Zusammenfassung
In der gegenwärtigen Diskussion um Leiblichkeit wird der Glaubensbegriff nur selten thematisiert. Dieser Beitrag reflektiert ausgehend von der Neuen Phänomenologie die leibliche Bedingung des christlichen Glaubens als Selbstaffektion Gottes. Mit Rekurs auf Michel Henry und Meister Eckhart wird die Gottesgeburt in den Seelengrund als eine Bewegung des Lebens verstanden, die den menschlichen Leib als Fleisch lebendig und affektiv erfüllt. Im Anschluss daran wird der Glaubensbegriff als ein Vermögen entwickelt, worin Gott sich als Gabe in einem Sich des Menschen selbstaffiziert und erkennt. Korrelativ dazu wird ein Verständnis der Sünde skizziert, das im Vergessen dieser Gottesgeburt als Sohn wurzelt.
Abstract
The contemporary discussion of corporeality and embodiment rarely addresses the concept of faith. In this article I draw on the New Phenomenology in order to specify the corporeal conditions of Christian faith – understood as God’s self-affection. With reference to Michel Henry and Meister Eckhart, I spell out “the birth of God into the soul’s ground” as a movement of life itself animating and affecting the human body, namely as flesh. I then develop the concept of faith in terms of a capacity in which God, as a gift, affects and recognizes himself in a “Sich” of the individual human being. Finally, and correspondingly, I argue for an understanding of sin as oblivion or forgetfulness – a forgetfulness, which is rooted in the denial of the birth of God into the soul’s ground as a Son.
0 Einleitung
Es ist ein geläufiges Theologumenon, dass der Glaube ein ‚Geschenk Gottes‘[1], eine Gabe des Heiligen Geistes durch Gnade (sola gratia) ist. Ebenso vertraut ist der Standpunkt, dass der Mensch nicht untätig im Glauben ist, sondern diesem antwortend oder annehmend begegnet, mithin durch seinen Glauben das Heil hat (sola fide). Seit jeher standen diese beiden Aspekte des Glaubens, also die Passivität der Gabe und die Aktivität der Annahme, in einer Spannung, die zu unterschiedlichen theologischen und konfessionellen Richtungen geführt hat. Dass der Mensch nicht völlig passiv gegenüber der göttlichen Erwählung gedacht werden kann, sodass sein Geschick letztlich in eine (doppelte) Prädestination zerfällt, scheint aber seit der Leuenberger Konkordie ein allgemeines Gut des Protestantismus zu sein.[2] Freilich hat die Interpretation über den „Ernst menschlicher Entscheidung“[3] bezüglich des Heils zu mehreren Modellen der Heilsaneignung geführt. Oft ist ihnen gemeinsam, dass sie ein Zwei-Subjekte-Schema favorisieren, von denen das erste Subjekt (Gott) spricht – und das zweite Subjekt (Mensch) antwortet. Wie das in einem Kommunikationsgeschehen aussehen kann, hat z. B. Ulrike Link-Wieczorek mit dem Verweis auf Risto Saarinen und dessen Konzept eines personalen Gegenübers aufgezeigt. Sofern man sich den Glauben als eine Kommunikation vorstellt, ist eine Reaktion des glaubenden Menschen notwendig, um das Handeln Gottes am Menschen nicht in ein bloßes Echo zu verwandeln. „Der Akt des Gebens [muss] ein personales Gegenüber voraussetz[en], das einen Akt der Antwort, des Responses vollzieht, wenn es die Gabe empfängt.“[4] Eine andere bildhafte Analogie kann das von Ingolf Dalferth skizzierte Erben-Modell sein: „Man kann zum Erben des Vermögens eines Onkels werden, aber man wird das durch nichts, was man selbst tut. Und während es wahr ist, dass man kein Erbe sein kann, ohne in der einen oder anderen Weise zu handeln, wird man nicht durch das eigene Tun zum Erben, sondern durch das, was einem widerfährt.“[5] Dalferth stärkt mit diesem Vergleich das Moment der Passivität im Widerfahren des Glaubens. Jedoch macht das Erben-Bild auch klar: ohne, dass das menschliche Subjekt das Erbe annimmt, geht dieses ins Leere (wird also wie oben zum bloßen ‚Echo‘ Gottes). Ein letztes Beispiel kann man Wilfried Härles Dogmatik entnehmen. Härle spricht, stärker an der reformatorischen Terminologie ausgerichtet, vom Glauben als Vertrauen: „das grundlegende, daseinsbestimmende Vertrauen oder Sich-Verlassen eines Menschen auf ein Gegenüber [...].“[6] Auch hier herrscht das Zwei-Subjekte-Schema sowie die Spannung aus Passivität und Aktivität vor. Denn, so macht Härle deutlich, das Vertrauen oder Sich-Verlassen impliziert eine reflexive Relation zum ‚Sich‘, die sich verdankt:[7] „‚Vertrauen‘ meint in der Regel ein spezifisches Bestimmtwerden durch ein Gegenüber, aufgrund dessen ein Mensch sich auf dieses Gegenüber ausrichtet und sich ihm hingibt. Erst dieses Bestimmtwerden löst Handlungen des Vertrauens aus [...].“[8] Sich auf Gott zu verlassen, setzt voraus, dass sich dieser als vertrauenswürdig erweist und so zum Vertrauen einlädt. Beide Momente aus Gnade und Annahme werden daher im Vertrauensbegriff festgehalten.
Ist nun aber der Glaube eine daseinsbestimmende, angenommene Gabe und ein Existenzereignis, „das den Modus menschlichen Existierens vor Gott verändert von einem Leben, das Gott ignoriert (altes Leben), zu einem Leben, in dem das nicht geschieht (neues Leben)“[9], so stellt sich berechtigt die Frage nach dem Ort dieser Transformation im Menschen, oder wie Härle es ausdrückt: nach der anthropologischen Ortsbestimmung des Glaubens.[10] Der Begriff der Existenz ist nämlich in diesem Zusammenhang so unspezifisch, dass man seiner Verwendung leicht zustimmen wird, ohne zu wissen, was eigentlich gemeint ist, wenn altes in neues Leben verwandelt wird. Härle thematisiert daher auch, ob der Glaube in Wille, Vernunft oder Gefühl situiert ist.[11] Er kommt zu dem Schluss, dass eine solche Unterteilung nur künstlich sinnvoll sein kann, da der Ort des Glaubens nur im Gesamtzusammenhang dieser drei Daseinsbestimmungen gesucht werden kann. Dennoch scheint in seiner Besprechung der menschlichen conditio eine subtile Hierarchisierung dieser Vermögen durch: „Das Bestimmtwerden durch den Adressaten des Glaubens, Gott, hat also unmittelbar den Charakter des Sich-bestimmt-Fühlens, mittelbar den Charakter des Sich-bestimmt-Wissens und des Sich-bestimmen-Lassens.“[12] Es ist somit das Gefühl, in dem der Glaube seinen primären – oder unmittelbaren – Ort findet, von dem aus er dann – mittelbar – auf Vernunft und Wille überfließt. Mit der Thematisierung des Gefühls trifft Härle freilich einen protestantischen Kern der Glaubensreflexion seit Schleiermacher. Aber noch ein anderer Aspekt erscheint mir hierbei von besonderer Relevanz, nämlich die Verortung des Gefühls wiederum in der Leiblichkeit. „Denn das Gefühl reicht von allen Seelenvermögen am weitesten und am tiefsten: Es bezieht unsere Leiblichkeit mit ein [...].“[13] Nur in einem Nebensatz fällt die zentrale Beurteilung des menschlichen Gefühlsvermögens, nämlich dass dieses im Leib situiert ist und als Glaube „den affektiven Grundakkord, der das Leben bestimmt und begleitet“[14], ausdrückt.
