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Kann sich Europa konventionell gegen eine militärische Bedrohung durch Russland behaupten?

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Veröffentlicht/Copyright: 7. September 2024

Zusammenfassung

Ob und wie könnte sich eine „NATO zu 31, ohne die USA“ gegen Russland (unterstützt durch China, Nordkorea und Iran) militärisch behaupten? Unter welchen Voraussetzungen könnten die Europäer im Rahmen einer fortbestehenden NATO eigenständig, das heißt notfalls auch ohne die USA, abschreckungs- und verteidigungsfähig werden? Diese Fragen stehen im Blickpunkt des Beitrags, in dem der Autor zu dem Schluss gelangt, dass dies grundsätzlich möglich ist, sofern die drei großen europäischen Mittelmächte Frankreich, Großbritannien und Deutschland in der NATO gemeinsam eine Ko-Führungsrolle übernehmen und komplementär als Rahmennationen zusammenwirken. Zugleich müssten alle Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsbeiträge so steigern, dass sie auch ohne substanzielle Beteiligung der USA nicht nur in einem kurzen, hochintensiven Krieg durch „Responsiveness“ bei Aufmarsch und Anfangsoperationen die Oberhand behielten, sondern auch in einem langen Abnutzungskrieg, wie Russland ihn derzeit gegen die Ukraine führt, durchhaltefähig und letztlich Russland gegenüber überlegen wären. In drei Feldern blieben die USA allerdings unersetzbar: (1) als Garant einer glaubwürdigen Extended Nuclear Deterrence, (2) als Weltmacht mit dem einzigen, alle Fähigkeiten breit abbildenden, kohärenten nationalen Streitkräftedispositiv, an das sich bisher alle Verbündeten anlehnen; und (3) als Bereitsteller eines zusätzlichen amerikanischen Sicherheitsnetzes in Europa, das verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit selbst dann noch ermöglicht, wenn in der konsensbasierten NATO kein Einvernehmen herzustellen sein sollte. Mit Blick auf die deutsche Verteidigungspolitik wird festgestellt, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr auf Kriegstüchtigkeit und als Rückgrat der kollektiven Bündnisverteidigung im konventionellen Bereich in die richtige Richtung geht. Jedoch sind noch weitaus größere Anstrengungen insbesondere in der Rüstung und beim Verteidigungshaushalt erforderlich, um Putins Russland in Europa die Fortsetzung seines aggressiven Revisionismus zu verwehren. Dies gilt umso mehr, wenn die Perspektive einer NATO ohne die USA Realität würde, was es so weit wie möglich zu vermeiden gilt.

Abstract

This article asks whether and how a „NATO of 31, without the USA“ could hold its own militarily against Russia (supported by China, North Korea and Iran). Under what conditions could the Europeans become capable of deterrence and defence independently within the framework of a continuing NATO, i. e. if necessary without the USA? The article concludes that this is possible in principle, provided that the three major European central powers France, Great Britain and Germany jointly assume a co-leadership role in NATO and work together as complementary framework nations. At the same time, all member states would have to increase their defence contributions in such a way that, even without substantial US involvement, they would not only have the upper hand in a short, high-intensity war through „responsiveness“ in deployment and initial operations, but would also be able to hold out in a long war of attrition, such as the one Russia is currently waging against Ukraine, and would ultimately be superior to Russia. In three areas, however, the USA remained irreplaceable: (1) as the guarantor of a credible Extended Nuclear Deterrence, (2) as a world power with the only coherent national armed forces posture that broadly reflects all capabilities, to which all allies have so far leaned; and (3) as a provider of an additional American security net in Europe, which enables defense policy capability to act even if no consensus can be reached in consensus-based NATO. With regard to German defence policy, it is stated that the reorientation of the Bundeswehr towards war readiness and as the backbone of collective alliance defence in the conventional sector is going in the right direction. However, far greater efforts are needed, especially in armaments and the defense budget, to prevent Putin’s Russia in Europe from continuing its aggressive revisionism. This is all the more true if the prospect of NATO without the United States becomes a reality, which must be avoided as far as possible.

1 Einleitung

Unter welchen Voraussetzungen könnten die Europäer im Rahmen einer fortbestehenden NATO eigenständig, das heißt notfalls auch ohne die USA, abschreckungs- und verteidigungsfähig werden? Im Prinzip ist das vorstellbar. Angesichts der zentralen Rolle, die die USA bislang für die Sicherheit Europas gehabt haben, sind all diese Fragen mit grundsätzlichen Überlegungen zu den Pfeilern europäischer Sicherheit zu verbinden. Wenn man sich die denkbaren Optionen anschaut, dann bleibt allerdings wenig Raum für alternative Szenarien.

Mit Blick auf die lange Geschichte Europas wäre zum Beispiel eine neue Form des Konzerts der großen europäischen Nationalstaaten, mit Koalitionen von Willigen oder Bündnissen untereinander, vorstellbar.[1] Im Kontext der globalen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und England in Europa entwickelten sich die Kabinettskriege Preußens, Österreichs und Russlands im 18. Jahrhundert, es folgten im 19. Jahrhundert die napoleonischen Kriege, der Wiener Kongress, die „Heilige Allianz“ der Restauration – immerhin für viele Jahrzehnte eine stabile Friedensordnung. Auch nach der Klärung der deutschen Frage durch die Kriege zwischen Preußen, Dänemark, Österreich und Frankreich ermöglichte Bismarcks Bündnispolitik in Mitteleuropa immerhin für zwei weitere Generationen einen vorübergehend stabilen Frieden – die sprichwörtliche „gute alte Zeit“ unserer Großeltern und Urgroßeltern. Erst im Rückblick sehen wir, wie schon im Friedensschluss mit Frankreich 1871, der Enttäuschung Russlands beim Berliner Kongress und später mit der Wilhelminischen „Weltpolitik“ im Zeitalter des Imperialismus und der Großmächterivalität eine Entwicklung ihren Lauf nahm, an deren Ende 1914 in Europa die Lichter ausgingen. Und ganz besonders katastrophal gingen sie mit dem Versailler Vertrag, dem Scheitern der Weimarer Republik und den revisionistischen Weltherrschaftsambitionen von Hitlers „Drittem Reich“, schließlich 1945 in Deutschland aus. In diese lange Ära des Konzerts der großen europäischen Mächte kann man sich aus deutscher Sicht daher nicht zurückwünschen. Zudem sind alle diese Mächte Europas – mit Ausnahme Russlands – geopolitisch keine Großmächte mehr, sondern lediglich Mittelmächte mit regionalen und globalen Interessen. Sie wären nur gemeinsam in der Lage, sich auf Augenhöhe gegenüber den Groß- und Weltmächten des 21. Jahrhunderts zu behaupten: USA, China, Russland. Mit diesem theoretisch denkbaren Rahmen – Rückkehr zum Konzert europäischer Nationalstaaten – braucht man sich daher gar nicht erst zu befassen, auch wenn es scheint, dass in einigen Hauptstädten Europas derartige Vorstellungen immer noch nicht ausgestorben sind – zu denken ist an Boris Johnsons „Global Britain“, Marine Le Pens Vorstellung von Frankreich, Recep Tayyip Erdoğans Türkei und natürlich Putins Russland.

Der zweite theoretische denkbare Ansatz käme aus deutscher Sicht schon eher in Betracht: Die Europäische Union als geopolitischer Akteur mit einer vergemeinschafteten Außen-, Sicherheits- sowie Verteidigungspolitik und als Instrumentarium neben dem bereits existierenden Europäischen Parlament eine europäische Regierung, und dann auch eine europäische Armee, Luftwaffe und Marine.[2] Das alles müsste im Konsens der 27 souveränen Nationalstaaten der gegenwärtigen EU – unter Preisgabe wesentlicher Bestandteile eben dieser nationalen Souveränität – einvernehmlich beschlossen und in Volksabstimmungen bestätigt werden.[3] Das erscheint auf absehbare Zeit völlig aussichtslos.[4] Selbst wenn es zu 27 gelänge, die aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entstandene EU zu „Vereinigten Staaten von Europa“ weiterzuentwickeln, würden immer noch wesentliche Teile fehlen: das Vereinigte Königreich als P 5-Nation, Nuklearmacht und traditionell bedeutende europäische Seemacht; Norwegen mit seinen Ressourcen; Kanada mit seinem riesigen Raum, die Türkei in ihrer Scharnier- und Regionalmachtrolle im Südosten.

Damit bleibt realistischerweise als Drittes nur der Rahmen der Nordatlantischen Allianz mit seinem europäischen Pfeiler, auf den wir Europas künftige Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeit bauen können – idealerweise und hoffentlich weiterhin mit den USA als Führungsmacht des bewährten Bündnisses.[5] Aber auch ohne das gewohnte Engagement der USA wäre dies immer noch eine Allianz aus 31 mittelgroßen und kleineren Nationen und einem Raum, der die halbe nördliche Halbkugel umfasst. Gemeinsam sind dies mehr als eine halbe Milliarde leistungsfähiger Menschen, die hochentwickelte Technologien und eine Wirtschaftskraft aufbringen, die auf absehbare Zeit derjenigen Russlands – und gemeinsam mit den USA auch der Russlands und Chinas zusammen – gewachsen sein dürfte. Erziehungswissenschaftlich gesprochen, bietet uns Europäern dieser Rahmen, und nur dieser Rahmen, mit Blick auf glaubwürdige Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit, einen „mittleren Erreichbarkeitsgrad“. Daraus können statt Hilflosigkeit und Verzagtheit eine hohe Leistungsmotivation, Anstrengungsbereitschaft und so auch eine erfolgreiche Selbstbehauptung erwachsen.

Von daher wird im Folgenden lediglich die Frage aufgeworfen, ob und gegebenenfalls wie und unter welchen Voraussetzungen wir Europäer im Rahmen der NATO ohne die USA unsere Verteidigung sicherstellen könnten.

