‚Die Stadt‘ erforschen. Zum Vorschlag einer integrativen Betrachtung der Stadt
Rezensierte Publikation:
Ignacio Farías / Martina Löw / Thomas Schmidt-Lux / Silke Steets, Kultursoziologische Stadtforschung: Grundlagen, Analysen, Perspektiven. Frankfurt am Main: Campus 2023, 240 S., br., 28,00 €
Das vorliegende Buch ist Programm und Einführung zugleich. Es ist die Einführung und Einleitung in die Reihe „Kultursoziologische Stadtforschung“, deren erster Band es ist. Und es formuliert das Programm einer kultursoziologischen Stadtforschung und ist damit, wie weiter unten zu diskutieren sein wird, auch ein Beitrag zu einer Kultursoziologie – oder möglicherweise selbst eine Kultursoziologie? Damit leistet es einen Beitrag zur laufenden Frage in der deutschsprachigen Forschungslandschaft, wie eine Stadtforschung, die oft interdisziplinär angelegt und ausgerichtet ist, aber noch öfter von Personen und an Institutionen mit institutioneller Ausrichtung durchgeführt wird, aussehen kann. Die vier Autor:innen beschäftigen sich allesamt seit Jahren auf unterschiedliche Weise mit Themen und Phänomenen, die sowohl der Stadtsoziologie als auch der weiter gefassten inter- und transdisziplinären Stadtforschung zugerechnet werden können. Allesamt haben sie in der Vergangenheit sowohl empirische als auch theoretisch-konzeptionelle Beiträge für die Debatte rund um gesellschaftliche und städtische Entwicklungen geliefert. Und sich zudem, in unterschiedlicher Weise, innerhalb der Kultursoziologie verortet. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung einer „kultursoziologischen Stadtforschung“ also nur konsequent. Sie ist eine Forschung, die die Stadt „[als] Kulturfigur“ (S. 14) versteht, die „kontingente[s] Gefüge [und... Objekt] sinnhafter Figuration“ (S. 15) ist.
Die Einleitung bildet in gewisser Weise das Kernstück des vorliegenden Buches, wird dort doch die Programmatik der vorgeschlagenen „Kultursoziologischen Stadtforschung“ formuliert. Kernstück zumindest für diejenigen Leser:innen, die dezidiert an konzeptionellen Debatten und einem auch disziplin-immanenten Diskurs interessiert sind. Hier wird informiert, präzise und anspruchsvoll in die eigene Programmatik eingeführt; für Leser:innen, die stärker am empirischen Phänomen interessiert sind, mag es hier an der einen oder anderen Stelle ein zu fachspezifischer und im Sprachduktus zu anspruchsvoller Modus der Ausführung sein.
Letztlich ist dieses Kapitel aber unabdingbar für das Anliegen, mit diesem Buch die Basis der kultursoziologischen Stadtforschung zu formulieren. Eine solche Stadtforschung macht es sich zur Aufgabe, die Stadt, auch verstanden als „gebaute Theorie des Sozialen“ (S. 12), als Stadt zu untersuchen – und nicht als Ort, an dem spezifische soziale Phänomene stattfinden, die dann wiederum z. B. soziologisch untersucht werden, ohne den urbanen Kontext als ko-konstitutiv für diese Phänomene zu berücksichtigen. Drei Begriffe werden von den Autor:innen als zentral für die von ihnen entworfene kultursoziologische Stadtforschung und damit als ihre Stützen (oder „Grundlagen“, wie es im Text heißt) identifiziert: Multiplizität, Eigenlogik, Verdichtung (S. 19). Multiplizität im Sinne eines Nebeneinander und Beieinander sowie Zusammenwirken verschiedener Entitäten, Akteure, Dimensionen; Eigenlogik im Sinne von lokal spezifischen, kollektiv geteilten Erfahrungen und Wissensformationen; Verdichtung im Sinne des räumlich und sozial nahen Vorhandenseins von „Kontroversen und Konflikte[n]“ (S. 23). Damit „fokussiert [die kultursoziologische Stadtforschung] auf die Frage, wie Städte überhaupt in soziomateriellen Gefügen, routinierten Praktiken und kollektiven Interpretations- und Wissensregimen figuriert und verräumlicht werden“ (S. 18). Mit einem derart ausgerichteten Theoriegerüst verbinden die Autor:innen auf überzeugende Weise unterschiedliche Forschungsansätze, die in den vergangenen Jahrzehnten prominent geworden, aber noch selten in Dialog miteinander gebracht worden sind. Zu nennen sind hier etwa die Wissenssoziologie, die actor-network-theory, die more-than-human-Forschung, die Raumsoziologie und die Architektursoziologie. Dies ist ein Gewinn für die Stadtforschung, verspricht das Programm auf diese Weise doch, sowohl Materialitäten als auch Vergesellschaftungsformen, sowohl Wissensordnungen als auch räumlich-geographische Logiken oder Naturen-Kulturen in den Blick zu nehmen und ihren je konstitutiven Charakter für die Hervorbringung der Stadt zu bearbeiten.