Diese Verhältnisbestimmung will ich im Folgenden aufgreifen, um sodann radikaler zu durchdenken, was es heißen könnte, dass der Glaube im Leib verortet ist und das menschlich-affektive Leben bestimmt. Es geht mir jedoch nicht darum, auf der phänomenalen Ebene das Glaubensleben zu skizzieren. Vielmehr wird eine Theorie diskutiert, die transzendental[15] und phänomenologisch den Glauben als ein leibliches Vermögen zu begründen sucht. Es geht mithin um die Phänomenalität, nicht das Phänomen des Glaubens. Was das allgemeine Glaubensverständnis betrifft, hat die hermeneutisch arbeitende Theologie den christlichen Glaubensbegriff in genügender Klarheit herausgearbeitet, ob sie ihn nun als „fundamentale[...] Erfahrungsintensivierung durch hermeneutische Selbstanwendung und als solches [als] ein hermeneutisches Ereignis“[16] oder als „das kontingente Sich-Verstehen des Menschen in der Geschichte als ein personales Geschehen“[17] versteht. Jedoch hat die Theologie dabei die Bedingungen der Möglichkeit des Glaubens selbst selten bis nie leiblich thematisiert, was im gewissen Sinne den anthropologischen Un-Ort des Glaubens kennzeichnet. Dieses Desiderat wird hier in den Fokus gerückt und im Anschluss an die Neue Phänomenologie in Frankreich beantwortend entfaltet.
Insbesondere will ich die gestellte Frage mithilfe von Michel Henry und Jean-Luc Marion[18] zu beantworten versuchen. Mit beiden Denkern lässt sich über den Glauben die leitende These aufstellen, dass dieser ein Vermögen des Fleisches[19] ist, welches als lebendiges Fleisch aus Gott herrührt – und Gott selbst sich daher im menschlichen Fleisch qua Glaube offenbart. Um diese These zu entfalten, werde ich mich dabei in zentraler Weise auf Henrys Inkarnationsphilosophie, Marions Gabephilosophie sowie in Teilen auch auf Meister Eckharts Lehre vom Seelengrund beziehen. Im Schlussteil bringe ich die Genannten in ein Gespräch mit Dalferth, Bultmann und Pannenberg, um theologische Probleme zu diskutieren. Die hier explizierte Darstellung von Henry und Eckhart wird sich auf der Grenze zur Mystik bewegen. Gerade von dieser Grenze her kann m. E. eine wegweisende Ortsbestimmung des Glaubens vorgenommen werden, die gängige religionsphilosophische Schwierigkeiten (etwa das Zwei-Subjekte-Schema) überwindet. Freilich muss andererseits die Tendenz eines Monismus benannt und kritisch erörtert werden.
Ich nähere mich dem Thema des leiblichen Glaubens zuerst über ein sehr banales und alltägliches Beispiel menschlichen Vermögens und Könnens. Marion geht an einer Stelle einen ähnlichen Weg, um die Offenbarung zu besprechen.[20] Ich meine, dass dieser Ansatz auch für den Glaubensbegriff aufschlussreich sein kann, zumal in jüngerer Zeit beide Phänomene nahe aneinanderrücken.[21]
1 Das Vermögen des Fleisches
Der Schlüssel zur Leiblichkeit des Glaubens liegt darin, menschliche Aktivität und Vitalität als eine Vermögensgabe zu verstehen. In der Regel wird zwischen mentalen Vermögen (Denken, Imaginieren, Phantasieren) und physischen (Gehen, Hantieren, Fahrradfahren) unterschieden, wobei schnell deutlich wird, dass auch physische oder körperliche Vermögen eine mentale ‚Innenseite‘ haben. Diese Unterscheidung scheint dahingehend sekundär, als alle Vermögen doch nur eine Wurzel haben, nämlich den fleischlich-lebendigen Leib des Menschen. So etwa ist kein Denken denkbar, das nicht durch das leiblich ‚Ich denke‘, das ‚alle meine Vorstellungen‘ begleitet, affiziert werden würde. Denken ist ein leiblicher Vollzug fühlbarer Selbstaffektion (genauso wie es das Gehen in der Eigenerfahrung ist), was sozusagen die ‚Innenseite‘ dieses Vermögens darstellt. Diese Einsicht im Anschluss u. a. an Merleau-Ponty scheint heute auch interdisziplinär weitestgehend Konsens zu sein.[22] Dass Vermögen eine ‚Innenseite‘, eine erfahrbare Affektion, aufweisen, gehört zu ihrem wesentlichen Charakter, aber ebenso sind Vermögen dadurch gekennzeichnet, dass sie erlernt oder angeeignet werden müssen. Daher kann man auch über den Glauben so sprechen, wie er in seinem Vollzug situiert ist und so, wie es zu seiner Genese kommt. Die Genese des Glaubens – seine ‚Offenbarung‘ – steht in den folgenden Überlegungen weitgehend im Mittelpunkt, auch weil sie logisch seinen Vollzug bedingt.
