Reviewed Publication:
Saskia Sassen, Expulsions. Brutality and Complexity in the Global Economy. Harvard: Harvard University Press 2014, 298 S., gb., 24,95 €
Seit ein paar Jahren, so Saskia Sassen, leben wir in einem neuen Zeitalter, dem der Vertreibungen. Begonnen hat es etwa um die Jahrtausendwende, und anders als früher erstreckt es sich auf die Welt als ganze, wo es alte „Brutalität“ mit neuer „Komplexität“ verbindet: „In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Menschen, Unternehmen und Orte stark gewachsen, die aus den zentralen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen unserer Zeit vertrieben worden sind“. Ursache soll sein eine neue Entwicklungsstufe der „Pathologien des globalen Kapitalismus“, die unsere Gegenwart zu einer Periode „barbarischen Aussortierens“ macht und eine neue Begrifflichkeit erfordert, eben die der „Vertreibung“, die über die „vertraute Vorstellung wachsender Ungleichheit“ hinausgeht (1).[1]
Was ist das Neue an den neuen „radikalen Vertreibungen“? Zum einen, Sassen zufolge, dass im Zeitalter der Vertreibungen die Vertriebenen vertrieben bleiben, anstatt, wie in den drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit und der Massenproduktion, auf Wiedereinbeziehung rechnen zu können: erschöpft die „Logik der Inklusion“, beendet die „konzertierten Anstrengungen, die Armen und Randständigen in die politische und wirtschaftliche Mitte der Gesellschaft einzugliedern“ (212). Ebenfalls geändert hat sich, dass die Vertreibungen von heute unter Zuhilfenahme von „Formen von Wissen und Intelligenz, die wir respektieren und bewundern“, zustandekommen – als Resultat „einiger unserer fortgeschrittensten wirtschaftlichen und technischen Errungenschaften“, die oft „am Anfang komplexer Transaktionsketten stehen, die in umso simpleren Vertreibungen enden“ (1). So zum Beispiel, wenn „die gestiegene Komplexität finanzieller Instrumente, Produkt brillanter kreativer Klassen (? – WS) und fortgeschrittener Mathematik“, dazu eingesetzt wird, „neuartige Hauskaufdarlehen zu entwickeln“, mit der Folge, dass eben diese „Komplexität ein paar Jahre später in den USA, Ungarn, Lettland usw. zur Vertreibung von Millionen Menschen aus ihren Wohnungen führt [...]“. Oder wenn „brillante Ingenieurskunst, die uns ermöglicht, was immer wir wollen sicher aus dem tiefen Inneren unseres Planeten hervorzuholen, nebenbei die Oberfläche eben dieses Planeten entstellt“. Sassen: „Unsere fortgeschrittenen politischen Ökonomien haben eine Welt geschaffen, in der Komplexität zu oft dazu neigt, extreme Brutalitäten zu produzieren“ (2).