Hinzu kommt für dieses Verständnis von Stadt als Untersuchungsgegenstand die Einsicht, dass die Forschenden selbst ihren eigenen Beitrag zur Konstruktion von Stadt leisten (S. 26). Das ist eine wichtige zusätzliche forschungsmethodologische und epistemologische Perspektivierung, die die Autor:innen vornehmen und benennen. Damit ist die reflexive Forschungshaltung explizit Bestandteil der vorgeschlagenen Forschungsprogrammatik. Dies ordnet sich in die wissenschaftliche Debatte rund um den sogenannten reflexive turn (exempl. Bachmann-Medick, 2016) ein, wird aber letztlich eher aus der eigenen Theoriekonzeption hergeleitet und nicht als quasi von außen kommendes Anliegen ergänzend formuliert. Dies macht es umso überzeugender.
Nach der Einleitung folgen sieben Kapitel, die sich jeweils spezifischen Themen widmen. An ihnen wird die Forschungsprogrammatik expliziert und mithilfe von empirischen Beispielen aus diesen Feldern illustriert. Diese Kapitel stehen, der linearen Struktur eines Buches folgend, hintereinander, sind inhaltlich aber als sowohl vorgelagert als auch parallellaufend zu verstehen. Das bedeutet: Wissen aus den empirischen Arbeiten und Überlegungen in den einzelnen Feldern ergeben zusammengenommen die Leitlinien der Forschungsprogrammatik, verweisen auf sie, fordern sie stellenweise aber auch heraus.
Nun zunächst etwas detaillierter zum weiteren Inhalt des Buchs, um die einzelnen Elemente des Forschungsprogramms näher auszuführen und zu diskutieren. Im Anschluss komme ich noch einmal auf die Frage nach dem Wert einer dezidiert kultursoziologischen Stadtforschung zurück.
In den sieben auf die Einleitung folgenden Kapiteln werden zentrale Dimensionen von Gesellschaft verwendet, um das Programm anhand dieser Felder zu präzisieren und zu exemplifizieren und mithilfe von jeweils themenbezogenen empirischen Beispielen zu illustrieren. Kapitel 1 fokussiert mit den Wohnungsmärkten ein Feld des Städtischen, an dem Aspekte des Ökonomischen ebenso wie Themen des Politischen für die Stadt wirksam werden. Die Beispiele der Wohnungs- und Immobilienmärkte dienen hier dazu, spezifisch städtische Logiken aufzuzeigen, die sich unter anderem darin zeigen, dass über und durch das Wohnen je charakteristische Wohn- und Vermarktungsformen, soziale und räumliche Strukturierungen, Materialitäten und skalenübergreifende Verflechtungen entstehen. Praktiken und Performanzen geraten hier ebenso in den Blick wie Aushandlungen und Kämpfe von Deutungshoheiten und (Diskurs-)Macht.