Man betrachte eine beispielhafte Analogie: das Erlernen eines Vermögens wie das Fahrradfahren. Die menschliche Aktivität besteht zweifellos darin, sich auf das Fahrrad zu setzen und in die Pedale zu treten, wobei die Balancehaltung ein Schlüsselelement ist. Ein technisch-empirisches Weltbild könnte davon ausgehen, dass das Fahrradfahren genau genommen auch nur aus diesen Elementen besteht. Doch weiß man in der Regel aufgrund seiner eigenen Erfahrung, dass erlernte Vermögen sich solange nicht ‚einstellen‘, wie sie sich nicht geben. Dass man zum Vermögen des Fahrradfahrens gelangt (Erlernen), hängt wohl an der Aktivität des Übenden, aber das Gelingen hängt nicht daran,[23] dieses ist vielmehr ein Widerfahren im Prozess des Übens. Das Vermögen stellt sich ein, von sich und aus sich heraus im Lernenden, oder besser: aus sich im Leib. Daher ist das menschliche Subjekt ohne Zweifel im Prozess des Übens und Sich-Erprobens aktiv, aber passiv ist es insofern, als es zum Vermögen nur durch eine ‚Tiefenpassivität‘ (Dalferth) hindurch gelangt. Genau diese Einsicht steht im Gabemodell Marions im Vordergrund: „Denn was sich hier [im Vermögen] gibt, kann nur insofern erscheinen, als derjenige, der es allein sehen kann, es auch empfängt. Derjenige, der empfängt, greift notwendigerweise in das Erscheinen dessen mit ein, das sich gleichwohl von anderswoher gibt.“[24] Der das Vermögen Empfangende ist aktiv und gleichzeitig passiv. Die Gabe (das Können des Fahrradfahrens) verweist auf eine unsichtbare Quelle, aus der heraus – von anderswoher – dem Aktiven das Vermögen widerfährt. Alles menschliche Können ist somit durch die Qualität eines widerfahrenen Vermögens gekennzeichnet und nie vollständig ‚gemacht‘, worauf Henry nachdrücklich hinweist: „Jedes Können trägt das Stigma einer radikalen Ohnmacht.“[25] Diese Ohnmacht, die sich bereits bruchstückhaft in einem so simplen Vermögen wie dem Fahrradfahren zeigt, verhindert zugleich jegliche Reduplikation, Reproduktion und Machtbarkeit.[26] Niemand kann Gehen, Radeln oder Hantieren, wenn sich das nicht von selbst ereignet. Doch stellt diese Grundpassivität der Gegebenheit von Vermögen auch eine drängende Anfrage daran, wie theologisch von solchen Vermögen im Hinblick auf die Inklusion von körperlich-eingeschränkte Menschen zu denken ist.[27]
Es ist berechtigt zu sagen, dass niemand glaubt, dem diese Gabe nicht widerfährt. Die menschlich-leibliche Erfahrung ist zutiefst davon gekennzeichnet, dass der Mensch sich selbst als Gabe-Zeichen erscheint und „daß die dem Zeichen eingeschriebene Geste des Gegebenwerdens zur Grundsignatur seiner Selbsterfahrung gehört.“[28] Diese Figur ist analog zu dem, wie Schleiermacher das Gottesbewusstsein aus der schlechthinnigen Abhängigkeit des Selbstbewusstseins herleitet: „Allein eben das unsere gesamte Selbstthätigkeit [...] unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinige Freiheit verneinende, Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthiniger Abhängigkeit, denn es ist das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbstthätigkeit eben so von anderwärtsher ist [...].“[29] Schleiermacher führt das menschliche Freiheitsgefühl auf seine radikale Gegebenheit und Be-Gabung zurück und bestimmt den ideellen Ort („Woher“) der Gebung als Gott. Bekanntlich wird daher das Gottesbewusstsein bei ihm aus dem Selbstbewusstsein abgeleitet.[30] Analog verfährt Henry und auch Marion, wobei Letzterer es ausdrücklich vermeidet, bei dieser Figur von Gott zu sprechen.[31]
Alle leiblichen Vermögen tragen neben dem Stigma der Ohnmacht ihre eigene Prägekraft in sich: wenn nicht durch Alter, Krankheit oder äußere Umstände verhindert, kann kein Vermögen, das sich selbst gibt, genommen werden: sie gehen ein in unseren Leib und werden zum „immemorialen Gedächtnis eines Fleisches“[32]. Niemand, der Fahrradfahren gelernt hat, muss sich beim wiederholenden Akt daran ‚erinnern‘. Das Vermögen ist latent im Fleisch,[33] jederzeit bereit zum freien und eigenen Vollzug und ohne den Rekurs auf ein Selbstbewusstsein oder einen Welt-Horizont[34] im Sinne der Vorhandenheit Heideggers. Phänomenologisch hat Heidegger diese Einsicht mit der Zuhandenheit begrifflich zu fassen gesucht; doch hatte er die Leiblichkeit dieser Phänomene nicht im Blick, sondern koppelte sie direkt an das In-der-Welt-sein des Daseins.[35] Henry hingegen gelingt diese Wendung mit seiner Theorie des Fleisches: Die Vermögen sind diejenigen „eines Fleisches [...], welches durch nichts von sich getrennt wird und sich stets in einem Gedächtnis ohne Kluft, ohne Denken, ohne Vergangenheit, ohne Gedächtnis gegeben ist.“[36] Der aktiv Handelnde greift mithin unmittelbar auf die Gaben zu (und vergisst so auch, dass sie Gaben sind). Freilich entgleitet das so verstandene Können des Fleisches bei Nicht-Anwendung in die Vergessenheit; es entzieht sich mithin so, wie es sich selbst gibt. Aber auch das Alter[37] macht die Autarkielosigkeit des Fleisches überdeutlich: das endliche Leben genügt sich selbst nicht und es ist sich selbst nicht Grund;[38] die Gabe bleibt in ihrem Wesen immer Gabe von Anderswoher.
Ist die hier skizzierte Phänomenologie menschlicher Vermögen sachgerecht, stellt sich weitergehend die Frage nach dem Ursprung, dem Anderswoher dieser Gaben. Die Beantwortung dieser Frage führt zur Methode der Neuen Phänomenologie und der christlichen Mystik, da ab hier stärker die transzendentalen Überlegungen im Fokus stehen werden.
2 Das Anderswoher des fleischlichen Vermögens
Henrys Philosophie kreist um das Leben; dieses zu beschreiben und es als das Wesen des Menschen präsent zu halten, war seine stete Aufgabe. Dem Begriff des Könnens kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Denn mit ihm hat Henry auf die genuin leiblichen Vermögen des Menschen aufmerksam gemacht. Können kommt nur den Lebenden zu, weil es eine Gabe des Lebens selbst ist. Es ist ein Phänomen der Widerfahrnis, ein Phänomen der Selbstexpression des Lebens von Lebendigen. Daher kommt Können nur den fleischlich Lebenden zu. Im Können widerfährt dem Menschen sein eigenes Vermögen zugleich als eine Gabe, die sich gibt; denn die Gabe des beispielhaften Fahrradfahrens gibt nichts anderes als sich selbst. Marion weist berechtigt darauf hin, dass wenn man davon spricht, dass Phänomene sich selbst geben, man auch plausibel davon sprechen kann, dass darin eine „Selbstgegebenheit des Sich“[39] liegt.
Implizit liegt in beiden Phänomenologien die Einsicht, dass sich bei der Praxis eines leiblichen Vermögens das Können von sich einstellt, der Mensch mithin aus der unsichtbaren Ohnmacht heraus lebt. Dann ist es berechtigt zu sagen, dass sich etwas gibt, genauer: dass Sich gibt:[40] eine Selbstgegebenheit des Sich im Vermögen. Diese Gabe gibt nichts Fremdes oder anderes als sich selbst, also das Vermögen bspw. des Fahrradfahrens. Im Fleisch widerfährt nichts ihm nicht Zugehörendes, sondern seine je eigenen Möglichkeiten (so widerfährt es z. B. dem Fleisch nicht, und kann ihm nicht widerfahren, schwerelos zu sein, etc.). Wenn sich im Fleisch das Vermögen mit seinem Sich gibt, so als das Eigene, ohne Abstand, in reiner Immanenz, als mein abstandsloses Können. Die Gabe des Sich ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit, ‚Ich‘ zu sagen; m. a. W. das Sich begründet das Mich (nur weil sich das Fahrradfahren einstellt/gibt, werde ich zum Fahrradfahren-Könnenden). Das Sich-Widerfahren der Vermögen ist das Transzendental meines Könnens.