Sassens neues Buch lässt es an Beispielen nicht fehlen; tatsächlich reiht sich im Hauptteil ein Beispiel ans andere. Vertreibungen – oder vielleicht besser: Verstoßungen – als neuer epochaler Modus wirtschaftlicher Entwicklung, vom Ausschluss Arbeitsloser und Niedrigverdiener von staatlicher Unterstützung bis zu modernen Bergbautechniken wie Fracking, „die in der Lage sind, die natürliche Umwelt in totes Land und totes Wasser zu verwandeln – eine Verstoßung von Teilen des Lebens aus der Biosphäre“ (2) – aufgereiht in vier Kapiteln: 1. Shrinking Economies, Growing Expulsions, 2. The New Global Market for Land, 3. Finance and Its Capabilities: Crisis and System Logic, 4. Dead Land, Dead Water. In ihnen werden, in unvollständiger Aufzählung, auf ein und denselben begrifflichen Nenner gebracht: steigende Gewinne; zunehmende Ungleichheit der Einkommen; wachsende Staatsverschuldung; wachsende Armut; die von außen verordnete Erholung der griechischen Volkswirtschaft durch Schrumpfung (womöglich das historische Leitfossil von Sassens Verstoßungstheorie); Arbeitslosigkeit, insbesondere bei Jüngeren; Migration und Flucht als Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung; Zwangsvollstreckungen nach 2007; die steigende Zahl von Gefängnisinsassen insbesondere in den USA und die Privatisierung von Gefängnissen; der Aufkauf von Land in Ländern der globalen Peripherie durch ausländische Firmen und Regierungen (interessante Daten: 98–110) und die anschließende Vertreibung indigener Bevölkerungen; die Ausbreitung von Palmöl-Plantagen; die Verbriefung von Hypotheken, die Erfindung von Credit Default Swaps und die Globalisierung des Wohnungsmarktes; die Zerstörung von Land und Böden durch Industrieabfälle in Russland und den USA; die Vertreibung von Fauna und Flora aus verdorbenen Landschaften und Gewässern; die Vergiftung der Natur durch Blei und Chrom in Indien sowie durch Industrieabfälle und Fracking in Russland, Amerika und anderswo; die Nutzung der Ozeane als Abfallgrube; Nestlé und die Kommerzialisierung von Wasser u.v. a. m.
Sassens Beispiele lesen sich wie eine Liste aller derzeit populären Missstände, von deutscher Austerität für Griechenland über koreanische Landkäufe in Afrika zu mountaintop removal mining in Papua-Neu Guinea, alle unter einem Dach: Expulsion! Umso verständlicher, aber auch bedauerlicher, dass Sassen ihr Leitkonzept vage hält, unter anderem, indem sie es sich und ihm erspart, es in die theoretische Tradition einzuordnen und mit anderen Leitkonzepten abzugleichen, wie Kommerzialisierung, Enteignung, Landnahme, Ausbeutung usw. Was fügt es diesen hinzu? Wahr ist, dass bei Sassen nicht nur Menschen vertrieben werden – aus dem Arbeitsmarkt, ihren Wohnungen, ihren Gemeinden, ihren Wäldern und Steppen an der globalen Peripherie –, sondern auch, wie erwähnt, „Segmente der Biosphäre“ aus ihrem „Lebensraum“ (210), was als Konstruktion gewagt erscheint und Sassen immerhin zu der Frage veranlasst: „Was also ist dann die Biosphäre?“ Als Antwort gibt es freilich nur die rätselhafte Beobachtung: „Es ist, als ob die Biosphäre nicht zu unserem Planeten gehört, obwohl sie doch einen Großteil unseres Planeten bildet und wir selber die Biosphäre sind“ (ibid.).
Nicht nur begrifflich, auch historisch bleibt Sassens Leitkonzept unverortet. Vertreibungen sind ja in der Geschichte des Kapitalismus nichts Neues – wie die einschlägigen Stellen in Band I des „Kapital“ zur „ursprünglichen Akkumulation“ zeigen, auf die Sassen gelegentlich anspielt. Tatsächlich gab es Vertreibungen, wenn auch mit anschließender Einbeziehung, schon lange vor der Wachstumsphase nach 1945: Der Vertreibung aus den Dörfern im Zuge der Transformation von Gemein- in Privateigentum folgte die Einbeziehung in die sich herausbildende Klasse der „freien“ Lohnarbeiter und in die „satanischen Mühlen“ der neuen Fabriken, wenn auch oft erst nach blutigen Umerziehungsmaßnahmen. Ebenso gab es, gerne auch tödliche, Vertreibungen ohne Einbeziehung, von den Neandertalern bis zu den amerikanischen Indianern, ganz ähnlich wie bei den von Sassen beschriebenen Landkäufen und den von ihnen betroffenen Ureinwohnern. Vielleicht hat deren Schicksal tatsächlich mit dem Ende der Massenproduktion zu tun, auf das Sassen immer wieder zurückkommt, wenn es Erklärungsbedarf gibt. Zugleich aber scheint in Ländern wie Bangladesch und China wie seinerzeit in Manchester die Vertreibung vom Land, heute wie damals auch als hoffnungsfrohe Landflucht, immer noch die Fabriken zu füllen. Und was ist mit der Vertreibung der Frauen aus der Subsistenzwirtschaft der Familie – der gesellschaftsprägenden expulsion in den 1970er Jahren, als die „Familienlöhne“ der (meist männlichen) „Ernährer“ von ihren Gewerkschaften nicht mehr verteidigt werden konnten und die Frauen zur Sicherung des Familienkonsums sowie um der Einhaltung anspruchsvoller gewordener Konsumnormen willen weinenden, aber eben auch befreit lachenden Auges in den Arbeitsmarkt auswanderten, Massenproduktion oder nicht?