2 Grundbedingungen und Annahmen

Zu Beginn einer derartigen Analyse muss davon ausgegangen werden, dass derzeit von einer eigenständigen Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der Europäer ohne die Beiträge der USA keine Rede sein kann. Die USA – als immer noch weltweit führende Nuklearmacht, Seemacht, Luftmacht, Raummacht, Cybermacht und größte führende Volkswirtschaft – sind die selbstverständliche Führungsmacht der NATO seit sieben Jahrzehnten. Sie stellen seit Ende des Kalten Krieges (mit zunehmender Tendenz) etwa 60–70 Prozent der militärischen Fähigkeiten der Allianz, insbesondere der Hochwertfähigkeiten (Enabler, Force Multipier).[6] Es kann also nur um die Frage gehen, ob und wie es für NATO-Europa bei größtmöglicher Anstrengung aller übrigen Verbündeten – die EU-Mitgliedstaaten plus Großbritannien, Norwegen und auch Kanada und die Türkei – machbar wäre, auch ohne die USA auszukommen und welche Voraussetzungen geschaffen werden müssten, um dabei glaubwürdige Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit zu erreichen.

 Russland und China bilden eine enge Allianz

Russland und China bilden eine enge Allianz

Mit Blick auf die gegenwärtige geopolitische Lage im Kontext des russischen Angriffskrieges seit 2022 gegen die Ukraine und des umfassenderen hybriden Kriegs Russlands gegen den Westen seit 2014 ist festzustellen, dass wir Europäer es nicht mit einem auf sich allein gestellten Russland als Gegner zu tun haben, sondern mit einem von China politisch, diplomatisch, wirtschaftlich, technologisch und zunehmend auch militärisch unterstützten Russland. Putin ist darüber hinaus in der Lage, aufgrund seiner ungebrochenen Einnahmen aus Petro-Lieferungen trotz aller Sanktionen in großen Massen Munition und Kriegsmaterial von Nordkorea und Iran zu beziehen, neben seiner eigenen Produktion aus seiner seit über einem Jahr hochgefahrenen Kriegswirtschaft. Eine kriegführungsfähige und willige Zweckallianz aus Russland, China, Iran und Nordkorea ist für NATO-Europa eine ganz andere Herausforderung,[7] als die immer noch vorherrschende Vorstellung, ein geschwächtes und durch Sanktionen eingedämmtes und isoliertes Russland als Gegner zu haben und zur Vernunft bringen zu können.[8]

Mit Blick auf das eigene Lager und die eigene Lage ist festzustellen, dass die USA in Zukunft möglicherweise nur noch konditioniert und nur noch teilweise ein zuverlässiger Verbündeter und damit dann auch keine wirkliche Führungsmacht mehr sein werden. „Leading from behind“ bei gleichzeitigem „Pivot to Asia“ unter Obama war der Anfang.[9] Ein von Trump II möglicherweise angestrebter teilweiser oder gar gänzlicher Rückzug aus der NATO wäre das Ende der gewohnten Pax Americana und des amerikanischen Jahrhunderts in Europa.[10] Die Europäer müssten sich neu aufstellen und aus den Trümmern eines zusammengebrochenen Paradigmas eine Ersatzkonstruktion schaffen, die ihren Schutz gegenüber der Bedrohung durch ein von China und anderen unterstütztes Russland ermöglicht. Bildlich gesprochen, wären bei einem Rückzug der USA in der Festung NATO-Europa urplötzlich der zentrale Bergfried eingestürzt und große Breschen in den Mauern, aber wesentliche Teile der Festung einschließlich zweier Ecktürme wären immer noch da und funktionsfähig. Dies wären die beiden Institutionen NATO und EU mit ihren jeweiligen Strukturen, Prozessen, Kräften und Fähigkeiten.

 Die US-Airbase Ramstein

Die US-Airbase Ramstein

Nicht mehr vorhanden wäre dann auch die bislang massive nationale US-Präsenz in Europa mit US EUCOM und in Europa verteilten Stützpunkten und substanziellen Kräftekontingenten an Land-, Luft-, See-, Cyber- und Spezialkräften.[11] Es gäbe dann auch keine amerikanischen Führungselemente wie Ramstein und keine logistische Basis als US-Drehscheibe in Europa mehr. Ein von Europa aus operierendes US Afrika-Kommando würde dann ebenfalls entfallen. Die USA wären von beiden Kontinenten, Europa und Afrika, sowie dem weiteren mittleren Osten einen Ozean weiter entfernt als bisher.

Neben der NATO gibt es in Europa einen zweiten zentralen Sicherheitspfeiler, das sind die US-national gestützten amerikanischen Krisenbeherrschungs- und Kriegführungsfähigkeiten in Europa und seiner Peripherie. Die Präsenz der US-Truppen in Europa beruht neben dem NATO-Truppenstatut im Rahmen des Bündnisses auf bilateralen Abmachungen mit den einzelnen europäischen Hauptstädten. Dieser Pfeiler war und ist wichtig für Fälle, in denen sich die Allianz mangels Konsenses ihrer Mitgliedstaaten als nicht handlungsfähig erweist. Diesen zweiten, amerikanischen Sicherheitspfeiler müssten wir uns dann wegdenken – ein harter Schlag vor allem für die exponierten Osteuropäer, die im Stillen wohl noch mehr auf diesen Pfeiler und ihre bilateralen Beziehungen zu den USA vertrauen, als auf die allzeit uneingeschränkte Handlungsfähigkeit der konsensbasierten NATO zu 32.

Zudem sähe das Kriegsbild für die Europäer ohne die USA signifikant anders aus als bislang. Erstmals seit sieben Jahrzehnten wird ein mehrjähriger Abnutzungs- und Zermürbungskrieg auch gegen die NATO wieder vorstellbar. In der „alten“ NATO und der „alten“ Bundesrepublik mit ihrer Bundeswehr wurde nie ein Gedanke darauf verwendet, dass der Gegner uns – sollte seine großangelegte strategische Offensive an erfolgreicher NATO-Vorneverteidigung scheitern – anschließend einen mehrjährigen Abnutzungskrieg aufzwingen würde, der die Ausmaße des Ersten oder Zweiten Weltkriegs annehmen könnte. Das Kriegsbild bis 1990 sah im Wesentlichen immer nur zwei Verläufe vor: Entweder wäre die NATO nach kurzer Vorwarnzeit rechtzeitig abwehrbereit gewesen und hätte in einem kurzen, hochintensiven Krieg einen Großangriff des von der Sowjetunion angeführten Warschauer Paktes erfolgreich abwehren können, indem es die erste strategische Staffel in Westdeutschland zum Stehen gebracht und zugleich die nachgeführten Kräfte der zweiten und dritten strategischen Staffeln auf polnischem und weißrussischem Territorium beim Vormarsch abgenutzt und zerschlagen hätte (Follow on Forces Attack, FOFA). Oder aber sie hätte, wie glaubwürdig angedroht, durch horizontale oder vertikale Eskalation einschließlich des nuklearen Ersteinsatzes (initial use) den Aggressor gezwungen, den Krieg abzubrechen, zu deeskalieren und zum „Status quo ante“ zurückzukehren.[12]

Auf jeden Fall war die Grundannahme, dass man sich auf einen kurzen Krieg von nur wenigen Wochen Dauer vorbereiten müsse (und nicht auf einen langen Weltkrieg). Folglich war die gesamte Rüstung und die operative Planung für Aufmarsch, Mobilmachung, Gesamtverteidigung und Anfangsoperationen im Rahmen der Vorneverteidigung darauf gerichtet, rechtzeitig mit allen verfügbaren Kräften einsatzbereit zu sein und in den Anfangsoperationen – Verzögerung, Verteidigung und Gegenangriffe – hohe Verluste an Personal und Material ausgleichen zu können. Dies sollte durch wehrpflichtbasierten Personalersatz, durch nachgeführte umfangreiche US-Streitkräftereserven aus CONUS[13] und nachgeführte Materialreserven aus hochgefahrener US-Industrieproduktion erfolgen. Von einer Kriegswirtschaft der deutschen Rüstungsindustrie wie in den Weltkriegen war nie die Rede. Es ging lediglich darum, hohe Klarstände bei den Waffensystemen schon im Frieden zu haben, hohe Ersatzteilbevorratung und große Mengen an Munition (in den Depots geschützt) verfügbar für die ersten Kriegswochen vorzuhalten und beim Übergang von Frieden zu Krise und Krieg durch Mobilmachung, Krisenausbildung einberufener Reservisten, Aktivierung der Leistungsgesetze usw. die Einsatzbereitschaft der auf Verteidigungsumfang aufwachsenden Bundeswehr möglichst nahe an 100 Prozent zu bringen. Verfahrenstechnisch geübt wurde dies NATO-weit – auf allen Ebenen von Brüssel über die Hauptstädte bis hinunter in die Landkreise – mit der vierzehntägigen, alle zwei Jahre erfolgenden Übung WINTEX/CIMEX, letztmalig im Jahr 1989. Vieles davon müsste als Voraussetzung für die Wiederherstellung von Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit, ob mit oder ohne USA, im Prinzip so wiederhergestellt und angewandt werden – natürlich in modernisierter und angepasster Form.

Zusätzlich müssen natürlich die ganz neuen Lektionen aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine gelernt werden.[14] Dabei sollte die herausragende Lektion aus Russlands Ukrainekrieg sein, dass Putins Russland bei seinem Bestreben, soviel wie möglich vom russisch-sowjetischen Imperium wiederherzustellen, offensichtlich keinen „Rückwärtsgang“ hat und kein Risiko scheut, im Unterschied zu dem am Erhalt des Status quo orientierten Politbüro der UdSSR in den 1980er-Jahren. Vielmehr müssen wir uns darauf einstellen, dass Putin beim Scheitern seiner Anfangsoperationen eben nicht, wie von uns erwartet, vernünftigerweise zum Abbruch seines Angriffs und Verhandlungen übergeht, sondern stattdessen noch einen Gang höher schaltet und zu einem Zermürbungs-, Abnutzungs- und Vernichtungskrieg an der Front, ebenso wie gegen die kritische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung in der Tiefe, übergeht – unter Aktivierung aller Kräfte, die Russland zur Verfügung stehen. Darauf ist der Westen kollektiv bisher nicht vorbereitet (mit wenigen Ausnahmen, wie Finnland), am wenigsten Deutschland.