Derartige Kämpfe und Verhandlungen von Macht und Positionierungen werden auch im folgenden Kapitel 2 in den Blick genommen, das sich dem Thema der „Klasse“ widmet. Als aus dem (stadt-)soziologischen Blick geratene Kategorie identifiziert, dient sie hier als Ausgangspunkt, um das Ziel zu verfolgen, „städtische Klassenverhältnisse“ (S. 60, Herv. i. O.) in den Blick zu nehmen, und getreu dem in der Einleitung beschriebenen Programm gerade nicht die „Klassenverhältniss[e] in der Stadt“ (S. 60, Herv. i. O.). Indem Klassen im Rückgriff auf Pierre Bourdieu als relationale Gefüge von Beziehungen verstanden werden, kann auch die Figuration als Kernkonzept der vorgelegten Programmatik fruchtbar gemacht werden: Innerhalb einer Gesellschaft treten Einzelne und Gruppen auf unterschiedliche Weise in Relation zueinander, positionieren sich aufgrund von Ressourcen, Wissensvorräten, Körpern etc. zueinander und in Abgrenzung voneinander und bringen auf diese Weise soziale und machtvolle Strukturen und Strukturierungen durch ihre Praktiken mit hervor. „Klassenfigurationen“ (S. 60, Herv. i. O.) sind dann spezifische Konstellationen von Beziehungen der einzelnen und kollektiven Gesellschaftsmitglieder zueinander, die mit Bedeutung aufgeladen und auf spezifische Weise wahrgenommen werden, Aus- und Einschlüsse erzeugen und Möglichkeitsräume des Handelns öffnen oder schließen. Die Stadt bietet dafür genau einen solchen Möglichkeitsraum mit gebauten und räumlichen, aber auch sozialen und institutionalisierten Ordnungen. Daraus entstehen dann, so das Argument der Autor:innen, Klassenfigurationen, die dezidiert städtische Merkmale aufweisen.
Weitere derartige Figurationen, die Machtverhältnisse hervorbringen, reproduzieren, stabilisieren, aber auch in Frage stellen können, werden im anschließenden Kapitel 3 fokussiert, wenn es um race und gender geht. Unter Verwendung des Konzepts des queering wird hier eine Schärfung der eigenen Programmatik vorgeschlagen, die auch darauf zielt, den Körper konzeptionell stärker in die Stadtforschung zu integrieren. Indem queering „als räumliches Konzept“ (S. 90–91) eingeführt wird, lassen sich race und gender im Doppel als konzeptioneller Zugriff verwenden, um Verortungen, räumliche Strukturierungen und Verkörperungen einer Stadt anhand und mithilfe dieser beiden naturalisierenden Konzepte nachzuzeichnen. Städte weisen demnach spezifische Modi der Ver-Ortung, der verräumlichten und materialisierten Ver-Anderung auf, die an gender und race gekoppelt werden und dazu beitragen, diese Figurationen in ihrer sozialen ebenso wie räumlichen Wirksamkeit zu prägen. In diesem Kapitel wird die Eigenlogik-Perspektive besonders hervorgehoben (S. 101), um zu zeigen, wie Städte als vergeschlechtlichte und rassifizierte sowie rassifizierende Umwelten in Erscheinung treten.
Die Multiplizität von Phänomenen und Dimensionen des Städtischen und damit das neben der Eigenlogik zweite zentrale Konzept der Programmatik rückt unter anderem im Kapitel 4 in den Mittelpunkt, wenn die „Verflechtungsgeschichten“ (S. 108) thematisiert werden und damit für eine postkoloniale Perspektive plädiert wird. Auf überzeugende Weise argumentieren die Autor:innen für eine stärkere Berücksichtigung von postkolonialen Theorien und Forschungen und stellen drei Punkte heraus, die aus ihrer Sicht begründen, warum die Stadtforschung stärker postkolonial ausgerichtet sein sollte. Sie identifizieren (1) die weiterhin bestehenden Forschungslücken bei der Aufarbeitung der Geschichte Deutschlands als Kolonialmacht, (2) die andauernde „epistemisch[e] Kolonialisierung der Welt“ auch durch die wissenschaftliche und kulturelle „deutschsprachige Theoriebildung“ (S. 109) sowie (3) die anhaltenden Wirkungen von Kolonialisierung und Kolonialverhältnissen weltweit, die nicht zuletzt durch die ökonomischen, sozialen und politischen, aber auch infrastrukturellen Vernetzungen von Gesellschaften überall zu beobachten sind. Dieses Plädoyer für einen stärkeren Einbezug postkolonialer Ansätze ist nicht nur theoretisch informativ, sondern auch methodologisch instruktiv. Denn hier geht es auch um den Vergleich als Methode der (Stadt-)Forschung und das, was er leisten kann und wie er es kann (S. 114–115): Von kontrastierenden oder auf Ähnlichkeiten basierenden vergleichenden Studien hin zu einem Forschungsansatz zu kommen, der die Einzelfälle in ihrer potentiellen und potentiell gleichzeitigen Unterschiedlichkeit und Ähnlichkeit ernst nimmt, um daraus Erkenntnisse über Städte als solche zu erlangen, ist vielversprechend. Von anderen in ähnlicher Weise formuliert oder vorgeschlagen (z. B. Robinson, 2006; McFarlane, 2010; Müller & Tuitjer, 2023), wird es hier auf sehr überzeugende Weise für die kultursoziologische Stadtforschung zum Bestandteil des Forschungsprogramms gemacht und explizit mit der postkolonialen Debatte verbunden.
