Startseite Sozialwissenschaften David Seibt, The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry. London/New York: Routledge 2023, 274 S., gb., 175,50 €
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David Seibt, The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry. London/New York: Routledge 2023, 274 S., gb., 175,50 €

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Veröffentlicht/Copyright: 29. Juli 2025
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David Seibt, The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry. London/New York: Routledge 2023, 274 S., gb., 175,50 €


In der Reihe „Routledge Studies in Science, Technology and Society“ hat David Seibt mit dem 2023 erschienenen Band „The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry“ eine Studie an der Schnittstelle von Science and Technology Studies (STS) sowie Technik-, Innovations- und Organisationssoziologie vorgelegt, die in paradigmatischer Weise das Ineinandergreifen und die Wechselwirkungen von technischen und sozialen Wandlungsprozessen in einem industriellen Feld empirisch beleuchtet und theoretisch reflektiert. Das Buch basiert – das ist ein kleiner Wermutstropfen – auf Seibts bereits 2020 eingereichter Dissertation, die am inzwischen nicht mehr existierenden Munich Center for Technology in Society (MCTS) entstanden ist, so dass die gegenstandsbezogenen Einsichten zum Zeitpunkt dieser Rezension wohl nicht mehr dem aktuellen Stand der Entwicklungen entsprechen dürften. Nichtsdestominder bleibt der (durch das Verlagshaus Routledge auch in der Taschenbuchausgabe überaus hochpreisig angebotene) Band als ein mustergültiges Beispiel empirisch fundierter Theoriebildung zu empfehlen.

In empirischer Hinsicht fokussiert die Dissertation auf die Veränderungsdynamiken, die in der Prothesenindustrie in Deutschland, den USA, Kanada und Haiti durch die Einführung von 3D-Druckverfahren und digitalen Infrastrukturen angestoßen worden sind, sowie auf die Frage, wie sich dadurch die Prozesse des Designs, der Herstellung, des Vertriebs und der Nutzung von Prothesen (u. a. Körperersatzstücke wie Bein-, Arm- oder Handprothesen) wandeln und inwiefern sich dabei neue Rückkoppelungsdynamiken zwischen industriellen Anbietern und Prothesennutzenden herausbilden. Diese Verschiebungen untersucht Seibt aus der „action net“-Perspektive (Czarniawska, 2004), die auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour, 2005) zurückgeht, aber deren begriffliche Einheiten konsequent dekonstruiert:

A standard analysis begins with ‘actors’ or ‘organizations’; an action net approach permits us to notice that these are the products rather than the sources of the organizing—taking place within, enabled by and constitutive of an action net. Identities are produced by and in an action net, not vice versa. (Czarniawska, 2004, S. 780)

Im Mittelpunkt der Analyse stehen im Unterschied zu klassischen STS-Ansätzen nicht Akteure oder Strukturen, sondern, wie Seibt in Kapitel 2 herausarbeitet und gegen Ende des Bandes noch einmal zusammenfasst, die Fragen, „how changing patterns of activity may give rise to new actorial identities or roles“ und „how using is related to changing patterns of designing, producing, distributing, and so on“ (S. 213–214, Hervorhebung im Original).

Eine solche prozessorientierte Perspektive, die ineinander verschränkte Handlungsverläufe über Zeit und Raum zu rekonstruieren sucht, geht mit einer Reihe an Herausforderungen in der empirischen Untersuchung einher, denen Seibt mit einer Kombination multipler Erhebungsmethoden begegnet, darunter Dokumenten- und Literaturanalysen, ethnographische Feldbeobachtungen an mehreren Standorten sowie 38 Kurz- und 42 Experteninterviews mit divergenten Akteuren aus dem Feld (Kapitel 3). Diese Triangulation ermöglichte es dem Autor, eine beeindruckende Fülle an empirischem Material zu heben, das er in den Kapiteln 4, 5 und 6 einer systematischen Analyse entlang der produktbiographischen Dimensionen des Designs und der Produktion, der Distribution und der Nutzung unterzieht.

Gegenstand der durchweg spannend zu lesenden und reich bebilderten Fallstudie ist die Prothesenindustrie bzw. Orthopädietechnik, die durch eine überschaubare Anzahl industrieller Hersteller geprägt war und nach wie vor ist, welche standardisierte Komponenten entwickeln und vertreiben, die danach von Sanitätshäusern an die Bedürfnisse von Endnutzenden angepasst werden. Da es sich um Medizinprodukte handelt, unterliegen diese Prozesse einer Vielzahl formalisierter Regeln und richten sich zudem an eingespielten Normen und Erwartungen aus, die u. a. von Krankenkassen und Berufsverbänden überwacht werden. Diese über viele Jahrzehnte stabile Ordnung des Felds wird seit ca. 15 Jahren durch die Digitalisierung im Allgemeinen sowie die Einführung von 3D-Druckverfahren im Besonderen (und damit verbundene Community-Projekte) herausgefordert, die – wie auf anderen Feldern der digitalen Transformation – eine dezentrale Produktion, eine stärkere Personalisierung der Produkte und neue Partizipationsmöglichkeiten für Endnutzende an der Produktgestaltung versprechen. Seibt interessiert in seiner Dissertation weniger, ob und inwieweit das Feld der Orthopädietechnik durch diese Dynamiken disruptive Veränderung erfährt, sondern wie sich die industrielle Konstruktion von Nutzeridentitäten mit der Indienstnahme digitaler Technologien wandelt und welche neuen Rückkoppelungsmuster zwischen den Aktivitäten der Herstellung, Distribution und Nutzung von Prothesenprodukten entstehen:

