest also auch über einen anderen dieser Akteure ein separates Buch schreiben können. Weshalb hast du dich für das Publikum entschieden?

OSKAR BÄTSCHMANN: Das ist ganz simpel: Es gab kein Buch aus kunsthistorischer Perspektive über das Kunstpublikum, allenfalls Arbeiten zu einzelnen Zeitabschnitten oder Orten, also bin ich jetzt der Erste, der eine Geschichte des Kunstpublikums versuchte (Irrtum vorbehalten). Mehr Untersuchungen zum Kunstmarkt, sozusagen von der Antike bis heute, wären nötig. Ich hatte eine Lizentiandin, die eine sehr gute Arbeit über Bernard Berenson und Joseph Duveen vorgelegt hat. Aber ich denke, man müsste Insider sein oder ein Investigativjournalist wie Patrick Radden Keefe, um erfolgreich in die diskreten Praktiken des Kunsthandels hineinleuchten zu können.

SANDRA GIANFREDA: Ein wichtiger Aspekt, den du in The Art Public herausarbeitest, ist das Narrativ der Publikumsverhöhnung. Weshalb nimmt gerade die Satire bei der Rezeption des Publikums eine so dominante Rolle ein? Hätte es noch andere Aspekte gegeben, die du auch hättest vertiefen können?

OSKAR BÄTSCHMANN: Ich habe mehr Dokumente über die Verhöhnung des Publikums von Jonathan Richardson und George Cruikshank bis Honoré Daumier und anderen gefunden als über dessen Würdigung. Das zeigt, dass die Künstler (weniger die Künstlerinnen) die neue Konfrontation mit dem Publikum nicht bewältigen konnten. Das Ergebnis war Feindschaft aus Verunsicherung. Das Publikum machte Angst, besonders durch die Verbindung mit der Kritik, die häufig in seinem Namen sprach. Zugleich wurde es von misstrauischen Kunstschaffenden und Sachverständigen als Parvenu betrachtet, der ohne Bildung und Erfahrung ins Kunstsystem eindringt und Kompetenz beansprucht.

SANDRA GIANFREDA: In deiner kurzen Geschichte des Kunstpublikums wird deutlich, wie sich die Rolle des Kunstrezipienten über die Jahrhunderte gewandelt hat: vom passiven Konsumenten zum aktiven Mitgestalter, vom Experten zum sich selbst ermächtigenden Laien. Das Stichwort Partizipation ist heute in aller Munde – in der Gegenwartskunst gibt es mindestens seit den 1960er Jahren eine Reihe von Werken, die nur durch die Beteiligung des Publikums vollendet sind, etwa Performancekunst von Yoko Ono, San Keller, Tino Sehgal oder Marina Abramović sowie Installationen von Erwin Wurm, Monica Bonvicini oder Alicia Framis. Der Rezipient wird zum Co-Produzenten. War das eine absehbare Folge innerhalb des Rollenwandels, den du untersucht hast?

OSKAR BÄTSCHMANN: Das Publikum war nicht immer in die Passivität zurückgedrängt. Plinius der Ältere, Alberti, Leonardo und andere gestanden dem Publikum Mitsprache zu. Für den Ausstellungskünstler war der direkte Kontakt zum Publikum angelegt, doch an dessen Stelle antwortete die Kritik. Aktivitäten des Kunstpublikums wurden durch Provokationen herausgefordert, wie etwa durch Gustave Courbet, die Futuristen und andere. Das Theaterpublikum war in den Äußerungen des Missfallens spontaner und direkter als das Kunstpublikum. Es gibt eine niederschmetternde Beschreibung des unbefriedigten Publikums einer Ausstellung in Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst von 1912. Um 1960 wurde das Publikum zur Beteiligung an künstlerischen Aktionen aufgefordert; Bazon Brock und Joseph Beuys suchten es zu schulen. Künstlerinnen und Künstler traten als Schauspieler oder Zauberer auf und brachten das Publikum zum Staunen mit Kreativität und Magie. In ihrer Performance im MoMA New York nahm Marina Abramović die Rolle einer Hohepriesterin ein, die Einzelne zu einer wortlosen Séance an ihren Tisch kommen ließ, während das übrige Publikum wie üblich in Performances stumm an den Wänden entlang stand.

JULIA GELSHORN: Und welches Publikum kann und muss die Kunstgeschichte heute erreichen?