Mit Kapitel 5 widmet sich das Buch einem erneut bekannten Thema der (Kultur-)Soziologie: Religion. Allerdings wird nicht Religion als städtisches oder gerade nicht städtisches Phänomen fokussiert. Vielmehr werden die „städtische[n] Aushandlungsprozesse“ (S. 127), die mit religiösen Praktiken, Institutionen und Materialität ebenso wie ihren nicht-religiösen Pendants verbunden sind, zum Thema gemacht. Wie im vorangegangenen Kapitel zu den postkolonialen Perspektiven werden auch hier die Materialitäten besonders in den Blick genommen, um aufzuzeigen, welche Spezifik des Städtischen sich hier zeigt. Neben der Materialität werden auch auf überzeugende Weise Klassifikationen und Institutionen als Dimensionen der Untersuchung vorgeschlagen (S. 135–136). Hier zeigt sich, auf welche Weise Wissensproduktionsprozesse und Klassifizierungen des Sozialen im Bereich des Säkularen wirksam werden; ähnlich ließe es sich auch in den vorangegangenen Kapiteln am Beispiel von race, gender, Klasse, aber auch Wohnen (was ist für wen „wohnenswert“, welche Kategorien von Immobilien werden auf welche Weise auf dem Wohnungsmarkt konstruiert, wie werden sie von Makler:innen und Käufer:innen imaginiert, von Mietenden performed etc.) durchspielen.
Die abschließenden beiden Kapitel nehmen sich mit der Digitalisierung und der Ökologie zweier Themenfelder an, die aktuell sowohl gesellschaftliche Debatten als auch die Stadtforschung prägen. Der in Kapitel 6 formulierte Vorschlag, die Digitalisierung deutlicher als bislang über ihre Sozio-Materialität zu erschließen, ist überzeugend und zeigt, wie Theorieprogramm und Empirie im vorgelegten Konzept in Wechselwirkung stehen: Die empirisch informierte Theoriebildung zeigt sich gut am Beispiel der Digitalisierung. Wie auch schon in anderen Kapiteln, beispielhaft dem Kapitel zur Religion, kommt den Infrastrukturen eine besondere Rolle zu, wenn es um die Herausarbeitung der spezifisch städtischen Dimension, hier: des Digitalen, geht. Diese gelte es zukünftig genauer und auch hinsichtlich ihrer räumlichen und (im-)materiellen Formen zu betrachten. In besonderer Weise wird in diesem Kapitel aber auch ein expliziter Vorschlag zur Reformulierung der in der Infrastrukturforschung geführten Debatte gemacht. Dies gilt insbesondere für den Modus des Unsichtbaren, in dem, wie es die Infrastrukturforschung lange als common sense formuliert hat, die Infrastrukturen einer Gesellschaft so lange verbleiben, wie sie funktionieren. Das gilt sowohl für die Infrastrukturen, die tatsächlich kaum wahrnehmbar sind, da sie unterirdisch, am Stadtrand, in der Peripherie, ... platziert sind. Aber es gilt erstaunlicherweise auch für die sicht- und wahrnehmbaren Infrastrukturen wie Dämme, Talsperren, Stromverteilersysteme. Funktionieren sie, werden sie registriert, aber selten thematisiert, und wenn, dann etwa als technologische Errungenschaften zur Einhegung der Natur (wie Dämme) oder als Erholungsgebiet (wie Talsperren). Richtet sich der Blick auf die Digitalisierung und ihre Infrastrukturen, so soll der Blick stärker auf die Diversität des Digitalen und das Unerwartete in den durch Digitalisierung hervorgebrachten Relationen und Strukturen gerichtet werden, fordern die Autor:innen. Codes, Rechenzentren, aber auch ‚digital-freie Zonen‘ etwa in Cafés und Praktiken des ‚digital detox‘ wären so Teil des Digitalen, würden in ihrer stadtspezifischen Ausprägung und Multiplizität sichtbar und ließen Erkenntnisse darüber zu, wie die verdichtete Umwelt der Städte sie hervorbringt. Eine derart ausgeführte Stadtforschung könnte so auch die Infrastrukturforschung informieren und in ihrer Theoriebildung voranbringen.