  1. Neben die Massenproduktion standardisierter Produkte, die auf aggregierten Nutzungs- und Nutzervorstellungen basiert, und die lokale handwerkliche Herstellung kundenspezifischer Spezialanfertigungen ist zum einen ein neuer plattformbasierter Produktionsmodus der „mass customization“ (S. 127) getreten, der auf Produktvorlagen gründet, deren Parameter individuell angepasst werden können. Zum anderen sind an den Rändern des Feldes in Open-Source-Communities erste Formen der „scalable custom production“ (S. 128) entstanden, also Prothesenanfertigungen für spezifische Nutzende, deren Designs danach auf ähnliche Fälle übertragen werden können (Kapitel 4).

  2. In der Distribution hat sich neben globalen Vertriebsnetzwerken um zentrale Produktionsstätten und der handwerklichen Produktion ein neuer Modus des dezentralisierten Produktdesigns und der polyzentrischen Produktion via 3D-Druck herausgebildet. Allerdings betont Seibt (S. 172), dass mit dieser Form der Dezentralisierung nicht zwingend ein Bedeutungsverlust dominanter Unternehmen, eine größere Nähe von Produktdesign und Nutzung oder andere integrative Effekte verbunden sind: „Even in the community-based open-source model, which emerged in explicit opposition to the dominant order, 3D printing did not necessarily involve the co-location of prothesis production and use“ (Kapitel 5).

  3. In der Reflexion von Nutzungserfahrungen schließlich sind zu den klassischen Laborstudien vor der Einführung von Produktinnovationen neue Formen des User-Feedbacks zu bereits vertriebenen Produkten getreten, die Seibt als „extension of industrial user construction into the wild“ (S. 213) bezeichnet. Häufig werden solche Produkte als Beta-Testangebote markiert, um ihre unabgeschlossene Entwicklung herauszustellen und den Anbieter rechtlich zu entlasten (Kapitel 6) – eine Praxis, die u. a. im Softwarebereich bereits seit 20 Jahren ubiquitär angewendet wird.

Zusammengenommen zeigt sich, dass die Prozesse des Produktdesigns, der Distribution und der Produktnutzung mit der fortschreitenden digitalen Transformation auch auf dem Feld der Prothesentechnik näher zusammengerückt sind und damit neue Möglichkeitsräume, aber auch neue Herausforderungen und Risiken einhergehen. So weist Seibt im letzten Absatz seines gegenstandsbezogenen Teils auf die Tendenz hin, dass Anbieter ihre Testaktivitäten zunehmend aus dem Labor in den Alltag der Produktnutzenden verlagern, was zu der Frage führe, „how we want the contingency of our lives to be taken into account and what kind of ‚bugs‘ we, as users, want to stumble upon in the process“ (S. 215). Das bringt uns zu Kapitel 7, in dem der Autor aus seinen empirischen Einsichten theoretische Implikationen für das Verhältnis von Industrie und Nutzenden in der digitalisierten Gesellschaft insgesamt ableitet.

Neben den „industrial mode“ und den „craft mode“ treten Seibt zufolge zwei „digital modes of user construction“ (S. 226), die sich aus dem Zusammenspiel existenter institutioneller und infrastruktureller Ordnungsstrukturen im Feld und den neuartigen Vermittlungs- und Übersetzungskapazitäten digitaler Technologien ergeben. Das ist zum einen der „platform mode of user construction“, der sich kennzeichnet durch „action nets in which formal organizations utilize digital inscription and production devices to link themselves to a wide range of external activities, while retaining a high degree of external control“ (S. 228). Und das ist zum anderen der „community mode of user construction“, in dem digitale Technologien die Entwurfs-, Produktions-, Distributions- und Nutzungsaktivitäten in dezentraler Weise verknüpfen, wodurch die Einfluss- und Kontrollpositionen industriezentraler Organisationen und Unternehmen eine Reduktion erfahren (S. 230).