Man betrachte zur Analogie den von Herny als Beispiel angeführten Schmerz: Ein Subjekt stößt sich beim Hantieren an; ‚es‘ (was genau?) schmerzt. Es wäre widersinnig zu meinen, das Subjekt bekomme den Schmerz vom angestoßenen Gegenstand geliehen oder übertragen. Der Schmerz kommt nicht von außen oder vom Gegenstand in den Leib hineingefahren. Er entsteht ‚im‘ Leib als ‚Reaktion‘ auf den Stoß. Präziser und „unter Absehung von seinen welthaften Bezügen betrachtet“[41], wäre es mit Henry zu sagen: Der Schmerz widerfährt in einer Selbstgebung; denn ich empfange im Schmerz nichts außer ihm selbst in seiner reinen Ipseität als Selbstaffektion, ohne ein Außen, auf das ich reflektieren oder zu dem ich fliehen könnte. Der Schmerz lässt sich weder äußerlich, noch sinnlich präzise lokalisieren, er ist ‚irgendwo da im Arm‘. Weil keine Kluft zwischen ‚Ich‘ und Schmerz liegt, sondern das Ich das Sich des Schmerzes – als Ipseität – ist, gibt es keine Möglichkeit, einen ‚objektiven‘ Blick auf den Schmerz zu richten; er ist Unsichtbarkeit in seiner Selbstimpressionalität.[42] Für die Struktur des Schmerzes wie für die Struktur aller fleischlichen Vermögen gilt die zweifache Beschreibung ihrer Selbstaffektion – Henry versteht diese als Selbstoffenbarung. Eine Selbstoffenbarung des Schmerzes – aber ebenso der Freude, des Glaubens, des Fahrradfahrens[43] – besagt Zweifaches: Zum einen vollzieht der Schmerz die Selbstaffektion (Offenbarung), und nicht etwa der weltliche Gegenstand, an dem das Ich sich stößt. Zum anderen selbstaffiziert (offenbart) der Schmerz nichts anderes als sich selbst (weil der Schmerz und der Leib im Affekt identisch sind und nicht zwei Wirklichkeiten): Erscheinendes und Erscheinen fallen in eins, sodass diese Offenbarung streng nur Selbstoffenbarung heißen kann.
Die Abstandlosigkeit des Schmerzes zum fleischlichen Leib des Ich verweist zugleich darauf, dass zwischen Sich und Ich keine Kluft, kein Abstand ist, sodass das Ich ohnmächtig von einem Sich begleitet ist, oder, im Diktum Schleiermachers, dass unsere Selbsttätigkeit stets das Stigma schlechthinniger Widerfahrenheit trägt. Das Ich existiert in der Selbstgabe der Vermögen (des Schmerzes, des Glaubens, des Fahrradfahrens) – die sich selbst geben – im Dativ, wie Marion formuliert:
Das ‚Sich‘ des Phänomens – sobald es sich der Gegenständlichkeit entgegenstellt – wandelt das Ich [...] entschieden in einen Zeugen um. Es kehrt nämlich den Nominativ (also bereits das Subjekt, wie es durch die Grammatik aufgestellt wird) in einen ursprünglicheren Dativ um, der (auch hier gemäß der Grammatik) das ‚Wem oder Was‘ des Empfängers bezeichnet, dem es zugewiesen wird. Und ein solcher Zuweisungsempfänger tritt die Nachfolge dessen, was die Metaphysik unter ‚Subjekt‘ verstand, natürlich nur an, weil es sich diesem radikal entgegenstellt.[44]
Es ist dieses Sich, das sich in der Selbstaffektion des Fleisches gibt, welches das Ich zum Ich (qua Dativ) macht. ‚Ich‘ kann ich nur sagen, weil mir ein Sich vorhergegangen ist, aus dem mein Ich ‚west‘. Aber es ‚west‘ wesentlich im Fleisch seiner sich-gebenden Vermögen – und nur darin ist das Ich sich gegeben. Es gibt kein Ich außerhalb des Fleisches, weil das Ich als Sich-Gabe der Vermögen affektiv erfahren wird; und weil in der Sich-Gabe sich nichts anderes gibt als der Schmerz oder der Glaube, bin ich ‚Ich‘ im Dativ (Mir) dieser Affekte.
Die bisherigen Überlegungen zu Henry und Marion über die affektive Aufteilung in Schmerz, Freude, Können, usw. evozieren die Frage nach ihrem einheitlichen Grund. Gibt es eine transzendentale Wurzel aller dieser Einzelaffekte? Henry hat diesen Grund als Leben identifiziert und in seinem Œuvre entfaltet. Alle Vermögen unseres fleischlichen Leibes haben ihren Grund, das Anderswoher des Sich, im Leben. Es ist die transzendentale Möglichkeit, welches einem Ich gestattet, alle Vermögen des Leibes ohne Unterlass – und sogar als seine ihm eigen Zugehörigen – zu entfalten. Das Leben gibt sich als Selbstgebung in die Erprobung; es erprobt sich untrennbar und ohne Lücke von mir. Es gibt die Vermögen in vollem Maß und ohne Reserviertheit. Und doch verbleiben die Vermögen in dieser dialektischen Struktur der Selbstgabe auch im Selbstbesitz des Lebens – doch weil ich als Lebendiger Gabe des Lebens bin: auch in meinem Selbstbesitz:
Folglich sind all diese Vermögen in mir wie ein einziger Leib, das heißt ein einziges Fleisch – in mir, der ich das Vermögen habe, sie alle auszuüben, sofern jedes von ihnen in mir zum Handeln angelegt, sich selbst in meinem eigenen Fleisch offenbart ist. Somit kenne ich es vor jedem Denken und unabhängig von diesem, vor jeder denkbaren Welt; dort, wo ich mir selbst ankünftig werde, und zwar auf jene Weise, wie ich mir ankünftig werde. Solcherart handle ich: in der pathischen Immanenz meines Fleisches.[45]
Der fleischliche Leib ist belebt; ein Leib und ein Fleisch ohne Leben ist ein Leichnam. So ist das Leben die innere Essenz des Fleisches und des Leibes. Es erscheint nie und gibt sich nie außerhalb des Fleisches, etwa in der Welt mitsamt den Körpern; es erprobt und erfährt sich selbstaffektiv im lebendigen Fleisch und allen Einzelvermögen des Ich. Sie sind Modalitäten des sich erprobenden Lebens. Zu verstehen, dass der Leib ein lebendiger Ausdruck des Lebens ist, worin sich das Leben spielend selbsterprobt, erfährt, affiziert und mir im Dativ unablässig Können – und letztlich mich selbst – schenkt, ist der Schlüssel zur Leiblichkeit des Glaubens. Weil im Glauben sich das Leben als Glauben selbst gibt, ist er eine (Selbst-)Gabe – ein Geschenk Gottes (an sich selbst), der der Gott des/meines Lebens ist.