Das letzte Kapitel des Buches ist dem Anthropozän und der ökologischen Dimension des Städtischen gewidmet. Ist das Anthropozän schon lange, insbesondere in der sozialgeographischen Forschung (Lorimer, 2012) und in der Weiterentwicklung der actor-network-theory (Latour, 2023), Thema, so wird die ökologische Dimension von Städten und das Urbane am Ökologischen in der Stadtforschung bislang doch nicht konsequent in dieser Richtung weitergedacht und konzeptionell entwickelt. Hier setzen die Autor:innen an, wenn sie zu Beginn des Kapitels verlangen, die analytischen Konzepte der sozialkonstruktivistischen Stadtforschung, insbesondere die Konzepte der sozialen Produktion von Raum und der skalaren Unterscheidungen, „infrage zu stellen“ (S. 180). In der Konsequenz müsse es dann darum gehen, das Ökologische nicht nur als Analogie zu verwenden, wie es die Humanökologie getan habe (S. 183), sondern es als genuines Phänomen in den Blick zu nehmen. Dies könne, so die Autor:innen, gelingen, wenn sich die kultursoziologische Stadtforschung auch von der urban political ecology informieren lasse und die Neuformierungen des städtischen Raums und der Infrastrukturen konsequent mit dem Bewusstsein für Natur_en und das Ökologische untersuche. Stadtparks, Rekonfigurationen des öffentlichen Raums, Um-Deutungen von Bäumen zu Infrastrukturen, die der Hitzeregulierung in der Stadt dienen, sind Beispiele für das, was dann empirisch in den Blick gerät. Man könnte hier, so mein Vorschlag, von Infra-Naturen sprechen, die die Stadtstrukturen ergänzen, gleichzeitig eigene Logiken und Veränderbarkeiten in sich tragen und Städte ko-konstituieren.
Der besondere Wert dieses letzten Kapitels besteht, wie schon angedeutet, darin, dass die in der Einleitung eingeführte Konzeption und Programmatik einer kultursoziologischen Stadtforschung, die das Relationale und die Multiplizität betont, hier nun noch einmal weitergeführt wird. Indem darauf hingewiesen wird, dass gerade in der Natur-Kultur-Beziehung etwas zutiefst Asymmetrisches enthalten ist – man denke wie die Autor:innen an Tsunamis und die baulichen Versuche, menschliche Siedlungen und gesellschaftliche Strukturen vor ihnen zu schützen –, wird die programmatische Betonung der Relationalität über die etablierten Verständnisse hinausgedacht. Etwas in Relationen zu denken, bedeutet hier dann (auch): Die Relationen als potenziell asymmetrisch zu denken und der Natur und dem Ökologischen in einer solchen asymmetrischen Beziehung mit dem Sozialen und der Gesellschaft die machtvollere Position zuzusprechen. Damit wird eine Dezentrierung des Sozialen vorgeschlagen, die allerdings der Soziologie nicht ihren Untersuchungsgegenstand nimmt. Sondern ihn konsequent als eingebettet und eingebunden in ökologische – ebenso wie materielle und digitale – Umwelten versteht.