Es ist aber gerade Deutschland, das sich seit 2014 als Anlehnungsmacht und Rahmennation und seit 2024 – in den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) nun auch expressis verbis – wieder als Rückgrat der kollektiven Bündnisverteidigung anbietet und erwartet, dass die Verbündeten dieses Angebot auch konsequent annehmen. Das setzt voraus, dass diese Rolle erstens vollumfänglich implementiert wird, und zweitens, dass sie nicht nur für Abschreckung im Frieden und dann noch für erste Anfangsoperationen im Krieg gilt, sondern auch für absehbare Folgeoperationen. Angesichts der russischen Kriegführung gegen die Ukraine seit 2023 sind diese Folgeoperationen klar absehbar: Wir müssen uns personell, materiell und auch mental durchhaltefähig machen, für mehrmonatige, wenn nicht sogar mehrjährige Kriegführung in einem uns aufgezwungenen Abnutzungskrieg, und wir müssen Wege finden, Moskau auch für einen solchen Fall den Erfolg zu verwehren. Um nicht missverstanden zu werden: Nicht um einen solchen Krieg zu führen, sondern um zu verhindern, dass er uns aufgezwungen werden kann. Es geht also erneut um glaubwürdige Abschreckung. Tun wir das nicht, kann Abschreckung im Kopf des Gegners, wenn er so tickt wie die gegenwärtige russische Führung, nicht greifen. Setzt sich Putin im Ukrainekrieg erfolgreich durch, müssen wir davon ausgehen, dass er diesen Ansatz – zunächst hybrider Versuch mit „Spezialoperation“, dann falls erforderlich umschalten auf einen total geführten offensiven Abnutzungskrieg gegenüber der NATO (erst recht einer NATO nur der Europäer ohne die USA) – als Erfolgsmuster nimmt, ähnlich wie Hitler seine Blitzkrieg-Konzeption als bewährten Ansatz von 1939 bis 1941 in ganz Europa so oft wiederholte, wie es ihm möglich war.

Daraus folgt: NATO-Europa muss als entscheidende Neuerung nicht mehr nur darum bemüht sein, kollektiv die nötige Fähigkeit zur Reaktion auf einen Angriff (Responsiveness) aufzubringen, wie es die NATO von 2014 bis heute getan hat, und den Schwerpunkt darin sehen, dass der Aufmarsch und die ersten Anfangsoperationen klappen. Vielmehr muss NATO-Europa künftig, und dann womöglich ohne die substanzielle Mitwirkung der USA, auch über langanhaltende Durchhaltefähigkeiten verfügen, um auch in einem mehrjährigen Abnutzungs- und Zermürbungskrieg Russland zu übertreffen. Das Ziel muss es sein, Russland auch in einer solchen Kriegsform einen Siegfrieden verwehren und – dann hoffentlich mit Eingreifen der USA auf dem europäischen Kriegsschauplatz analog zu 1917 und 1943/1944 – zur Einstellung von Kampf- und Kriegshandlungen zwingen zu können.

Eine solche Forderung an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist schwer zu vermitteln. Aber wenn wir davor zurückschrecken, gehen wir das hohe Risiko ein, dass Abschreckung gegenüber Putin nicht mehr greift, weil er den Westen für zu schwach, dekadent und ihm an Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft nicht gewachsen hält und weil er glaubt, wie im Ukrainekrieg mit dem Abnutzungskrieg, sein Erfolgsrezept auch gegenüber der NATO gefunden zu haben.

3 Eine NATO ohne die USA

Wie sähe die sicherheits-, verteidigungs- und bündnispolitische Landschaft und Architektur der NATO ohne die USA aus? Dass diese Leitfrage zur ungewünschten Wirklichkeit werden könnte, zeigte sich wie ein Wetterleuchten bereits beim ersten Zusammentreffen der NATO-Staats- und Regierungschefs mit dem neu ins Amt gekommenen Präsidenten Donald Trump in 2017 und beim ersten offiziellen NATO-Gipfel mit ihm in 2018.[15] Es gäbe dann weiterhin 31 europäisch-nordatlantische Mitgliedstaaten in der NATO (sowie 27 in der EU) mit jeweils eigenen nationalen Verteidigungsdispositiven, Streitkräften und Fähigkeiten, die sich am NATO-Verteidigungsplanungsprozess ausrichten und im Bündnisfall nach Artikel 5 zur kollektiven Bündnisverteidigung „einer für alle, alle für einen“ Schulter an Schulter bereitständen. In der Summe bringen diese 31 Nationen großes Gewicht auf die Waage: 450 Millionen EU-Europäer plus 50 Millionen Briten, dazu Norweger, Kanadier, Türken. In der Summe sind dies mehr als eine halbe Milliarde Menschen mit einer volkswirtschaftlichen Gesamtleistung eines Vielfachen dessen, was Russland aufbringen kann.

Der NATO ständen weiterhin 31 unterschiedlich große und unterschiedlich kampfkräftige nationale Streitkräfte zur Verfügung, davon weiterhin die meisten kleine, einige mittelgroße und wenige große, mit einem breiten Spektrum an Fähigkeiten ausgestattet (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Türkei). In der Summe ergibt das – auch ohne die USA – immer noch beachtliche Zahlen mit Blick auf Kräfte und Fähigkeiten. Aber es gäbe keine einzelne Streitmacht mehr, in der alle Fähigkeiten über alle Domänen hinweg (Nuklear, Land, Luft, See, Raum, Cyber) in weltweit führender Ausprägung und technologisch so up-to-date vorhanden wäre, wie es bei den USA der Fall ist. Die NATO-Nationen wären somit viel stärker gezwungen, ihre „Bonzai-Dispositive“ komplementär aufeinander auszurichten, zu bündeln und um die durch die USA verlorenen Fähigkeiten zu ergänzen – und das, ohne Abstriche an der nationalen Souveränität einzugehen. Das wäre schwierig, aber nicht unmöglich. Dennoch: Es bleibt eine riesige Herausforderung. Trotzdem sollte es gelingen, mit einer Bevölkerung von mehr als 500 Millionen Menschen und einer weit überlegenen Wirtschaftskraft ein aggressiv-revisionistisches Russland in die Schranken zu weisen – auch ohne die USA.

3.1 Politische Handlungsfähigkeit

In der NATO ständen weiterhin in einzigartiger Weise die erforderlichen strukturellen Voraussetzungen zur Verfügung. Verteidigungspolitisch wäre die NATO weiterhin handlungsfähig. Es gäbe weiterhin den Internationalen Stab mit seiner unterstützenden und anleitenden Rolle für die maßgeblichen politischen Entscheidungsgremien der Allianz: den Nordatlantikrat und den diesen beratenden Ausschüssen wie DPPC, OPC[16] usw. Auf der militärpolitischen Seite gäbe es weiterhin den Militärausschuss mit seinem IMS und damit den kollektiven Military Advice des Military Committee (MC) und der NATO-Kommandobehörden an den Nordatlantikrat. Bei alledem müsste man sich allerdings gewisse Abstriche hinzudenken, weil es keine in einer Extraklasse rangierende Weltmacht mehr gäbe, die in den Gremien der Allianz den Ton setzen könnte, wie bisher so oft die USA. Aber: Zumindest zwischen 2014–2017 haben wir erlebt, dass die NATO auch dann gut arbeiten kann, wenn sich die USA zurücknehmen und es den Europäern überlassen, den Ton zu setzen. Die seit Jahrzehnten gut funktionierende Quad aus USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich würde ohne die USA dann entweder als Quad (minus) oder als Quint (Großbritannien, Deutschland und Frankreich, Italien, Polen und eventuell plus Türkei) den Konsens anbahnen. Auf politischer, militärpolitischer, strategischer und operativer Ebene bliebe eine solche NATO jedenfalls prinzipiell handlungsfähig. Dazu bedürfte es keiner neuer Voraussetzungen. Die Europäer brauchen hoffentlich auch keine Führungsmacht USA mehr im Sinne einer „Gouvernante“, die den Ausbruch erneuter interner Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Mittelmächten oder kleiner und mittlerer Mächte wie Griechenland und Türkei unterbindet – sofern sich nicht neo-nationale Regierungen mit Großmachtträumen in einzelnen Mitgliedstaaten durchsetzen und dann eine völlig andere Bündnispolitik zum Schaden von NATO und EU betreiben.

3.2 Militärische Handlungsfähigkeit

Die NATO bietet als Alleinstellungsmerkmal weiterhin eine eingeübte multinationale, alle Verbündeten involvierende integrierte Kommandostruktur; sie ist seit jeher der Kitt, aus dem „NATO-Mindedness“ entsteht und der das Bündnis in der täglichen militärischen Praxis handlungsfähig hält. Entsprechend ihren eingebrachten Beiträgen würden die Mitgliedstaaten weiterhin Häuptlinge und Indianer stellen. SACEUR wäre ein Brite oder Franzose, DSACEUR ein Deutscher, Italiener oder Pole, Chef des Stabes SHAPE ein Deutscher, Brite, Franzose, Italiener, Pole, Schwede oder Finne. COM JFC Brunssum wäre vermutlich ein Deutscher oder Pole; COM JFC Neapel vermutlich ein Franzose, COM SACLANT ein Brite und so weiter. Die NATO wäre militärisch weiterhin operativ führungsfähig mit Blick auf verbundene Land-, Luft-, See- und Cyber-Operationen.