OSKAR BÄTSCHMANN: Gegenüber der Zeit vor und nach der vorletzten Jahrhundertwende gibt es das Publikum der Kunstgeschichte praktisch nicht mehr. Wölfflin wandte sich an die ›gebildeten Stände‹, wie man sie damals nannte, für sie schrieb er, und sie kauften seine Bücher. Heute versuchen die Medien, das Interesse ihres Publikums an Sendungen zur Kunst zu simulieren oder aufzustacheln, etwa mit Beiträgen der Art ›Giganten der Kunst‹, wofür zum Beispiel die Anekdoten tragischer Heldengenies von Michelangelo bis Vincent van Gogh zum wiederholten Mal zu Sensationen aufbereitet werden. Solche und ähnliche Marktkonzepte können wir von der Kunstgeschichte aus nicht ändern, aber wir können versuchen, seriöse Bearbeitungen und Informationen anzubieten, in den Medien und in Institutionen, die ohne Barrieren zugänglich sind. Die Dokumentation von Henrike Sandner Raffael: Ein sterblicher Gott für Arte 2020 bot weitgehend seriöse Informationen und Reflexionen unter einem Titel, der das Publikum ohne Not durch Anbiederung unterschätzte. Ob den Printmedien mehr oder weniger gelehrte Beiträge noch willkommen sind, muss bezweifelt werden, denn nur vereinzelte größere Tages- und Wochenzeitungen wahren noch eine Tradition des Feuilletons, das mehr bietet als Hinweise auf Ausstellungen. Der wissenschaftliche Diskurs bleibt so innerhalb des Faches. Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker können das Publikum mit Buchpublikationen nur in Ausnahmefällen erreichen. Eine größere Chance, eine gewisse Öffentlichkeit zu erreichen, haben Beiträge für Kataloge von Ausstellungen, die zu großen Attraktionen werden können. Das Schwinden des kunsthistorischen Publikums ist nicht zu unterschätzen. Welche Auswirkungen die Reduktion auf einen bloß innerfachlichen Diskurs auf die Disziplin hat, ließe sich vielleicht an bereits betroffenen Fällen untersuchen. In staatlich finanzierten Universitäten kann ein solches Fach politisch angreifbar werden, wenn zum Beispiel die Parlamente Sparmaßnahmen beschließen müssen.

TRISTAN WEDDIGEN: Und wo siehst du aktuelle oder künftige Fragen der Kunstgeschichte?

OSKAR BÄTSCHMANN: Die einst dringliche Auslegung von einzelnen Werken und Werkgruppen ist mehr oder weniger geleistet, und es geht heute meist noch um Mikrokorrekturen. Materielle Desiderate, die sich in einzelnen Regionen einstellen, kann ich hier nicht anführen. Allgemein aktuell sind Untersuchungen, als was Artefakte aufgefasst wurden, welche Funktionen sie in zivilen, politischen und religiösen Gesellschaften hatten, welche Wirkungen ihnen zugeschrieben wurden und wie wir heute damit umgehen. Dazu ein Beispiel: Die Darstellung der Madonna mit Kind in Halbfigur gilt als ›Andachtsbild‹, das von Gläubigen verehrt wird. Ihre Funktion aber ist der Schutz der Gläubigen oder der Stadt, und so fassen wir sie als Palladium auf, dessen Verehrung alle Verbindungen zu Magie, Aberglauben und Zauber öffnet. Durch Verehrung, Anbetung oder Berührung sollen die Kräfte solcher Objekte aktiviert werden. Das lässt sich in Venedigs Plätzen an den Hausfassaden mit den Madonnenreliefs ablesen. Am Ende dieses Vorgangs von Projektion, Erwartung, Suggestion und Wirkung zeichnen wir die Objekte mit der Metapher ›Bildermacht‹ aus. Diese Art der Umdrehung, vom Objekt aus zu sprechen, ihm das Verdienst oder die Schuld zu geben, ohne unseren Anteil zu beachten, betreiben wir auch im alltäglichen Sprachgebrauch: Wir sagen »Der Krieg brach aus«, statt den Übeltäter zu nennen: »Der Diktator Y überfiel mit Panzern und Flugzeugen das Land X.«

Wie alle Disziplinen haben wir die kritische Prüfung unserer Begriffe, unserer Sprache und Tätigkeit zur Daueraufgabe. Um nur ein signifikantes Beispiel anzuführen: Nach der Jahrtausendwende ließen sich viele von der Floskel der ›Selbstreflexivität‹ der Bilder anstecken, obwohl damit lediglich gemeint sein konnte, dass die Malerinnen und Maler sich beim Malen etwas gedacht hätten. (Einen witzigen Anfang zu einer Begriffskritik machte 2007 das Antilexikon von Z bis A in den kritischen berichten.) Von großem Nachteil für das Fach ist das fehlende Instrumentarium für die exakte Beschreibung und Bestimmung historischer und sozialer Vorgänge. Da wir nicht wissen, wie solche Zusammenhänge und Kausalitäten zu erkennen sind, behelfen wir uns heute immer noch mit einer astrologischen Metapher: ›Einfluss‹. Wir kommen der Aufgabe, unsere Sprache und unsere Begriffe zu kritisieren, zu selten nach.