Insbesondere dieses letzte Kapitel fungiert damit als ein solches empirisch fundiertes und für die Theoriebildung herausforderndes Kapitel, wie ich es zu Beginn angedeutet habe. Ihm kommt daher aus meiner Sicht auch im gesamten Buch ein besonderer Stellenwert zu: Denn es wendet gleichzeitig die entworfene Programmatik einer kultursoziologischen Stadtforschung an, denkt sie aber auch weiter und stellt sie produktiv in Frage. Etwa indem sie neue Begriffe einfordert und die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen – Natur, Kultur, Materialität, soziale Strukturen, Machtverhältnisse, Wissensordnungen, Institutionen, ... – nicht nur als symmetrisch-relational begreifen will, sondern auch der Asymmetrie in bestimmten Relationen, etwa im Fall von Naturkatastrophen und Anpassungsstrategien im Kontext des Klimawandels, Raum geben und sie konzeptionell als solche fassen möchte.
Hier zeigt sich zum einen am Ende des Buches, dramaturgisch elegant, noch einmal das Neue an der entworfenen kultursoziologischen Stadtforschung. Zum anderen wird hiermit am Ende der Ausführungen das zu Beginn entworfene Programm wieder geöffnet und weitergedacht. Dies ist ein sehr gelungener move, und er ist für Lesende wie Forschende gleichermaßen anspruchsvoll. Denn es ist eine anspruchsvolle Denkbewegung, die aber letztlich sehr gut, konsequent und selbstbewusst von den Autor:innen ist, heißt es doch, dass sie ihre eigene Konzeption einer kultursoziologischen Stadtforschung schon im Entwerfen und Präsentieren zur Disposition stellen. Nicht, weil die Autor:innen nicht davon überzeugt wären, sondern weil sie letztlich die Phänomene, die um uns herum sind und die die Theoriebildung empirisch begleiten, ernst nehmen und als kontinuierlich im Wandel verstehen. Ein programmatischer Entwurf einer Stadtforschung, die nicht ein dauerhaft gültiges Gerüst entwirft, sondern ein Gerüst, das selbst Figuration und verdichtete Wissensordnung ist. Als solches und durch die Eingebundenheit der Forschenden in die Welt selbst muss es kontinuierlich in der (Weiter-)Entwicklung und Justierung sein. Temporäre Fixpunkte für eine solche kultursoziologische Stadtforschung gibt die vorlegte Einführung, und die Folgebände der Reihe dürfen mit Spannung erwartet werden.
Gibt es negative Kritik am vorgelegten Programm und der inhaltlichen Ausarbeitung? Es liegt in der Natur einer Rezension, dass etwas Negatives oder Fehlendes benannt wird. Man könnte also anführen, dass es ab und an dann doch wieder zu einer homogenisierenden Setzung von Städten kommt; einer Setzung, die der formulierten Programmatik widerspricht. Ein Beispiel findet sich im Kapitel zum queering, in dem Städte als Orte der Aushandlung des Anderen, des Alternativen, des Subversiven identifiziert werden (S. 95). Implizit wird hier dann ‚die Stadt‘, wie oft in der stadtsoziologischen Forschung, als Ort der Innovation, der gesellschaftlichen Freiheit und des Besonderen dar- und gegenüber anderen Siedlungsformen herausgestellt – ver-andert, könnte man auch sagen. Dies ist empirisch oft richtig. Es finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass Innovationen, aber auch Abweichungen von der (gesellschaftlichen) Norm und die darauf bezogenen Aushandlungen gerade in Städten zu beobachten sind. In Städten, in denen eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer, wirtschaftlicher, institutioneller, auch ökologischer Umwelten gleichzeitig zu finden sind, die ihre je eigenen Dynamiken aufweisen und sich zueinander in Beziehung bringen können. Dieses derart Andere ‚in der Stadt‘ zu verorten, wie es im Buch stellenweise anklingt, öffnet dann allerdings die Frage, ob die damit auch einhergehende Homogenisierung ‚der Stadt‘ nicht dem eigenen Anspruch der Autor:innen entgegenläuft, die Stadt als etwas Multiples, Relationales zu verstehen, das kontinuierlich hergestellt, verkörpert, performed und gewusst wird – und nicht als etwas in sich Geschlossenes, in dem etwas geschieht und verortet ist.
Auch fallen manche Ausführungen für den Geschmack der Rezensentin stellenweise etwas zu kurz (etwa im Digitalisierungskapitel) oder zu lang (im Kapitel zu Säkularitäten) aus. Aber dies sind letztlich subjektive Wahrnehmungen der rezensierenden Soziologin, die ihren eigenen Hintergrund und Wissensvorrat mitbringt. Und sie sollen den Wert des vorgelegten Buches und der darin formulierten und auf hervorhebenswerte Weise ausgearbeiteten Programmatik in keiner Weise schmälern.