3 Der Glaube als Selbstaffektion Gottes
Die radikale Gleichsetzung von Leben und Gott, die Henrys Werk unablässig durchzieht und auf die dieser Beitrag zusteuert, ist ein Wagnis, das mithilfe der Mystik gelingen kann. Henry hat diese Identifikation im Rekurs auf Meister Eckhart[46] vollzogen und ich will ihm für ein besseres Verständnis des Glaubens folgen. Dabei wird das Theorem des Seelengrundes im Mittelpunkt dieser Identifikation stehen, wobei der Begriff der Seele durch das Transzendental[47]Fleisch substituiert wird.[48] Ich folge bei der Interpretation des Fleisches Daniel Remmel:
Das Fleisch wiederum ist die effektive Selbstaffektion und sich-in-sich-selbst-erfahrende Substanz bzw. phänomenologische Hyle, als die sich das Leben vollzieht. [...] Dem leibhaftigen Weltbezug [i. e. Sinneswahrnehmung] ist mein affektiv-fleischlicher Selbstbezug als Bedingung der Möglichkeit vorgeordnet, weil nur aufgrund [...] einer pathischen Selbsterprobung die dadurch begründeten Sinnesvermögen etwas [...] zur Erscheinung bringen können.[49]
Mit anderen Worten: Fleisch ist das Transzendental – die Selbstaffektion des Lebens in Materialität – das jedem intentionalem Bezug, der Intentionalität selbst, vorausliegt, weil diese begründend.
Bezieht man Eckharts Einsicht[50] in das Wesen der Seele auf die hier skizzierte Systematik des Fleisches, erhellt sich weiter, was mit der Leiblichkeit des Glaubens gemeint ist. Kennzeichnend für den fleischlichen Leib ist seine Autarkielosigkeit, sein Unvermögen zu einer Entelechie sowie die Endlichkeit aller Vermögen. Der fleischliche Leib ist radikal endlich und kann ohne das Leben nicht sein. Hunger, Durst, Müdigkeit sind deutliche Hinweise auf des Leibes Endlichkeit, Ziellosigkeit und Unmöglichkeit, seine Vermögen aus sich ohne andere[51] zu erhalten oder mit Kraft auszustatten.[52] Nur das Leben, das der Grund (Seelengrund, Essenz) des Leibes ist, ist autark, in sich selbst zielbestimmt (sich selbst im Fleisch zu erproben und ewig zu entfalten) und der Ursprung/Quelle aller Kräfte und Vermögen:[53] Das Leben ist daher „ein Etwas in der Seele, aus dem Erkennen und Lieben [Vermögen] ausfließen; es selbst erkennt und liebt nicht, wie’s die Kräfte der Seele tun.“[54] So ist das Leben der Ursprung des lebendigen Fleisches. Mit Eckhart lassen sich mithin zwei Argumentationslinie für einen Grund der Seele ziehen: zum einen das Unvermögen der Seele/des Fleisches, sich selbst zu erhalten und daher einer Quelle bedürftig zu sein,[55] sowie zum anderen die Nicht-Phänomenalisierung des Lebens: Während die äußere Form, der Körper, erscheint, erscheint das Leben (und das Fleisch) als solches nie. So muss es unsichtbar sein und der Grund für die Lebendigkeit.[56] Dass der Grund des Fleisches mit Gott identifiziert wird, ist für Eckhart eine Selbstverständlichkeit christlicher Tradition, die sich von der Schöpfungslehre (Einhauchung des Lebens) über die Inkarnation bis hin zur conservatio-Lehre durchzieht.
Eckhart versteht den Seelengrund als den einen Grund, der Gott ist, sodass Gott es ist, der die Essentia des Fleisches (/Seele) ist; die Essentia, die sich ewig im lebendigen Fleisch als Sohn gebiert: „Es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders.“[57] Die Ineinssetzung der Geburt der zweiten Person der Trinität mit der Seelengeburt führt sodann zu der radikalen These, die auch Henry für seine Inkarnationsphilosophie in Anspruch nimmt: „Gott gebiert sich als mich.“[58] Im Original bei Eckhart heißt es „Ich habe mich (als) dich und dich (als) mich ewig geboren.“[59] Was Eckhart so zusammenbringt, ist das geschaffene und ungeschaffene Sein des Menschen.[60] Gott und Mensch bilden mithin nicht zwei für sich bestehende Sphären,[61] sondern stehen in einem ebenbildlichen Verhältnis zueinander: einerseits ist der Mensch ein Geschöpf und radikal endlich; andererseits verdanken sich seine Kräfte, Vermögen und seine Lebendigkeit der ungeschaffenen Essentia seines Fleisches.[62] Für diesen Prozess zwischen Seele (Fleisch) und Gott (Leben) steht bei Eckhart das Symbol ‚Seelengrund‘.[63] Dieser ist selbst ein ‚seinloses Sein‘, d. h. ihm kommt kein Ort, Sein, Wesen oder sonstige substanz-ontologische Kategorie zu. Dieses ‚Etwas‘, oder hoc et hoc, west ganz aus Gott (Leben), ist im beständigen Werden (Selbsterprobung). Darüber hinaus identifiziert Eckhart den Seelengrund mit dem Gottesgrund, letztlich mit Gott selbst, sodass Eckharts Gottesbegriff ebenfalls die gleichen Merkmale (des Seelengrundes) übernimmt und ein ‚Gott ohne Sein‘ ist.[64]
In seinem Wesen ist der Mensch von Eckhart als Sohn Gottes und nicht Sohn menschlicher Eltern verstanden. Alle seine Vermögen wurzeln in dem Grund, der das Leben ist; so auch der Glaube. Der Glaube hat nun aber von allen Vermögen die Eigenheit, sich genau auf diesen Grund selbst zu beziehen – und gerade nicht den Anspruch zu erheben, aus den menschlichen Kräften heraus Bestand zu haben. „Sicut ergo in potestate hominis non est fidem habere Deo, ita nec in potestate eius est, infidelitatis peccatum tollere [...].“[65] Während ich wohl (im Missverständnis und doch berechtigt) sagen kann: ‚Ich habe Fahrradfahren gelernt‘, ist dieser Satz für den Glaubensvollzug ein offenkundiges Missverständnis. Im Glauben bin ich mir im Dativ gegeben. Der Satz ‚Ich glaube ...‘ impliziert stets die Berufung (Röm 8,30) und die gnädige Hinführung zu diesem Vermögen, denn er impliziert einen Bezug zu einem mir gänzlich unverfügbaren Inhalt und Grund meines Glaubens: Gott. „Von Gott reden als aus Gott reden kann offenbar nur von Gott selbst gegeben werden.“[66]