Die NATO verfügt über wenige, dafür aber sehr wichtige eigene Kräfte, die ihr nicht von den Nationen zur Verfügung gestellt werden, sondern NATO-owned and operated sind. Im Wesentlichen sind dies die AWACS-Flotte zur Luftraumüberwachung und Führung von Luftverteidigungs- und Luftangriffsoperationen, die schon im Kalten Krieg eine große Bedeutung als Force Multiplier und Enabler hatte, und die Allied Ground Surveillance (AGS)-Kräfte, das heißt die Fähigkeit zur Gefechtsfeldaufklärung und -überwachung unter Nutzung unbemannter Luftfahrzeuge. Diese beiden sehr wichtigen Fähigkeiten werden wegen ihrer Komplexität von etlichen europäischen NATO-Mitgliedstaaten in der NATO gemeinschaftlich finanziert und als NATO-Einsatzverbände betrieben, die Europäer könnten sich auch ohne die USA weiterhin auf sie abstützen. Allerdings wäre ohne den Verbund mit zahlreichen nationalen US-AWACS und AGS die Kapazität natürlich deutlich reduziert und das Netz weniger dicht gespannt.

 Das militärische Hauptquartier der NATO in Mons

Das militärische Hauptquartier der NATO in Mons

Ebenfalls müssten im Grundsatz keine gravierenden Veränderungen in der NATO-Streitkräftestruktur (NATO Force Structure) vorgenommen werden. Weiterhin würden interessierte Nationen unter den Europäern von ihnen national finanzierte und betriebene Stäbe und Hauptquartiere sowie für das Allied Command Transformation (ACT) zahlreiche Centers of Excellence in die NATO einbringen. Das wären zum Beispiel das von DEU geführte Unterstützungskommando der NATO (Joint Support and Enabling Command JSEC), der von Deutschland, Polen und Dänemark geführte multinationale Korpsstab (Multinational Corps Northeast MNC NE), das Joint Air Power Competence Center in Kalkar. Allerdings stünden den Europäern wichtige Force Structure Elemente, die die USA einbringen, nicht mehr automatisch zur Verfügung, zum Beispiel das JFC Atlantic in Norfolk.

Was die Transformation und Modernität der Streitkräfte betrifft, wäre das Allied Command Transformation als Triebkraft der Modernisierung ohne die technologisch führende Militärmacht USA nicht mehr leistungsfähig. Hier gäbe es wohl tiefe Einbrüche. Die Europäer könnten nicht mehr von dem großen amerikanischen Vorsprung bei der permanenten „Revolution in Military Affairs“ profitieren, wie seit 2003. Es gäbe dann auch keinen Antreiber mehr, der mit dem überzeugenden Argument, Interoperabilität nach oben mit den US-Streitkräften zu wahren, Druck machen würde.

Ein weiterer einzigartiger Vorteil, den die NATO ihren Mitgliedstaaten bietet und der erhalten bliebe, ist der erreichte hohe Grad an Standardisierung und Interoperabilität. Sämtliche NATO-Mitgliedstaaten haben über die Jahrzehnte die Standards ihrer Kräfte und Fähigkeiten, Strukturen und Prozesse an die in der NATO ausgehandelten Standardisierungsabkommen (STANAGS) ausgerichtet.[17] Dies gleicht den grundsätzlichen Nachteil aus, mit einer Vielzahl kleiner und mittelgroßer nationaler Streitkräfte den einheitlich geführten, ausgerüsteten und bewaffneten Streitkräften einer Großmacht wie Russland entgegentreten zu müssen. Auch ohne die USA wäre diese Ansammlung von nationalen europäischen Streitkräften aus über 30 Nationen also weiterhin interoperabel und militärisch grundsätzlich führ- und einsetzbar, und vermutlich würde man sich bei der Entwicklung neuer Standards auch weiterhin an denen der USA orientieren. Allerdings dürfte es schwieriger werden, sich ohne die USA zu einigen, weil nationale Interessen der größeren, als Rahmennationen auftretenden Länder, wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien, stärker zum Tragen kämen.

Was die Koordinierung der Rüstungsindustrie betrifft, so hat die NATO lediglich eine Konferenz nationaler Rüstungsdirektoren (CNAD). Dieser Bereich ist am wenigsten NATO-vergemeinschaftet. Folglich würde sich hier wenig ändern.

4 Herausforderungen und Probleme einer NATO ohne die USA

Wenngleich eine NATO ohne die USA prinzipiell möglich ist, so muss man allerdings auch die damit verbundenen Implikationen sehen. In einem solchen Fall hätten die Europäer eine Reihe von schwerwiegenden Problemen und Herausforderungen zu bewältigen.

In erster Linie wäre eine massive Steigerung der Verteidigungsausgaben nicht zu vermeiden. Die NATO-Europäer müssten – ohne die USA – in viel größerem Umfang Kräfte und Fähigkeiten entwickeln und der NATO bereitstellen, als sie das seit 1949 und insbesondere seit 1990 gewohnt sind. Die Verteidigungshaushalte müssten in Größenordnungen steigen, die weit über zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) hinausgehen und vergleichbar denen der Hochzeit des Kalten Krieges wären. Dann spräche man über drei bis fünf Prozent Anteile der Verteidigungsausgaben am BIP.

Die Wehrform müsste nicht nur in den potenziellen Frontstaaten konsequent auf „Total Defence“ (zivil-militärische Gesamtverteidigung einschließlich Zivilschutz) ausgerichtet werden. Auch in den rückwärtigen Gebieten (rear areas) wie Deutschland, den BENELUX-Staaten und Schweden müsste die nötige Aufwuchsfähigkeit mit starken Reserven nach Mobilmachung und einen auf Ersatzheeres-Kräften basierendem Wehrersatz zwecks personeller Durchhaltefähigkeit sichergestellt werden. Für Deutschland hieße das: die Orientierung an Finnland und Schweden, die Wiedereinführung der Wehrpflicht einschließlich der erforderlichen Ämter, Stäbe und Truppenteile für Wehrerfassung, Mobilmachung und die militärische Grundausbildung. Daran wird wohl auch jetzt schon, mit fortbestehender US-Präsenz in Europa, kein Weg vorbeiführen.

Die Rüstungsindustrie müsste darauf vorbereitet werden, beim Übergang von Frieden zu Krise und Krieg und im Krieg, wenn er länger als nur wenige Wochen dauern sollte, von ihrer marktwirtschaftlichen Aufstellung von Angebot und Nachfrage zu einer ganz anderen Art von Produktion überzugehen. Dabei ist es unbedeutend, wie man es unter demokratisch-marktwirtschaftlich-rechtstaatlichen Rahmenbedingungen nennen will: „Resilienzwirtschaft“ (Azpodien) oder demokratisch-rechtstaatliche Version von „Kriegswirtschaft.“ Hier liegt eines der größten Probleme weniger für die NATO als Organisation, wohl aber für die EU mit einem künftigen Verteidigungs- und Rüstungskommissar, den sie mitsamt Apparat bräuchte, und vor allem für die Mitgliedstaaten.

Für die europäischen Rüstungsindustrien hätte das weitreichende Konsequenzen. Sie spielen eine Hauptrolle in der Auseinandersetzung mit Putins Russland, denn es geht im Abnutzungs- und Zermürbungskrieg um Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit und vor allem um rüstungswirtschaftliche Überlegenheit. Es lohnt sich, sich zu Analysezwecken mit der Rüstungswirtschaft im Ersten und Zweiten Weltkrieg zu befassen und zu diesem Zweck unter anderem auch in Albert Speers „Erinnerungen“ nachzulesen. Nicht dass diese durchgängig glaubwürdig wären, aber einige bemerkenswerte Fakten sind uns nicht mehr geläufig, wie zum Beispiel, dass die hohe Munitionsproduktion des kaiserlichen Deutschlands in den Jahren 1917 und 1918, mit erstmals massenhaftem Einsatz von Frauen als Industriearbeiterinnen, bis heute unerreicht bleibt und selbst auf dem Höhepunkt der Rüstungsproduktion in Hitlers Nazi-Diktatur im Jahr 1944 nicht übertroffen wurde, wohl aber in den westlichen Demokratien England und den USA.[18] Wie hat die III. Oberste Heeresleitung (Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff) das 1917 bewerkstelligt? Wie haben die Briten Arthur Neville Chamberlains Appeasement-Politik genutzt, um 1938 gerade noch rechtzeitig das Minimum an Luftrüstung zu schaffen, mit dem sie die Wehrmacht in der Luftschlacht um England 1940 erstmals stoppen konnten? Wie haben Winston Churchill in England und Theodore Roosevelt in den USA trotz anfänglich widrigster Umstände – worauf Ben Hodges zu Recht hinweist – ihre „Germany First-Strategy“ zum Erfolg gebracht – mit dem Ergebnis, dass das Dritte Reich dem überlegenen Ressourceneinsatz dieser beiden Alliierten nicht standhalten konnte, 1943 die Schlacht im Atlantik verlor und 1944 auch die Luftschlacht um Deutschland, und dann konsequenterweise mit der Landung in der Normandie und zugleich dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Juni 1944 der Zusammenbruch bis hin zur bedingungslosen Kapitulation seinen Lauf nahm?

Soweit würde es mit einer nuklearen Supermacht wie Russland sicher nicht kommen, aber der Westen kann damit auf historische Belege verweisen, dass auch Demokratien – wenn sie nur wollen und alle Kräfte anstrengen – weitaus mehr Ressourcen mobilisieren, eine erdrückende Materialüberlegenheit und die bei Weitem bessere Logistik ins Feld führen können. Leider ist von dieser Fähigkeit gegenwärtig nicht viel zu sehen, und auch das politische Führungspersonal der maßgeblichen Nationen der Nordatlantischen Allianz macht bislang nicht den Eindruck, aus demselben Holz geschnitzt zu sein wie Churchill und Roosevelt; schon eher gleicht Wladimir Putin seinem Vorbild Josef Stalin.