Daher möchte ich mit Folgendem schließen: Das Buch beginnt mit einer Einleitung, die äußerst instruktiv und anregend ist, und arbeitet im Anschluss seine Programmatik nachvollziehbar und sehr überzeugend mithilfe verschiedener Kapitel zu ausgewählten Themenfeldern der Gesellschaft aus. Dies schreibend möchte ich eine Einschränkung formulieren und mir damit als Rezensentin die „reflexive Forschungshaltung“, die die Autor:innen als Teil ihres Forschungsprogramms formulieren, zu Eigen machen: Die Programmatik ist für diejenige, die diese Rezension schreibt und die selbst auf eine spezifische Weise Stadtforschung betreibt, sehr naheliegend. Und sie erscheint ihr aufgrund der von ihr selbst vertretenen Prämissen, methodologischen sowie epistemologischen Grundannahmen und Forschungshaltungen geradezu offensichtlich. Dies heißt nicht, den Autor:innen und ihrem Entwurf einer kultursoziologischen Stadtforschung den Innovationsgehalt abzusprechen; im Gegenteil. Es heißt vielmehr, dass mit der vorliegenden Programmatik „endlich“ etwas formuliert und expliziert wurde, das sich während der vergangenen Jahre schon angedeutet hatte, auch durch die Forschung der vier Autor:innen selbst, wie ihre empirischen Forschungsergebnisse zeigen, die sie als Beispiele in den Kapiteln einbinden. Ich erlaube mir, ein Sprachbild aus dem Digitalisierungskapitel zu stehlen und angepasst umzuformulieren: Das, was konzeptionell für die Stadtforschung seit einiger Zeit in der Luft lag, wurde nun durch die Autor:innen „aus dem Bereich des Latenten verschoben“ (vgl. S. 168) und in ihrem vorgelegten Programm einer kultursoziologischen Stadtforschung manifest.
Und um zu der Frage vom Beginn zurückzukehren: Der Titel des Buchs macht ein Spannungsfeld auf, indem er aus dem Programm der Autor:innen zitiert und von einer kultursoziologischen Stadtforschung spricht. Ist es auch ein Programm für ein anderes Denken innerhalb der Soziologie über die Stadt als Untersuchungsgegenstand? Und daran anschließend die, vielleicht erwartbaren, Fragen: Was macht es zu einer „kultursoziologischen Stadtforschung“ und nicht zu einer Stadtsoziologie? Was kann das für die Debatte und für die Erkenntnis, die wir mit unserer Forschung erbringen, leisten? Ist es so möglich, die Stadtsoziologie konstruktiv zu dezentrieren und anzuerkennen, dass städtische Phänomene und Phänomene der Stadt Themen der Stadtforschung sind, und es konstruktiver für die Soziologie als Disziplin ist, sich ihr z. B. aus kultursoziologischer, wirtschaftssoziologischer, religionssoziologischer Sicht zu nähern, als eine dezidiert stadtsoziologische Perspektive formulieren zu wollen? Nehmen wir dann die Stadt als Phänomen ernster, als wenn wir stadtsoziologisch arbeiten und die Stadt ‚nur‘ mit ihren jeweiligen allgemein soziologisch relevanten Aspekten betrachten? Oder ist das Haarspalterei? Vielleicht müssen die Leser:innen innerhalb der Soziologie und der interdisziplinären Stadtforschung selbst entscheiden, wie die Antworten auf diese Fragen lauten können; jedenfalls ist der Zugang so, wie ihn die Autor:innen auch mithilfe der Unterkapitel darstellen, in sich überzeugend. Denn die Autor:innen verwenden klug den weiteren, umfassenderen scope der Kultursoziologie, um darüber eine Stadtforschung zu formulieren. Dies macht es ihnen möglich, das Phänomen „Stadt“ als Wissensordnung(en) und sozial wie materiell und räumlich verdichtete Figuration und damit letztlich als Produkt und Produktionsmodus kultureller Praktiken, Ordnungsmechanismen, Kollektive, Materialitäten und Körper zu verstehen. Es bleibt abzuwarten, wie die (Kultur-)Soziologie dies aufnimmt und inwiefern sie sich in ihrem Forschungsgegenstand und ihrem Selbstverständnis davon anregen lässt. Ähnliches gilt für eine Stadtforschung, die sich der Einhegung – oder positiv formuliert: Fokussierung – durch eindeutige disziplinäre Zuschreibungen derzeit aus überzeugenden Gründen verwehrt.