About the authors

Roger Fayet

ROGER FAYET ist Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft SIK-ISEA und Titular-professor an der Universität Zürich. Gemeinsam mit Tabea Schindler leitete er das SNF-Projekt Akteure und Akteurinnen des Kunsthandels in der Schweiz. Seine Forschung befasst sich unter anderem mit der Ästhetik der Emotionen, mit der Geschichte der Kunstwissenschaft und mit museumstheoretischen Fragen.

Julia Gelshorn

JULIA GELSHORN ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Universität Fribourg, Schweiz. Sie leitet seit 2023 das SNF-Projekt Real Abstractions: Reconsidering Realism’s Role for the Present. Schwerpunkte ihrer Forschung betreffen Strategien der Aneignung und Wiederholung in der modernen und zeitgenössischen Kunst, neue Realismen, Künstlerschriften und Interviews sowie Theorien und Figurationen der Grazie in der französischen Kunst des 18. Jahrhundert.

Sandra Gianfreda

SANDRA GIANFREDA ist seit 2015 Kuratorin am Kunsthaus Zürich. Davor arbeitete sie an der Universität Bern, an den Kunstmuseen in Basel und Winterthur sowie am Museum Folkwang in Essen. Sie hat Publikationen und Ausstellungen zum Impressionismus, zur Klassischen Moderne und zur amerikanischen, deutschen und italienischen Kunst der Nachkriegszeit verantwortet. Ihre Interessenschwerpunkte liegen in der Rezeptionsgeschichte und in transkulturellen Phänomenen der Kunstgeschichte.

Hubert Locher

HUBERT LOCHER ist seit 2008 Direktor des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg und Professor für Geschichte und Theorie der Bildmedien am Kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte betreffen die Wissenschafts- und Methodengeschichte der Kunstgeschichte, die Kunsttheorie, die Geschichte der Bildmedien einschließlich der digitalen Formate, insbesondere aber der Fotografie als dokumentarisches und künstlerisches Medium.

Peter J. Schneemann

PETER J. SCHNEEMANN ist seit 2001 Direktor der Abteilung Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart an der Universität Bern und seit Sommer 2023 Dekan der Philosophisch-historischen Fakultät. Er leitet aktuell die Forschungsprojekte Mediating the Ecological Imperative und Öffentlichkeiten der Kunst. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen methodologische Fragestellungen im Umgang mit zeitgenössischer Kunst, Perspektiven der Ökologie, die Ausbildung und Identitätsbildung von Künstler:innen, Mythenbildung des Abstrakten Expressionismus und kulturpolitische Diskurse seit dem 18. Jahrhundert.

Tristan Weddigen

TRISTAN WEDDIGEN ist seit 2017 Direktor an der Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom. Schwerpunkte seiner dortigen Abteilung liegen in der globalen Vernetzung italienischer Kunst von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, in Fragen der Materialität und Medialität, in der Wissenschaftsgeschichte des Faches und in der digitalen Kunstwissenschaft.

Oskar Bätschmann

OSKAR BÄTSCHMAN lehrte an Universitäten in Deutschland, Frankreich und bis zur Emeritierung 2009 an der Universität Bern (Kunstgeschichte der Neuzeit und der Moderne). Zu den größeren Publikationen zählen: Kunstgeschichtliche Hermeneutik (1984), Nicolas Poussin (1991), Hans Holbein d. J. (1997), Ausstellungskünstler (1997), Leon Battista Alberti (2000), Ferdinand Hodler (2008–2018), Giovanni Bellini (2008) und Geschichte des Kunstpublikums (2023).

Published Online: 2023-11-22
Published in Print: 2023-12-16

© 2023 Roger Fayet, Julia Gelshorn, Sandra Gianfreda, Hubert Locher, Peter J. Schneemann und Tristan Weddigen, Oskar Bätschmann, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Downloaded on 12.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2023-4006/html
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