Bin ich mir aber im Glauben als Dativ gegeben, bin ich als Sohn und als Sich gegenwärtig. ‚Sohn‘ und ‚Sich‘ sind keine Phänomene der Welt und der Erfahrung;[67] weder leiten sich diese Kennzeichen meiner Existenz aus meiner Geschichte ab, noch sind sie ein Kulminationspunkt dieser. Sie sind kontingente Ereignisse in meiner Geschichte, das ist wohl wahr; nicht aber sind sie Phänomene meiner Geschichte. ‚Sohn Gottes‘ zu sein heißt sich glaubend so zu verstehen – und zu diesem Verstehen kommt man nicht durch seine Geschichte, aber durchaus in seiner Geschichte. Dass man zum Glauben kommt, ist daher ein Werk oder Vermögen, das sowohl meines als auch Gottes ist. Mit Eckhart gesprochen:
Soll ich Gott [...] erkennen [hier: glauben], so muß Gott geradezu ich werden und ich geradezu er, so völlig eins, daß ich mit ihm wirke, und zwar nicht so mit ihm wirke, daß ich wirke und er nachschiebe: ich wirke (dabei) vielmehr ganz mit dem Meinigen. Ganz eigentlich so wirke ich mit ihm, wie meine Seele mit meinem Leibe wirkt.[68]
Gerade die Identifikation ‚Ich‘ = Sohn/Sich erlaubt es, das Glaubensvermögen als eine Bewegung Gottes in mir als Mich seiner Sich-Geburt zu verstehen. Im Glauben ‚erkennt‘ der Mensch in Form der Selbsterkenntnis Gottes sich im Dativ der Geburt als Sohn, der ewig von Gott gezeugt (d. h. in der Anteilnahme am ewigen Sohn) ist. „Got machet uns sich selber bekennende, und bekennende machet er uns sich selber, und sin wesen ist sin bekennen, und ez ist daz selbe, daz er mich macht bekennende und daz ich bekenne. Und dar umbe ist sin bekennen min [...].“[69] Der Glaube ist wirklich mein Wirken, weil Gott wirklich mein Fleischesgrund ist, sodass es keine Sukzession der Handlungen gibt (‚Nachschiebung‘), sondern das Ineinander der Umschlingung der Selbstimpressionalität des fleischlichen Glaubens.[70] Gott glaubt durch mich an sich, oder: der Glaube ist die Selbstoffenbarung des Sich als Ich im Dativ, eine Selbstimpressionalität Gottes in der kontingenten Erprobung seines ewigen Lebens in mir:[71] „Verbum enim deus caro fit et in nobis habitat visibiliter et sensibiliter [...].“[72]
Das Fleisch ist die Nacht (unsichtbare, unmittelbare Unzugänglichkeit), in der sich der Gott des Lebens offenbart. Seine Offenbarung ist die unsichtbare Rückseite des Glaubensvermögens. Und nur darin will sich Gott offenbaren, weil er das Fleisch des Menschen erwählt und zum Ebenbild berufen hat. Dalferth hatte die Ebenbildlichkeit darum berechtigterweise auf die ‚kreative Passivität‘ des Menschen als Offenbarungsfläche Gottes loziert.[73] Zu dieser Gegenwart Gottes kann sich niemand ‚machen‘; sie verdankt sich dem göttlichen Zuspruch und der fleischlichen Ermöglichung (Selbsterprobung) von Leben in einer Welt mit Mit-Leben. Gottesebenbildlichkeit besteht
in dem, was Menschen passiv zu dem macht, zu dem sie sich durch all ihre Aktivitäten selbst nicht machen, was sie aber auch durch nichts verhindern können: dass Gott sie so zum Ort seiner kreativen Gegenwart macht, dass sie sich dazu nicht nur verhalten können, sondern durch ihr tatsächliches Leben faktisch immer so verhalten, dass sie diese Gegenwart für andere verdunkeln oder erhellen. Sie werden zum Bild Gottes, indem sie anderen Menschen dadurch, wie sie leben, Gottes Gegenwart verstellen, verdunkeln und verbauen oder indem sie für diese zu einem Ort werden, an dem ihnen diese Gegenwart erschlossen, verdeutlicht und zugänglich wird.[74]
4 Gottes Selbstoffenbarung und die Sohnschaft
Ein Missverständnis bei der Identifikation von Leben und Gott muss noch ausgeräumt werden: die Endlichkeit des Leibes könnte missverstanden werden als eine Endlichkeit Gottes selbst: weil unser Leben endet, endet auch das Leben Gottes. Das Missverständnis beruht auf der Annahme, dass das Leben ein Phänomen wäre, das gleichsam in der Biologie erforscht wird und der fleischliche Leib nichts weiter als ein mundaner Körper.[75] Im ekstatischen Horizont von Welt und Licht hält man sich unbekümmert an die sichtbaren Erscheinungen, die Phänomene. Vermeint man nun, dass das Leben selbst (d. h. Gott) ein Phänomen ist, das in der Welt erscheint, so wäre es in der Tat richtig, dass es auch endet. Aber das Leben – das absolute Leben Gottes – erscheint nie, weil es unsichtbar ist, weil es ein Nicht-Phänomen ist. Über das Leben hat Henry geurteilt, dass es nur in der Selbstoffenbarung seiner Selbstaffektion sich offenbart, also als Fleisch;[76] es gibt folglich keinen anderen Zugang zum Leben als durch dieses erstpersonelle, affektive Leben selbst hindurch für jene, die Lebendige, also Affizierte sind. Nur in der Selbstaffektion der Lebendigen gibt sich das Leben ‚zu erkennen‘ (d. h. glauben). Wobei Erkennen hier sicher der falsche Begriff ist, da das Leben zu sich keinen Abstand der Erkenntnis einnehmen kann. Das Erkennen ist ein Sich-selbst-Affizieren, ein Sich-Spüren.[77] Es ist denn auch folgerichtig, dass Dieter Henrich das Bewusstsein nicht-reflexiv begründet hat und es als ‚Ereignis‘[78] und präreflexive ‚Vertrautheit‘[79] bezeichnete. Bewusstsein ist das Vermögen, das eigene Fleisch zu erfahren; Bewusstsein ist die Immanenz des Fleisches, eine Selbstaffektion des erprobenden Lebens.[80] Theorien, die daher auf das Erleben und das Erspüren seiner selbst ohne einen Erkenntnis-Abstand (i. e. Intentionalität) setzen, sind wohl am ehesten geeignet, dem Bewusstsein auf die Spur zu kommen.[81]