Tatsächlich wird, je länger man hinschaut, immer undeutlicher, was Sassen mit Vertreibung, oder Verstoßung, genau meint. Anscheinend geht es um eine mutmaßlich neue, ganzheitliche Form von Gesellschafts- wie Naturzerstörung, eine „Logik“ neuer, durch immer raffiniertere Finanz- und Ingenieurstechniken erzeugter, epochaler (Selbst-) Bedrohungen in einer Welt steigender Profite bei abnehmendem Wachstum und wachsender Ungleichheit, letztere immer mehr in Gestalt von dauerhafter gesellschaftlicher Ausschließung – „eine Dynamik, die quer liegt zu den vertrauten und gut etablierten begrifflichen und historischen Unterscheidungen“ (216), wobei offen bleibt, wie quer genau. Ebenso unklar bleibt, wo diese Dynamik herkommt und woher sie ihre Energie bezieht. Sassen spricht von „räuberischen ,Formationen‘, einer Kombination von Eliten und systemischen Fähigkeiten, mit dem Finanzsystem als wichtigem Instrument, die aggressiv auf Vereinigung drängen“ (13). Formulierungen wie diese finden sich immer wieder, ohne dass sie durch Wiederholung klarer würden. Klassen kommen kaum vor, Unternehmen schon, auch Staaten – aber wie sie sich zueinander verhalten, bleibt ungeklärt, geht es doch um „umfassendere Zusammensetzungen von Elementen, Bedingungen und sich gegenseitig verstärkende Dynamiken“ (77) – vage genug, um zum schlechten Ende Platz zu lassen für einen guten Schluss, wenn auch nur in Gestalt von gänzlich unvermittelten Bekundungen von voluntaristischem Optimismus: „Die dreifache Krise, der wir uns gegenübersehen, sollte Gelegenheit sein, unsere (?) enormen Fähigkeiten, Kapital zu bilden und zu produzieren, die im Globalen Süden und Globalen Norden dringend gebraucht werden, neu zu orientieren“ (148; der Rezensent nimmt sich vor: mache ich gleich morgen). Und wenn, so die letzten Sätze des letzten Absatzes, der „Schrei“ der „Orte der Ausgestoßenen“ (schreien Orte?) nach „begrifflicher Anerkennung“ (nach mehr nicht?) Gehör gefunden haben wird – der Anfang ist ja mit Sassens Buch gemacht –, dann werden diese „die neuen Orte des Machens sein – des Machens lokaler Ökonomien, erneuerter Geschichten und neuer Formen von Mitgliedschaft“ (222).
So bleibt es bei einer konzeptionell unterentwickelten Intuition, deren Unfertigkeit die Autorin durch einen seherisch raunenden Vortragsstil versuchen muss zu überdecken: „Today, I see new systemic logics arising from the decaying political economy of the twentieth century“ (212), auch wenn es sich dabei um „a development not yet fully visible and recognizable“ handelt (29) und „much of this sharp shift I am seeking to capture is still invisible to the statistician“ (ibid., und wieder und wieder im Schlußkapitel, 211–222). Zwar ist Expulsions noch kein Buch mit Autorenbild auf dem Umschlag – aber vielleicht kommt das ja als nächstes.
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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