Darauf aufbauend entwickelt der Autor eine übergreifende Typologie der „modes of user construction“ über alle produktbiographischen Phasen hinweg, die in der Diagnose mündet, dass neue Nutzerrollen durch eingespielte Organisationsformen in einem Feld, die Potenziale neuer Technologien sowie feldspezifische Adaptions- und Nutzungsdynamiken geprägt werden. „Yet“, so führt Seibt aus, „the trouble with predicting the future of use is that, once constructed, users quite literally play a role. [...] industries may construct their users, but the latter will ever remain a source of trouble, innovation, and serendipity” (S. 235). Und das ist zweifellos eine Einsicht, die sich unmittelbar auch auf andere vieldiskutierte Felder der digitalen Transformation – wie derzeit „künstliche Intelligenz“ – übertragen lässt, deren Rekonfiguration sich ohne eine umfassende Kontextualisierung der Nutzungsdynamiken in divergierenden sozialen Zusammenhängen und eine Rekonstruktion der Rückkoppelungen zwischen sämtlichen Prozessen der Produktentwicklung, -distribution und -nutzung im Zeitverlauf nicht analysieren und verstehen lässt (Schrape, 2025).

Diese generalisierenden und theoretisierenden Überlegungen im Schlusskapitel heben Seibts Dissertation von der Flut empirischer Bedarfsforschung ab und machen den Band zu einem weit über den adressierten Gegenstandsbereich hinaus anregenden Beispiel empirisch fundierter Theoriebildung, welches in seinen Forschungserträgen zentrale Grundeinsichten der Techniksoziologie unterstreicht und vielfältige Anknüpfungspunkte zu anderweitigen Feldern soziotechnischen Wandels bietet, gerade auch weil sich in den vollzogenen empirischen wie theoretischen Arbeiten die analytischen Potenziale und Grenzen der gewählten „action net“-Perspektive deutlich abzeichnen.

Literatur

Czarniawska, B. (2004). On Time, Space, and Action Nets. Organization, 11(6), 773–791.10.1177/1350508404047251Suche in Google Scholar

Latour, B. (2005). Reassembling The Social. Oxford University Press.10.1093/oso/9780199256044.001.0001Suche in Google Scholar

Schrape, J.-F. (2025). Artificial Intelligence and Social Action. Research Contributions to Organizational Sociology and Innovation Studies, SOI Discussion Paper 2025–03.10.2139/ssrn.5166382Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-07-29
Erschienen im Druck: 2025-08-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Literature Review
  5. Diagnoses of the present: Current sociological research on a controversial genre of sociology
  6. Gebietskartierung
  7. Das antidemokratische Denken der extremen Rechten heute. Eine Kartierung aktueller Veröffentlichungen
  8. Essay
  9. ‚Die Stadt‘ erforschen. Zum Vorschlag einer integrativen Betrachtung der Stadt
  10. Themenessay
  11. Perspektiven zur (Neu-)Bestimmung soziodigitaler Autonomie und Privatheit
  12. Doppelbesprechung
  13. „Alles noch in Ordnung da draußen? Alle noch bei der Stange?“ Neue Forschungen zum sozialen Zusammenhalt
  14. Einzelbesprechung Algorithmen
  15. Juliane Jarke / Bianca Prietl / Simon Egbert / Yana Boeva / Hendrik Heuer / Maike Arnold (Eds.), Algorithmic Regimes: Methods, Interactions, and Politics. Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 345 S., gb., 153,79 €
  16. Einzelbesprechung Digitalisierung in der Pflege
  17. Karsten Weber / Sonja Haug / Norina Lauer / Christa Mohr / Andrea Pfingsten / Georgios Raptis / Gudrun Bahr (Hrsg.), Digitale Technik für ambulante Pflege und Therapie III: Nutzung, Akzeptanz, Wirkung und Lebensqualität. Bielefeld: transcript 2024, 328 S., kt., 40,00 €
  18. Einzelbesprechung Sozialphilosophie
  19. Johannes Röß, Zwischen Freiheit und Entfremdung: Eine Sozialphilosophie des Geldes nach Georg Simmel. Frankfurt am Main: Campus 2023, 356 S., br., 40,00 €
  20. Einzelbesprechung Techniksoziologie
  21. David Seibt, The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry. London/New York: Routledge 2023, 274 S., gb., 175,50 €
  22. Einzelbesprechung Transnationalismus
  23. Emanuel Deutschmann, Mapping the Transnational World: How We Move and Communicate across Borders, and Why It Matters. Princeton/Woodstock: Princeton University Press 2021, 272 S., kt., 31,50 €
  24. Einzelbesprechung Umwelt und Arbeit
  25. Simon Schaupp, Stoffwechselpolitik: Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp 2024, 422 S., br., 24,00 €
  26. Einzelbesprechung Wissenssoziologie
  27. Olaf Rahmstorf, Wikipedia: Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie. Bielefeld: transcript 2023, 416 S., kt., 38,00 €
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2025
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 7.12.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2025/html?lang=de
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