Für die Europäer ohne die USA ergibt sich daraus als rüstungspolitische Folgerung: Wir müssen zumindest Pläne und Konzepte entwickeln, wie wir mit freien und sozialen Marktwirtschaften und unter demokratisch rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen sowie Lieferketten des globalen Handels einen möglicherweise langen Krieg durchstehen können – mit Übergang zur durchhaltefähigen Versorgung der kämpfenden Truppe mit allem, was sie in einem Abnutzungskrieg benötigt. Auch die wehrhafte Demokratie braucht künftig Rüstungsminister und Manager von der fachlich-professionellen Leistungsfähigkeit eines Ludendorff im Ersten Weltkrieg und eines Albert Speer und Erhard Milch im Zweiten Weltkrieg, die im Krieg exorbitante Leistungssteigerungen der Kriegsproduktion zuwege brachten. Selbstverständlich kann die Bundesrepublik dabei nicht Methoden wie Sklavenarbeit, Zwangsarbeit von Kriegsgefangen usw. anwenden, wie es der SS-Staat praktizierte. Aber wie in Großbritannien unter Churchill und den USA unter Roosevelt muss es auch den Demokratien Europas künftig wieder möglich sein, rechtzeitig auf eine kriegsentscheidende Steigerung der Rüstungsproduktion umzustellen. Als Ergebnis nüchterner Lagebeurteilung muss jetzt schon von den zuständigen zivilen und militärischen Stellen der Bundesregierung sowie in der NATO als auch der EU gefordert werden, Konzepte und Pläne zu entwickeln, wie man in NATO-Europa die Rüstungsproduktion in Frieden, in der Krise und im Krieg so steigert, dass Putins Russland – selbst mit Unterstützung Chinas, Irans und Nordkoreas – nicht mithalten kann. Und bei dieser Forderung dürfen alle Beteiligten in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Bundeswehr nicht sofort in Ohnmacht fallen oder protestierend auf die Straße gehen.

Eine wichtige Frage ist, wozu die NATO und damit Deutschland als ihr militärisch-operativer Kern künftig operativ in der Lage sein muss? Hier sind drei unterschiedliche Arten von Operationen erforderlich:

  • Den Aufmarsch rechtzeitig und vollständig hinbekommen. Das setzt funktionierende zivil-militärische Gesamtverteidigung beim Übergang von Frieden zur Krise voraus, wie wir sie im Kalten Krieg schon einmal auf gutem Stand hatten, einschließlich Mobilmachung, Schutz kritischer Infrastruktur gegen Sabotage, Aktivierung des im Rechtsrahmen vorgesehenen Leistungsgesetzes (personell und materiell) und reibungslos ablaufende politische Beschlussfassungen sowohl national (Bundestag) als auch in Brüssel zu NATO Artikel 4 (Konsultationen) und Artikel 5 (Bündnisfall-Beschluss).

  • Erfolgreiche Anfangsoperationen: Schlagen gegnerischer Kräfte mit dem Ziel des Haltens eigenen Raums, des Schutzes eigener Bevölkerung sowie kritischer Infrastruktur und des Rückzugs der Angriffskräfte des Gegners.

  • Durchführung von Folgeoperationen: Nachsetzen mit dem Ziel der Vernichtung der Angriffs-Streitkräfte des in den Anfangsoperationen angeschlagenen Gegners; dies wäre verbunden – ganz im Sinne der Harmel-Doktrin – mit einem Verhandlungsangebot zu Waffenstillstand und Friedensvertrag (statt diktiertem Siegfrieden nach völliger Unterwerfung unter den Willen des Aggressors).

Im deutschen strategischen Denken muss man heutzutage über eineinhalb Jahrhunderte zurückblicken, um eine militärische Epoche zu identifizieren, in der zum letzten Mal preußische oder deutsche Feldzüge in diesem Sinne siegreich geführt und Kriege mit einem Waffenstillstand und nachhaltigen Friedensschluss erfolgreich beendet wurden, genauer gesagt eigentlich nur im Jahr 1864 gegen das kleine Dänemark und 1866 gegen die europäische Großmacht Österreich-Ungarn. Das alles spielt im deutschen strategischen Denken seit sieben Jahrzehnten so gut wie keine Rolle mehr – und entsprechend vergessen sind die strategischen und operativen Lehren, die sich daraus auch für die Gegenwart und Zukunft ableiten lassen.

Es wird sich daher im deutschen strategischen Denken vieles ändern müssen, wenn sich Deutschland nicht mehr auf die Bündnisführungsmacht USA in der NATO abstützen kann, was geopolitische Sicherheitspolitik betrifft. Vielmehr wird Deutschland gezwungen sein, eine wirklich verantwortliche Ko-Führungsrolle in der NATO und eine noch weiter reichende Führungsrolle in einer geopolitisch handlungsfähigen EU einzunehmen.

Denn bei künftigen NATO-Operationen (ohne US-Beteiligung) müssten die von Deutschland als Rückgrat der konventionellen NATO-Bündnisverteidigung angeführten NATO-Kräfte grundsätzlich in der Lage sein, wie einst Preußen unter Helmuth von Moltke bei Königgrätz, schneller zu sein beim Aufmarsch als der Gegner, und in Anfangsoperationen dessen Hauptkräfte mit überlegener Taktik und Technik zu schlagen. In Folgeoperationen müssten sie in der Lage sein, den Gegner zum Rückzug zu zwingen und ihn durch glaubwürdige Androhung der Vernichtung seiner Invasionskräfte zu einem Waffenstillstand zu bewegen, aus dem heraus ein nachhaltiger Friedensschluss möglich wird.

Allerdings: Mit Österreich bei Königgrätz und Bismarcks gelungenem Frieden von Olmütz ist Putins Russland nicht vergleichbar. Putin spielt mit höheren Einsätzen, und Russland ist noch immer eine nukleare Supermacht, während die NATO-Mitgliedstaaten ohne die USA lediglich begrenzte nukleare Kapazitäten und Optionen haben. Frankreich und Großbritannien können sich zwar selbst vor nuklearer Erpressung schützen, aber im Sinne von erweiterter Abschreckung keinen nuklearen Schirm für die übrigen 29 Verbündeten aufspannen wie die USA. Es ist kaum vorstellbar, dass europäische NATO-Streitkräfte ohne die USA, gegenüber Putins Russland einen Krieg so erfolgreich führen und beenden könnten, wie weiland Moltke gegen die rivalisierende Großmacht seiner Epoche. Bei NATO-Operationen mit im Kern deutschen statt amerikanischen Land- und Luftstreitkräften besteht zwar gute Aussicht, den Aufmarsch erfolgreich hinzubekommen und möglicherweise auch in den Anfangsoperationen (Verzögerung, Verteidigung, Gegenangriffe) durch überlegene Taktik, Technik und operative Führungskunst die Angriffskräfte Russland erfolgreich zu schlagen. Aber Folgeoperationen auf russischem Territorium, mit dem Ziel, dem geschlagenen Gegner bis zur völligen Vernichtung seiner Streitkräfte nachzusetzen und ihn so zu einem Waffenstillstand und Friedensschluss zu zwingen, wäre gegenüber Russland, das für diesen Fall die nukleare Eskalation androht und dazu auch in der Lage ist, ein utopischer Gedanke.

Vielmehr würde es bei NATO-Operationen ohne die USA wohl zuvorderst um Verteidigung auf eigenem Territorium und ein Zurückschlagen des Gegners in den Anfangsoperationen gehen. Auch bei Folgeoperationen bliebe es voraussichtlich beim hartnäckigen Verteidigen mit begrenzten Gegenangriffen, jedoch im Wesentlichen begrenzt auf das eigene Territorium der NATO-Mitgliedstaaten. Die operative Kriegführung der NATO würde gezwungen sein, Russland als Sanktuarium zu behandeln und keine Schläge auf russischem Gebiet – oder was Russland als „sein Staatsgebiet“ definiert – zu führen. Aufgrund russischer nuklearer Eskalationsandrohung würde zumindest zweifelhaft sein, dass sich die NATO zu Schlägen in die Tiefe des Raumes zum Beispiel in der russischen Kaliningrad-Oblast hinreißen ließe. Aber auch Ziele auf weißrussischem Staatsgebiet könnten tabu sein, weil es dann mit Russland in einer großrussischen Union verbunden und damit ebenfalls als russisches Sanktuarium gelten dürfte. Erst recht wäre russisches Kernland betroffen. Der gegenwärtige Krieg Russlands auf nahezu ausschließlich ukrainischem Boden und die übergroße Vorsicht des Westens, bei seiner Unterstützung der Ukraine keine zur Eskalation führenden roten Linien Moskaus zu überschreiten, dürfte auch im verteidigungspolitischen Denken der NATO-Mitgliedstaaten zu Vorstellungen führen, die einer erfolgversprechenden Abschreckung und Verteidigung zuwiderlaufen.[19] Statt glaubwürdig androhen zu können, dass Russland im Fall einer Aggression im eigenen Land selbst schweren und auf Dauer nicht erträglichen Schaden erleiden würde, bliebe den NATO-Europäern wohl doch nur die frustrierende und wenig ermutigende Perspektive, Russlands Streitkräfte immer wieder vernichtend schlagen zu müssen, bis seine Ressourcen personell und materiell erschöpft wären, und das alles mit sämtlichen Kollateralschäden immer nur auf eigenem NATO-Territorium.

Bei einer NATO-Führungsrolle Deutschlands und Polens in der konventionellen Bündnisverteidigung ohne die USA dürften die strategisch-operativen Möglichkeiten somit sehr eingeschränkt sein: Wir wären in der Welt eines Abnutzungs- und Erschöpfungskrieges vergleichbar dem Ersten Weltkrieg vor 110 Jahren und der Ukraine heute, jedenfalls nicht in dem gewohnten Kriegsbild, einen Angriffskrieg gegen die NATO in einem kurzen hochintensiven Krieg in wenigen Wochen abwehren und mit einem Status-quo-ante-Waffenstillstand und Verhandlungsfrieden rasch beenden zu können.