Gottes Offenbarung ist für Henry streng genommen nur als Selbstoffenbarung möglich, da das absolute Leben, Gott, sich im Fleisch selbsterprobend gebiert. „Gott gebiert sich als mich.“[82] – dieser Satz Eckharts ist sicherlich die Spitze der vorgelegten Reflexion. Er impliziert mindestens die folgenden zwei Sachverhalte: 1) Die Selbstoffenbarung Gottes bricht mit gewohnten Offenbarungsverständnissen, die auf eine Phänomenalisierung Gottes in der Welt setzen; 2) zur Offenbarung Gottes haben nur jene Zugang, denen er die Bedingungen dazu gibt. Beides will ich in gebotener Kürze diskutieren:
Ad 1) Alle Offenbarungsverständnisse, die Gott oder sein Wort zu einem Teil der Welt – ob ontologisch oder phänomenal – erklären, missverstehen Gott als ein Phänomen oder Seiendes. Das hier vorgeschlagene Selbstoffenbarungsmodell entzieht Gott jeglicher Phänomenalität im Horizont der Heideggerischen ‚Welt‘ und verortet ihn im nicht-phänomenalen Transzendental unserer Selbstaffektion als Fleisch. Mithin meint die Offenbarung Gottes einen radikalen Bruch im Modus des Erscheinens, weil die Phänomenalität Gottes sich nicht im ekstatischen Licht-Horizont von Welt, sondern in der sich umschlingenden Nacht des Fleisches selbst gibt.[83] Mit Henry gesprochen: „Auf dem Grund seiner Nacht ist unser Fleisch Gott.“[84]
Ad 2) Zu Gott kommt man nur durch seine Selbstoffenbarung; nur der Sohn, der vom Vater kommt, hat Zugang zu ihm, und so auch alle anderen Söhne. Da die Offenbarung Gottes eine Selbstoffenbarung ist, besagt das nach Henry Dreifaches: 1) Gott ist es, der sich selbst im Vollzug der Offenbarung offenbart; 2) in der Offenbarung wird nichts anderes offenbart, als Gott selbst, er ist der Inhalt der Offenbarung; 3) die Selbstoffenbarung Gottes erlaubt nur denjenigen Eintritt in die Offenbarung, die an Gott teilhaben: nur durch das Göttliche gelangt man in das Göttliche, mithin schafft Gott allein die Bedingungen, unter denen man in die Selbstoffenbarung gelangt[85] – und diese Bedingung heißt die Leiblichkeit des Glaubens, oder die Selbstaffektion des Lebens im Fleisch: „So wird der Glaube in Affekten entfaltet [...] Pathe als Antwort auf das Pathos“.[86]
Dass Gott hierbei nicht mit der Endlichkeit des phänomenalen (biologischen) Lebens verwechselt wird, kann man noch an einem anderen streng transzendentalen Sachverhalt sich klar machen: der Geburt. Es ist ein Missverständnis, wenn gemeinhin angenommen wird, der Mensch stammen von seinen ‚leiblichen‘ Eltern ab. Kein Vater und keine Mutter haben die Macht, das Leben zu geben, da es doch eine Selbstgabe ist. Und faktisch geben weder Mutter noch Vater das Leben; denn sie verfügen darüber nie. Der Akt der Zeugung und der Geburt stellt wohl einen Akt der Vereinigung von lebendigem Fleisch dar. Tochter oder Sohn sind Fleisch von ihrem Fleisch (Gen 2,23), wohl wahr. Dass das Kind lebt, dafür sorgt keiner der beiden (gleichwohl sie für das Überleben sorgen);[87] denn das Leben war in den Eltern vor dem Kind, so wie es bereits ‚vor‘ den Eltern war. Die Lebendigen bringen das Leben nicht hervor, sie sind vielmehr dessen impressionale Expressivität. Es ‚west‘ in ihnen als Fleisch, das sich in der kontingenten Zeugung zur Selbsterprobung eines neuen und doch desselben Fleisches (Sohn/Tochter) vereint. Söhne und Töchter sind, wenn überhaupt, die Kinder ihrer Eltern so nur ‚dem Fleische nach‘ – nicht aber dem Leben nach. Da aber auch die Eltern nicht über das lebendige Fleisch verfügen, da es eine Selbstgabe des Lebens ist, sind die Kinder auch dem Fleische nach Gaben des absoluten Lebens, das anwest in der Nacht ihres Fleisches.[88] Alle Menschen sind Töchter und Söhne nur des absoluten Lebens – Gottes.
5 Die Aktivität des Glaubens und das Vergessen
Ist der Glaube gefasst als die Selbstimpressionalität des Lebens als Fleisch, mithin als Gabe Gottes im Vermögen meines Ich-kann, liegt scheinbar alles Gewicht auf der Gegebenheit dieses Affektes, sodass berechtigt in Zweifel zu ziehen ist, wie man noch von einer ‚Aktivität‘ eines Subjektes sprechen sollte – da doch das Subjekt durch das Dativ des Sich umgestoßen wurde? Mit anderen Worten: stürzt hier die Philosophie Henrys in eine heillose Prädestination?
Das Verhältnis von Aktivität und Gegebenheit ist zuerst ein streng dialektisches, denn das Leben gibt zwar, aber seine Gabe ist vollkommen und ohne Rückhalt, weil es Selbstgabe eines Sich, aus dem Ich wird, ist; daher wird die Freiheit keineswegs geleugnet:
Das Leben ist die Selbstgebung in einem radikalen und strengen Sinne, nämlich in dem Sinn, daß das Leben selbst es ist, was gibt, und auch es selbst es ist, was gegeben wird. Weil es das Leben ist, welches gibt, ist es auch nur in ihm gegeben, daß wir an dieser Gabe teilhaben.[89]
Als Lebendige sind wir Ausdruck – Zeichen – des Lebens. Die des Lebens selbsterprobenden Gaben (Vermögen) sind unsere Gaben. Aber sie sind wirklich unsere und nicht geliehene oder marionettenhafte. Zwar ist das Ich-kann in seiner transzendentalen Bestimmung eine Gabe des Lebens, aber es ist dabei eine wirkliche Gabe, eine Wirklichkeit des Ich. Das Öffnen der Augen, das Greifen nach dem Stift – das sind keine vermittelten Bewegungen eines Lebens ‚in mir‘; es sind wirklich meine Bewegungen.[90] Das Ich-kann hat kein Schein-Ich, in dem ein ‚echtes‘ Sich sich abspielt. Die Gebung des Lebens wäre so radikal missverstanden als Leihe oder Schauspiel. Es ist zwar richtig, dass kein Vermögen ohne Gabe denkbar wäre; denn dass ich meine Augen öffne, habe ich nicht selbst begründet. Aber kein Zweifel kann daran sein, dass Ich es bin, der sie öffnet. Und gerade in diesem Ich liegt die Tiefe eines Missverständnisses als Ego.