Literatur
Bachmann-Medick, D. (2016). Chapter III: The Reflexive Turn/Literary Turn. In Cultural Turns (S. 103–130). De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110402988-00510.1515/9783110402988-005Suche in Google Scholar
Latour, B. (2023). Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime (A. Russer & B. Schwibs, Übers.; 3. Auflage). Suhrkamp.Suche in Google Scholar
Lorimer, J. (2012). Multinatural geographies for the Anthropocene. Progress in Human Geography, 36(5), 593–612. https://doi.org/10.1177/030913251143535210.1177/0309132511435352Suche in Google Scholar
McFarlane, C. (2010). The Comparative City: Knowledge, Learning, Urbanism. International Journal of Urban and Regional Research, 34(4), 725–742. https://doi.org/10.1111/j.1468-2427.2010.00917.x10.1111/j.1468-2427.2010.00917.xSuche in Google Scholar
Müller, A.-L., & Tuitjer, L. (2023). Intra-urbane und inter-urbane Vergleiche als Methode. Geographische Zeitschrift, 111(4), 218–243. https://doi.org/10.25162/gz-2023-000810.25162/gz-2023-0008Suche in Google Scholar
Robinson, J. (2006). Ordinary cities: Between modernity and development. Routledge.Suche in Google Scholar
Simmel, G. (2006). Die Großstädte und das Geistesleben. Suhrkamp.Suche in Google Scholar
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Literature Review
- Diagnoses of the present: Current sociological research on a controversial genre of sociology
- Gebietskartierung
- Das antidemokratische Denken der extremen Rechten heute. Eine Kartierung aktueller Veröffentlichungen
- Essay
- ‚Die Stadt‘ erforschen. Zum Vorschlag einer integrativen Betrachtung der Stadt
- Themenessay
- Perspektiven zur (Neu-)Bestimmung soziodigitaler Autonomie und Privatheit
- Doppelbesprechung
- „Alles noch in Ordnung da draußen? Alle noch bei der Stange?“ Neue Forschungen zum sozialen Zusammenhalt
- Einzelbesprechung Algorithmen
- Juliane Jarke / Bianca Prietl / Simon Egbert / Yana Boeva / Hendrik Heuer / Maike Arnold (Eds.), Algorithmic Regimes: Methods, Interactions, and Politics. Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 345 S., gb., 153,79 €
- Einzelbesprechung Digitalisierung in der Pflege
- Karsten Weber / Sonja Haug / Norina Lauer / Christa Mohr / Andrea Pfingsten / Georgios Raptis / Gudrun Bahr (Hrsg.), Digitale Technik für ambulante Pflege und Therapie III: Nutzung, Akzeptanz, Wirkung und Lebensqualität. Bielefeld: transcript 2024, 328 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Sozialphilosophie
- Johannes Röß, Zwischen Freiheit und Entfremdung: Eine Sozialphilosophie des Geldes nach Georg Simmel. Frankfurt am Main: Campus 2023, 356 S., br., 40,00 €
- Einzelbesprechung Techniksoziologie
- David Seibt, The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry. London/New York: Routledge 2023, 274 S., gb., 175,50 €
- Einzelbesprechung Transnationalismus
- Emanuel Deutschmann, Mapping the Transnational World: How We Move and Communicate across Borders, and Why It Matters. Princeton/Woodstock: Princeton University Press 2021, 272 S., kt., 31,50 €
- Einzelbesprechung Umwelt und Arbeit
- Simon Schaupp, Stoffwechselpolitik: Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp 2024, 422 S., br., 24,00 €
- Einzelbesprechung Wissenssoziologie
- Olaf Rahmstorf, Wikipedia: Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie. Bielefeld: transcript 2023, 416 S., kt., 38,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2025
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
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