Das aber wäre hochgefährlich: Denn eine solche Perspektive, bei dem die Kriegsschäden absehbar einseitig aufseiten des Angegriffenen lägen, bietet kaum noch eine glaubwürdige Abschreckung im Kopf des Gegners, führt aber zu einem erheblichen Maß an Selbstabschreckung und damit Nachgiebigkeit. Mit weniger Abschreckungswirkung beim Gegner und höherer Selbstabschreckung steigt zugleich die Gefahr, dass Abschreckung im Risikokalkül des Angreifers nicht wirkt und der Krieg tatsächlich ausgetragen werden müsste. Dann würde auch Bismarcks Satz wieder gelten: Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Geschichte entschieden, sondern durch „Eisen und Blut“. Putin denkt wohl genauso. Erst recht, wenn er davon ausgehen kann, dass russisches Territorium tatsächlich als Sanktuarium respektiert würde und sein Risiko maximal darin besteht, dass seine eingesetzten Truppenkörper geschlagen werden, wobei er immer noch wie im Zweiten Weltkrieg darauf hoffen kann, mehr Personal und Kriegsmaterial mobilisieren und nachführen zu können, als der in seinen Augen ohnehin schwache, dekadente und post-heroische Westen, erst recht ohne die USA.

Zur strategischen und operativen Planung einer NATO ohne die USA folgt aus den bisherigen Überlegungen: Es ist vorstellbar, dass die NATO ohne die USA im Frieden weiter funktioniert und auch ein gewisses, aber deutlich reduziertes Maß an glaubwürdiger Abschreckung zustande bringt. Es ist auch vorstellbar, dass eine solche NATO in einem Krieg mit Russland erfolgreiche Anfangsoperationen zur Abwehr russischer Angriffsoperationen gelingen. Aber es ist nicht vorstellbar, dass eine solche NATO in den Folgeoperationen eines langanhaltenden Abnutzungskrieges die Oberhand gewönne, ohne dass die USA letztlich doch massiv in diesen europäischen Krieg eingriffen und den Ausschlag gäben. Am Ende wird eine solche NATO immer darauf ausgerichtet sein müssen, Ost- und Mitteleuropa solange zu halten, bis die USA doch wieder eintreffen und sich kriegsentscheidend engagieren.

5 Geopolitisch-strategische Optionen Europas

Welche geopolitisch-strategischen Optionen der Anlehnung ständen den NATO-Europäern offen? Im Grunde bestehen drei Möglichkeiten. Die naheliegendste ist die, den bewährten Status quo der NATO so weit wie möglich zu erhalten. Das bedeutet, wir versuchen so viel von der schwindenden Pax Americana und der wohlwollenden Hegemonie der USA wie möglich zu bewahren, indem wir größere Lasten in der transatlantischen Lastenteilung in Richtung eines 60:40 statt bisher 30:70 übernehmen. Im Gegenzug sollte es erreichbar sein, von den USA weiterhin den unverzichtbaren Nuklearschirm gegen russische nukleare Erpressung zu erhalten, einschließlich der damit verbundenen Minima an Kräften (Bodentruppen Schulter an Schulter, nuklearrelevante Aufklärung, Raumwaffen und Führungselemente). Dazu gehört auch eine belastbare Perspektive, dass die USA wie 1917 und 1942 im Verlauf eines längeren Abnutzungs- und Zermürbungskriegs in Europa zur Not letztlich erneut eingreifen und die Entscheidung zugunsten Europas gegenüber Russland so herbeiführen würden, wie dies ausschlaggebend bei den Weltkriegen der Fall war.

Im Gegenzug müssten sich die NATO-Europäer mit Blick auf Kräfte und Fähigkeiten so ertüchtigen, dass sie nicht lediglich als Hilfstruppen der USA, sondern aus eigener Kraft konventionell stark genug wären, einen großangelegten, lang andauernden Angriffskrieg über längere Zeit mit Aussicht auf Erfolg abwehren zu können. Die NATO- und EU-Europäer müssten auch politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich resilient genug werden, um in einer hybrid geführten Auseinandersetzung die Oberhand zu behalten. Das lässt sich mit entsprechend großer Anstrengung erreichen – durch überlegene Führungskunst, technologische Überlegenheit, angemessene Anzahl an kriegstüchtigen Streitkräfte-Verbänden, vorbereiteter Gesamtverteidigung, aufwuchsfähiger und leistungsstarker Rüstungsindustrie usw.

Mit Blick auf die künftige NATO würde diese Lösung bedeuten, dass die USA Mitglied bleiben, jedoch ihren Anteil an Kräften, Fähigkeiten und bei der Finanzierung deutlich zurücknähmen und dieser von den Europäern auszugleichen wäre, einschließlich bei den Enablern und Force Multipliern, mit Ausnahme der nuklearen Anteile. Der transatlantische Verbund bliebe in dieser Variante im Prinzip gewahrt, mit einem sehr substanziellen Burden Shifting (das heißt also mehr als nur Burden Sharing) zulasten der Europäer. Für die USA ginge das einher mit dem Verlust ihrer ausgeprägten Führungsrolle innerhalb der Allianz und den damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten. Die NATO würde dann deutlich europäischer und zwangsläufig auch enger mit der EU zu verbinden sein.

Die zweite Option käme zum Zuge für den Fall eines vollständigen Rückzugs der USA aus ihrer bisherigen Rolle als Sicherheitsgarant Europas. Lösten sich die USA vollständig aus der NATO, einschließlich aus ihren nuklearstrategischen Zusagen und Beiträgen, so kämen die NATO-Europäer nicht umhin, sich einen Ersatz zu suchen. Hierfür gäbe es theoretisch drei Wege:

  1. Die Briten und Franzosen springen als „kleine“ Hegemonialmächte ersatzweise ein, um auf der nuklearstrategischen Ebene aufgrund ihres Alleinstellungmerkmals als europäische Nuklearmächte zumindest ansatzweise eine extended deterrence und damit einen nuklearen Schirm gegen nukleare Erpressung für die nichtnuklearen Verbündeten aufrechtzuerhalten. Aufgrund ihrer als Mittelmächte begrenzten Ressourcen würden sie dann aber nicht mehr in gleicher Weise zugleich auch ihre Rolle als Seemächte und bei den konventionellen Land- und Luftstreitkräften ausfüllen können. Es müsste also einen innereuropäischen Burden-sharing-Mechanismus geben, bei denen sich die einzelnen Verbündeten je nach Leistungsfähigkeit komplementär ergänzen und insgesamt ein rundes Dispositiv herauskommt, das die Anforderungen glaubwürdiger Abschreckung sowohl im multidomänen, konventionellen als auch im nuklearen Bereich erfüllt, zumindest ansatzweise. Es würde dabei besonders darum gehen müssen, eine gemeinsame europäische nukleare Gegen-Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland zu entwickeln, die aus den französischen und britischen Kräften sowie den Beiträgen der bisherigen nuklearen Teilhabenationen (Deutschland, Italien, Türkei, Niederlande und Belgien) bestünde. Kollektiv ließe sich daraus eine europäische nukleare Abschreckungsfähigkeit konstruieren, die in der Perzeption Russlands aber insgesamt weitaus schwächer, verwundbarer und damit auch weniger glaubwürdig sowie überzeugend ausfiele als bisher.

  2. Für den Fall, dass ein solcher Ansatz daran scheiterte, dass weder Frankreich noch Großbritannien bereit wären, ihre Nuklearkräfte für eine europäische extended deterrence einzubringen (zum Beispiel im Fall einer von Marine Le Pen geführten Regierung), könnten Deutschland und auch Polen sowie Schweden den Weg versuchen, in Anlehnung an Großbritannien und mit den von den USA übernommenen, unter britischer Verfügungsgewalt stehenden Kernwaffen in Verbindung mit den gekauften F-35, eine nationale nukleare Minimal-Gegenabschreckung zu bilden, ohne dabei selbst zu vollwertigen Nuklearmächten zu werden. Es bliebe im Prinzip beim jetzigen Ansatz der nuklearen Teilhabe in der NATO, mit dem Unterschied, dass die Verfügungsgewalt und Freigabe der in Deutschland und bei den anderen nuklearen Teilhabe-Nationen gelagerten Nuklearwaffen an die Nuklearmacht Großbritannien übertragen und von dieser anstelle der USA ausgeübt würde.

  3. Eine ganz andere Option bliebe auch noch offen: nämlich sich statt des wohlwollenden Hegemons USA einen ähnlich wirkungsmächtigen anderen Hegemon als Anlehnungsmacht zu suchen. Grundlage dafür wäre in diesem Fall nicht mehr die gemeinsame Wertebasis als rechtsstaatliche Demokratie und offene Gesellschaft, sondern gemeinsame pragmatische Interessen an Stabilität, Schutz und Handel. Damit wirbt China, auch in Europa, und womöglich nicht völlig ohne Erfolg:[20] China hat Interesse an weiter ausbaufähigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Europa; Europa hat durchaus die Neigung zur Äquidistanz und will sich nicht in einen pazifischen Krieg zwischen den USA und China hineinziehen lassen; die deutsche Wirtschaft hat weiterhin ein überragendes Interesse an China als Markt und Partner bei der Technologieentwicklung. So wenig diese Idee überzeugten Atlantikern gefallen mag, aber bei einer konsequenten Abwendung der USA von Europa kommt Europa – auch unter dem Eindruck des rapide steigenden chinesischen Einflusses auf Russland – nicht umhin, mit China zumindest zu sondieren, ob und wie weitgehend chinesische Sicherheitsgarantien zu haben wären, und um welchen Preis. Das sollte auch den USA gegenüber signalisiert werden, bevor sie die weitreichende Entscheidung einer Abwendung von Europa träfen. Aus amerikanischer Sicht wäre das eine Konstellation, die mit weitreichenden geopolitischen Nachteilen verbunden wäre.

Ferner ist es theoretisch nicht auszuschließen, dass eine nur noch von den Europäern getragene Rest-NATO unter dem Einfluss der traditionellen großen Mächte Europas zu einem neuen Konzert von Nationalstaaten würde und die alten Konstellationen wieder entstünden: Deutschland – und in seinem Schatten andere kleinere Nationen – könnte dann in einer Rückbesinnung auf vermeintlich erfolgreiche Bismarck‘sche Politik geneigt sein, den „Interessenausgleich“ mit Russland zu suchen und dabei die Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Nationen hintenanzustellen oder gar ganz zu opfern. Dies ist ein Verdacht, der latent schon heute überall in Osteuropa spürbar ist. Einen solchen neuen deutschen Sonderweg von sich aus einzuschlagen, ist das Letzte, was man einer Bundesregierung anraten kann. Denn für keine andere große Nation in Europa würde aufgrund seiner Mittellage und seiner Geschichte die Lage dann wieder so prekär und gefährlich wie für Deutschland, und daher verbietet es sich nicht nur aus unserem heutigen geläuterten Werteverständnis, sondern auch aus unserer Interessenlage ganz klar, in Richtung einer neuen Schaukelpolitik statt der festen Einbettung in den Westen zu gehen. Sollte der Westen wirklich auseinanderbrechen, sollte es ganz zuletzt Deutschland sein, das in der NATO das Licht ausmacht und die Tür schließt – soweit darf es nicht kommen. Aber es ist durchaus angebracht und auch an der Zeit, den Verbündeten in Washington, Paris und London aufzuzeigen, welche Konsequenzen es haben könnte, wenn die USA den transatlantischen Verbund aufgäben und Europa in nationalstaatliche Konstellationen vergleichbar der des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückfiele.

6 Politische, militärische und rüstungswirtschaftliche Führungsrolle zu Dritt

Um eine über das bisherige Maß hinausgehende, herausgehobene Verantwortung in der NATO wahrnehmen zu können, muss Deutschland zuvor eine von Gordon Ash geforderte Voraussetzung erfüllen – es muss weltpolitikfähig werden.[21] Zumindest braucht es eine „Weltpolitikunfähigkeits-Vermeidungsstrategie“. Denn für die meisten kleineren Verbündeten in Osteuropa wird Deutschland nolens volens gegenüber der russischen Bedrohung zur wichtigsten und unverzichtbaren Anlehnungsmacht nach den USA. Zugleich braucht Deutschland selbst einen oder zwei Partner, an die es sich anlehnen und die eigenen Handicaps ausgleichen kann – insbesondere mit Blick auf eine erweiterte nukleare Abschreckung, und darüber hinaus auch zum Beispiel mit Blick auf die globale Seemacht-Präsenz mit Flugzeugträger-Kampfgruppen und Stützpunkten. Dafür kommen nur die USA, und danach mit deutlichem Abstand Großbritannien und Frankreich infrage. Diese beiden sicherheitspolitisch wichtigsten europäischen Partner Deutschlands haben allerdings auch ihre spezifischen Handicaps: Frankreich und Großbritannien sind Nuklearmächte und P-5-Nationen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit langer Weltpolitik-Tradition und geopolitischen Interessen. Beide sind ambitioniert und führungswillig, aber beiden fehlt es an der wirtschaftlichen Machtbasis in Form von Ressourcen. Frankreich hat seit jeher Vorbehalte gegenüber der NATO, die seine Rolle in der Allianz beeinträchtigen; Großbritannien hat sich mit dem Brexit in der EU selber aus dem Spiel genommen. Demgegenüber hat Deutschland den Vorteil, sowohl in der NATO als auch der EU jeweils eine Ko-Führungsrolle unbestritten spielen zu können, nicht aber in den Vereinten Nationen. Dort ist es lediglich eine nukleare Teilhabe-Macht in Abhängigkeit von den USA. Jede der drei großen europäischen Nationen hat somit gravierende Handicaps und keine bietet sich als natürlicher Ersatz für die bisherige Führungsrolle der USA an. Hinzu kommt in Europa die seit einem Jahrtausend durchlebte Erfahrung, dass sich eine einzelne Nation nie nachhaltig als Vormacht etablieren konnte – weder Deutschland noch Spanien, Frankreich, Schweden, England oder Russland.

Eine Lösung kann daher nur darin bestehen, dass Frankreich, Großbritannien und Deutschland als die bedeutendsten europäischen Mittelmächte zu Dritt eine Führungsrolle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas einnehmen und ihre Handicaps gegenseitig ausgleichen. So könnten sie als Rahmennationen allen übrigen Verbündeten in der NATO ermöglichen, sich entsprechend ihren Beiträgen und ihrem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gewicht einzubringen und die Allianz in fairer Weise mitzugestalten. Hier hat Deutschland viel richtig gemacht und kann das fortsetzen.

7 Deutsche Verteidigungspolitik – kompatibel mit einer NATO ohne die USA

Sind die bisherigen Vorstellungen Deutschlands über seine künftige Rolle auch in einer NATO ohne die USA zielführend? Im Prinzip muss man dieses bejahen. Die deutschen Vorstellungen tragen nicht nur zu tendenziell eigenständigerer europäischer Verteidigungsfähigkeit bei, sondern auch zum transatlantischen Burden shifting. Damit sind sie geeignet und auch zwingend erforderlich, um die USA davon zu überzeugen, in der NATO engagiert zu bleiben. Die Bundeswehr ist auf dem Weg, zum Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung mit dem Schwerpunkt in Nordosteuropa zu werden. Ziele sind hochleistungsfähige, einsatzbereite und lange durchhaltefähige Streitkräfte-Beiträge – vor allem zur Vorneverteidigung: Mit mindestens drei Divisionen plus Korpstruppen umfassenden Landstreitkräften und einer durchsetzungsfähigen operativen Luftwaffe mit strategischer Reichweite, die auch russisches Kernland erreichen kann, sowie einer hochwirksamen Luftverteidigung für das eigene Land und seine kritische Infrastruktur, würde die Bundeswehr künftig einen sehr substanziellen Beitrag zur Land- und Luftkriegführung in das Bündnis einbringen. Zudem würde Deutschland über eine Marine verfügen, welche zur Seeherrschaft über die Ostsee und zugleich zum Schutz der kritischen Unterwasser-Infrastruktur sowie der Seeverbindunglinien, insbesondere über den Atlantik, beiträgt.

Auch mit Blick auf zivil-militärische Gesamtverteidigung im rückwärtigen Raum zur Gewährleistung der Operationsfreiheit der Allianz und der Funktion Deutschlands als logistische Drehscheibe ist Deutschland auf gutem Wege. Der „Operationsplan Deutschland“ ist konzeptionell und planerisch weitgehend entwickelt; die fortschreitende Umsetzung wird in den derzeit laufenden NATO-Übungen getestet.

Deutschland könnte und sollte auch über eine durchhaltefähige Rüstungsindustrie verfügen, die notfalls über Jahre bei Bedarf hochfahrbar ist und in der Lage wäre, Russlands Kriegsproduktion qualitativ und quantitativ zu übertreffen. Diese zu aktivieren bedarf allerdings eines entsprechenden politischen Willens.

Deutschland kann Erwartungen an eine Führungsrolle in einer immer schwieriger werdenden geopolitischen Lage allerdings nur dann gerecht werden, wenn es die vom Verteidigungsminister zu Recht geforderte Kriegstüchtigkeit nicht nur in der Bundeswehr und der Rüstungswirtschaft herstellt, sondern auch mit Blick auf Politik und Gesellschaft die nötige Resilienz entwickelt. Davon sind wir politisch noch weit entfernt, denn das würde unter anderem voraussetzen, zunächst die eigene ständige Selbstabschreckung zu beenden. Es bedarf insbesondere einer verlässlichen nuklearen Teilhabe, den Fortbestand einer extended nuclear deterrence gegenüber Russland und eines klaren politischen Bekenntnisses dazu.

Die deutsche Verteidigungspolitik hat mit ihrer richtigen Prioritätensetzung auf Abschreckung und kollektive Landes- und Bündnisverteidigung einen seit 2014 notwendigen Paradigmenwechsel vollzogen: Beiträge zum Krisenmanagement dürfen unter den absehbaren Bedingungen nicht mehr strukturbestimmend für das deutsche Verteidigungsdispositiv sein wie in den zurückliegenden dreißig Jahren, sondern müssen mit Kräften und Fähigkeiten bestritten werden, die sich aus der künftig strukturbestimmenden Priorität der Landes- und Bündnisverteidigung ergeben. Und zu guter Letzt muss Deutschland auch in der Lage sein, eher symbolische als substanzielle Beiträge zur Wahrung der internationalen regelbasierten Ordnung gegenüber China zu erbringen.

8 Zusammenfassung

Die NATO kann auch ohne die USA funktionieren, und eine – wenn auch deutlich verminderte – Verteidigungsfähigkeit und damit kriegsverhütende Abschreckungswirkung gegenüber Russland entfalten, wenn sie künftig unter einer kollektiven Führung der europäischen Mittelmächte und mit den Beiträgen der immer noch 31 Nationen weitermachen müsste – solange die Allianz ihre Geschlossenheit und Entschlossenheit (Unity and Resolve) als ihr Gravitationszentrum bewahrt.

Allerdings wären die strategischen und operativen Optionen im Falle des Versagens von Abschreckung und der Notwendigkeit, einen Verteidigungskrieg gegen Russland – und zwar ein von China, Nordkorea und Iran unterstütztes Russland – führen zu müssen, drastisch eingeschränkt. Vermutlich müsste sich eine NATO ohne die USA dann auf einen langen Abnutzungskrieg auf eigenem Territorium einstellen und auf hohe Kosten vorbereiten müssen. Dabei hätte das russische Territorium wohl den Status eines militärisch unantastbaren Sanktuariums und die Kriegsschäden würden damit sehr einseitig zulasten der eigenen Verbündeten ausfallen. Am ehesten liefe es dann auf eine Entwicklung wie in 1917 und 1942 hinaus, dass letztlich eine Rückkehr der USA und ihr Eingreifen auf dem europäischen Kriegsschauplatz den Ausschlag gäben. Eine NATO ohne oder mit stark reduziertem US-Engagement müsste sich deshalb darauf einstellen, für viele Monate, womöglich mehrere Jahre in einem russischen Angriffskrieg zumindest durchzuhalten, bis die USA politisch, militärisch und rüstungswirtschaftlich wieder zum Eingreifen bereit wären.

Die NATO wäre auch ohne die USA für die Europäer und Kanada der geeignete Rahmen, und wohl der einzige erfolgversprechende Rahmen, aus eigener Kraft Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung gegenüber Russland zu entwickeln.

Das ist zunächst einmal eine gute Nachricht und keineswegs selbstverständlich. Mit der bewährten NATO und ihren Strukturen, Prozessen, Kräften und Fähigkeiten haben die Europäer auf politischer und militärischer Ebene ein weiterhin intaktes Instrument, gemeinsam mit den komplementären Stärken der EU, mit dem sie Russland und auch China Paroli bieten können. In diesem Rahmen müssten und könnten die Europäer grundsätzlich in der Lage sein, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu bündeln, zu steigern und die Lücken, die die Amerikaner bei einem Ausscheiden reißen würden, zu schließen – wenn auch in vielen Bereichen nicht vollständig, wohl aber zumindest ansatzweise.

Briten und Franzosen müssten dabei zusätzliche Anstrengungen unternehmen, die im Bereich der erweiterten nuklearen Abschreckung entstehende Lücke zu schließen. Zudem müssten sie gemeinsam mit der stärksten konventionellen Macht in der Allianz, nämlich Deutschland mit der Bundeswehr, in den Dimensionen See- und Luftmacht eine europäische Machtprojektionsfähigkeit zustande bringen. Deutschland müsste gemeinsam mit Polen eine Hauptrolle bei den Landstreitkräften in Nordosteuropa ausfüllen.

Die schlechte Nachricht lautet demgegenüber: Es gibt eine lange Negativliste, die die Hoffnungen auf eine NATO ohne die USA doch ganz erheblich einschränkt. In keiner Weise ersetzbar scheint vor allem die erweiterte nukleare Abschreckung, hier liegt das größte Problem. Gegenüber einem Gegner wie Russland, der nukleare Erpressung gegenüber konventionellen NATO-Mitgliedstaaten zum bevorzugten Prinzip macht, ist dieses Manko gravierend. Es schränkt die politische und militärische Handlungsfähigkeit der bedrohten Regierungen enorm ein und ist geeignet, beim Entscheidungsprozess in Richtung Bündnisfall und im Verlauf eines Kriegs den Zusammenhalt der Allianz zu sprengen.

Hinzu kommt, dass das Füllen der durch Wegfall der USA entstehenden großen Lücken im konventionellen Bereich eine enorme Steigerung der europäischen Verteidigungshaushalte erfordern würde, der alle Domänen beträfe: In der maritimen Machtprojektionsfähigkeit müsste der Wegfall der sechs atlantischen US-Trägergruppen kompensiert werden (die Europäer verfügen kollektiv gegenwärtig über drei). Die maritimen Verbindungswege (Sea-lines of communication, SLOCs) müssten vom Atlantik bis zur Nord- und Ostsee, im Mittelmeer und im Schwarzen Meer gesichert werden. Die Weltraumfähigkeiten der USA würden ebenso schwer zu ersetzen sein wie ihre einzigartige erweiterte nukleare Abschreckungskapazität. Mit Blick auf die amerikanische Luftmacht dürfte es für die Europäer weniger ein grundsätzliches Problem geben, wohl aber ein quantitatives hinsichtlich der schieren Menge hochwertiger Kampflugzeuge und bodengebundener Luftverteidigungssysteme. Europa müsste noch am ehesten in der Lage sein, die nötige Anzahl an Verbänden der Landstreitkräfte zu stellen. Bei den Landstreitkräften gibt es aber auch einen essenziellen Zusammenhang mit der nuklearen Abschreckung: Ohne US-Bodentruppen „Schulter an Schulter“ mit den Verbündeten, wie bisher, gäbe es für Letztere auch keinen glaubwürdigen Nuklearschirm mehr.

Mag im konventionellen Bereich der Wegfall an US-Kräften und Fähigkeiten nach Zahl und Qualität der einzelnen Truppenkörper und Waffensysteme bei größten Anstrengungen der Europäer kollektiv vielleicht noch kompensierbar erscheinen, so sind es zwei Aspekte nicht: (1) Ohne die USA hätte die NATO keine den US-Streitkräften vergleichbare kohärente nationale Streitmacht mit breiter Palette an Kräften und Fähigkeiten mehr, die rein national den russischen überlegen wäre, und an die sich die jeweils deutlich kleineren Streitkräfte der europäischen Nationen anlehnen könnten. (2) Ohne die US-Streitkräfte in Europa mit ihrem doppelhütigen Kommandosystem, in der Spitze mit SACEUR und US EUCOM, fiele das „Notfall-Sicherheitsnetz“ weg, das heutzutage auch dann noch greifen würde, wenn sich der Nordatlantikrat auf keine Entscheidung einigen könnte. Bildlich gesprochen, würde jede verteidigungspolitische Trapeznummer der Europäer ohne das amerikanische Netz darunter und ohne amerikanischen nuklearen Schirm darüber deutlich riskanter und gefährlicher.

Zusammengefasst sind es also die folgenden drei Kernpunkte: (1) Wegfall der amerikanischen Extended Deterrence, (2) Wegfall des bei Weitem größten kohärenten nationalen Streitkräftedispositivs einer Weltmacht und (3) Wegfall des die NATO zusätzlich absichernden nationalen amerikanischen Führungsnetzes in Europa, die für die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit von großem Wert sind, aber von den Europäern nicht aus eigener Kraft geleistet werden können. Mit diesen Einschränkungen und Abstrichen würden sie in einer fortbestehenden NATO ohne die USA leben müssen, und das dürfte nicht ohne Auswirkungen auf ihre Bereitschaft bleiben, sich mit Putins Russland und Xis China anzulegen und deren aggressiven Revisionismus beherzt entgegenzutreten. Darüber müssen sich dann auch die USA im Klaren sein – im Endeffekt wäre eine derart eingeschränkte NATO für beide Seiten des Atlantiks eine große Schwächung und ein verhängnisvoller strategischer Fehler.


Der Beitrag basiert auf einem Papier, das der Verfasser für die Liebenberg Konferenz geschrieben hatte, die von der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und vom Mittler-Report Verlag vom 6.–8. Mai 2024 veranstaltet wurde. Der Verfasser dankt all denjenigen, die Kommentare und Ergänzungen gegeben haben.


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Online erschienen: 2024-09-07
Erschienen im Druck: 2024-09-06

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Aufsätze
  4. Europäische Sicherheit angesichts eines abrupten oder graduellen Rückgangs amerikanischer Sicherheitsgarantien
  5. Kann sich Europa konventionell gegen eine militärische Bedrohung durch Russland behaupten?
  6. Der Gazakrieg und seine Folgen für den Nahen Osten
  7. Kurzanalysen
  8. Die Rolle von Kernwaffen in der europäischen Sicherheit – geht es auch ohne die USA?
  9. Kann Europa mittelfristig rüstungswirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen?
  10. Die Angriffe der Huthi-Rebellen auf Schiffe im Roten Meer und ihre Folgen
  11. Russland und die Türkei – Annäherung unter zwei Rivalen
  12. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  13. Lehren aus dem Ukraine Krieg
  14. Nick Reynolds: Heavy Armoured Forces in Future Combined Arms Warfare. London: RUSI December 2023
  15. Howard J. Shatz/Clint Reach: The Cost of the Ukraine War for Russia. Santa Monica, Cal.: RAND Corporation, Dezember 2023
  16. Militärkonkurrenz zwischen USA und China
  17. Seth G. Jones/Alexander Palmer: Rebuilding the Arsenal of Democracy – The U.S. and Chinese Defense Industrial Bases in an Era of Great Power Competition. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), März 2024
  18. Mackenzie Eaglen: Keeping Up with the Pacing Threat: Unveiling the True Size of Beijing’s Military Spending. Washington, D.C.: American Enterprise Institute, April 2024
  19. Marek Jestrab: A maritime blockade of Taiwan by the People’s Republic of China: A strategy to defeat fear and coercion. Washington, D.C.: The Atlantic Council, Dezember 2023
  20. Grundsatzfragen amerikanischer Außenpolitik
  21. Michael J. Mazarr/Tim Sweijs/Daniel Tapia: The Sources of Renewed National Dynamism. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, April 2024
  22. Thomas Carothers/Benjamin Feldman: Examining U.S. Relations With Authoritarian Countries. Washington, D.C.: The Carnegie Endowment, Dezember 2023
  23. Buchbesprechungen
  24. Andreas Fulda: Germany and China. How Entanglement Undermines Freedom, Prosperity and Security. London u. a.: Bloomsbury Academic 2024, 256 Seiten
  25. Janka Oertel: Ende der China-Illusionen. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen. München: Piper Verlag 2023, 301 Seiten
  26. Susanne Weigelin-Schwiedrzik: China und die Neuordnung der Welt. Wien: Christian Brandstätter Verlag (Reihe „Auf dem Punkt“, herausgegeben von Hannes Androsch) 2023, 216 Seiten
  27. Jörg Himmelreich: Die deutsche Russlandillusion. Die Irrtümer unserer Russland-Politik und was daraus folgen sollte. Köln: Bastei Lübbe 2024, 352 Seiten
  28. Bildnachweise
Heruntergeladen am 9.12.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-3003/html?lang=de
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