Das Ego ist nicht die Verdoppelung des Mich, seine mit ihm übereinstimmende Kopie – und noch weniger eine andere Art und Weise, um es zu bezeichnen. Was das Ego dem Mich hinzufügt, [...] besteht darin [...], daß es, weil es sich selbst in der Selbsterfahrung dieses Mich gegeben wird, sein ihm eigenes Wesen wie die verschiedenen Vermögen, die es bilden, in Besitz nimmt, so daß es in der Lage ist, sie auszuüben – wann und jedesmal, wenn es dies will. Imstande zu sein, eines seiner Vermögen zu entfalten, wann man es will und so oft man es will, heißt frei zu sein, es zu tun. [...] War es zuvor passiv, so ist es jetzt aktiv geworden. Während bis dahin nichts von ihm abhing, [...] hängt nunmehr alles von ihm ab, weil es ein Bündel an Vermögen ist und über diese Vermögen frei und ohne Einschränkung verfügt.[91]
Es ist nun gerade diese voll übergebene Gabe, die im menschlichen Selbstverständnis des Ich-kann zu seinem Ego wird. Ich verstehe das Ego im Anschluss an Henry als den ohnmächtigen Sündenfall des Subjektes, das sein Sohnsein vergessen hat und vermeint, seine eigene Ipseität zu sein, weil es sie faktisch in seiner Immanenz auch ist. Dieser Sündenfall vom Sich-Dativ (Adressat der Gabe), das das Moment des Geschöpfes festhält, zum Ego-Nominativ (vermeintlicher Selbstgeber und -besitzer), das nun selbst Schöpfer wird, geschieht in der Tat ohnmächtig und ist kein Akt der Rebellion. Es ist die menschlich-lebendige Struktur des Ich-kann, das ohnmächtig auf das Ego starrt und das Kann (Ermöglichungen des Lebens) vergisst, die die menschliche Sünde kennzeichnet. Das Vergessen, das den Sündenfall genauer beschreibt, stellt sich – wie Vergessen seinem Wesen nach ist – von selbst in der Ego-Praxis des Menschen ein. Jedes ausgeübte Vermögen trägt zum Vergessen bei. Jeder Moment des Stolzes, ein Können erlangt zu haben – das Fahrradfahren nun zu ‚beherrschen‘ –, ist Ausdruck dieses Vergessens, worin die Abkünftigkeit des Sohnes als Geschöpf des Lebens ohne eigene Rückkehrmöglichkeit hinter sich gelassen wird: die Phänomenalisierung unserer materialen Freiheit.[92] Genau diesen Prozess des Ego-Fleisches hat Paulus unter den Begriff sarx gebracht und ihm den erlösten Leib gegenübergestellt, wie Rieger deutlich macht:
Die Vitalität dieses selbstbezogenen Begehrens bzw. dieser Begierden äußert sich in einer existentiellen Lebensausrichtung des Menschen ‚kata sarka‘, in der Absolutsetzung seiner Ichbezogenheit. Sie richtet sich letztlich nicht nur gegen die Mitmenschen, sondern gegen den leiblichen Menschen selbst. Soll der Leib geheilt werden, muss daher die destruktive Macht des Fleisches [Ego-Kann] beseitigt werden.[93]
Mithin ist das Fleisch der Ort auch der Erlösung: caro cardo salutis. „Denn wie das Fleisch die Verweslichkeit annehmen kann, so auch die Unverweslichkeit, wie den Tod so auch das Leben.“[94]
Die Sünde kommt als Vergessen in Form des Ego-Kann über den Menschen. Kierkegaard hatte vollkommen Recht, dass der Sündenfall in Ohnmacht geschieht,[95] weil es der Ausdruck der fleischlich-lebendigen Subjektivität ist, als Freiheit geschaffen zu sein und in der freien Praxis sich selbst als das Subjekt seiner Taten zu verstehen, mithin die geschöpfliche Ohnmacht in die eigene Mächtigkeit und Autonomie zu überführen. So ist die Freiheit, die der Mensch ist, letztlich „eine gefesselte Freiheit, wobei die Freiheit in sich selbst nicht frei ist, sondern gefesselt, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich selbst.“[96] Als Subjekt im Vollzug seiner Freiheit kann der Mensch auf keinem anderen Boden stehen als seinem leiblichen Ich-kann. Und weil dieses ihm in vollkommener Weise gegeben ist, ohne Abstand oder Fremdheit (die andeuten könnte, dass es geliehen ist), baut sich die Freiheit beständig auf im Ego-Nominativ. Das Ego-Subjekt ist ein Sein im Vollzug seiner Freiheit,
ein Sein im Vollzug, in dem sich der Mensch immer schon in seiner Verkehrtheit vorfindet. Er ist in sich selbst verkehrt, indem er selbstmächtig und darin selbstbezüglich verfaßt ist, wodurch ipso facto der Gottesbezug als Grund unseres Seins im Vollzug negiert, das Ich seiner Selbstfixiertheit anheimgegeben ist und der gesamte Weltvollzug unter den Verwertungszusammenhang für das eigene Ich gebracht wird.[97]
In diese Sünde des Ego-Nominativs fällt der auf seinen Vermögen beharrende Mensch mit jedem Akt seiner Freiheit. Er vergisst in der Selbstsorge seine Tiefenpassivität, die sein Geschöpfsein charakterisiert und ihm das Fundament für seine Aktivität und Passivität überhaupt erst bereitet:[98] „Sünde ist die Blindheit gegenüber der Tiefenpassivität unseres Daseins, das wir nicht uns selbst, sondern Gott verdanken.“[99] Diese Blindheit erwächst aus der Vergessenheit des Ego-kann. Sie zu überwinden ist der entscheidende Moment des Glaubens, dessen Initiative in der Selbstgabe des Lebens liegt.[100] Sie verleiht die Gewissheit, die die fiducia kennzeichnet, im unmittelbaren Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit. Vertrauen baut sich dort auf, wo das Subjekt etwas oder jemanden als vertrauensvoll erfährt.[101] Und was wäre vertrauensvoller als das Leben selbst, das sich stets und je selbsterfährt und selbstbejaht?[102] Das Leben wirkt Glauben in denen, die das Wort des Lebens hören – wann immer das Leben es will. Gott offenbart sich selbst im Glauben des Fleisches als dieses glaubende Fleisch. Wer so aus der radikalen Gegebenheit des Glaubensvermögens lebt, lebt nicht mehr länger gemäß der Hybris seines Egos. In diesem neu geschenkten Selbstverständnis als Tochter und Sohn liegen auch alle Implikate einer christlichen Ethik.[103]
6 Theologische Einwände
Die bis hierher verfolgte Korrelation von Henrys Lebensphilosophie mit dem christlichen Glaubensbegriff zeigt auf den ersten Blick eine genuine Plausibilität. Es ist innerhalb der christlichen Dogmatik stets Konsens gewesen, dass Gott, obwohl „nichts vom dem an sich hat, was er erschaffen hat und doch ursprünglich alles besitzt, so wie er selbst ursprünglich ist – [...] ist er, der Erschaffer, [dennoch] uns näher als vieles, was erschaffen ist. ‚Denn in ihm leben wir und bewegen uns und haben unser Sein‘ (Apg 17,28).“[104] Genau diese Nähe wurde in der Leiblichkeit des Glaubensbegriffs entfaltet. Dabei wurde vorerst auf eine Problemanalyse weitestgehend verzichtet, was hier nun nachgeholt werden soll. Es lassen sich nämlich durchaus Korrelationsschwierigkeiten benennen, die oben übergangen wurden. Drei der Probleme sollen hier diskutiert werden: 1) Die Negation der realen Heilsgeschichte; 2) Die Negation eines soteriologischen extra nos und die Gefahr eines Pelagianismus; 3) Der Anschein einer (doppelten) Prädestination. Der Schlüssel zur Lösung dieser Probleme liegt in der Interpretation dogmatischer Inhalte im Lichte der (Daseins)Hermeneutik und nicht einer fragwürdigen Metaphysik.
Ad 1) Remmel hat deutlich auf das erste Problem bei Henry hingewiesen: In der Aufnahme der dogmatischen Gehalten des Christentums durch Henry droht die Heilsgeschichte, die immer auch einen Bezug zum Historischen (Jesus) hat, in eine transzendentale (d. h. zeitlose) Genese unseres leiblichen Selbst zu diffundieren: „Das Christentum wird in eine intelligible, gleichwohl vertiefende phänomenologische Kernaussage über das Leben hinein eingeschmolzen.“[105] Diese Beobachtung ist vollkommen richtig, doch weist sie sogleich auf das theologisch sachgemäße Verständnis von Heilsgeschichte und Offenbarung hin. Die grundsätzliche Frage lautet hier mithin: muss die Offenbarung innerweltlich, gar historisch erkennbar sein? Oder anders: ist die Gott-Mensch-Einheit (Tillich) ein Symbol oder ein realgeschichtliches Ereignis? Für Remmel folgt aus der Aufhebung realgeschichtlicher Korrelate des Christusereignisses ein Doketismus.[106] Dagegen will ich einwenden, dass die Annahme einer realgeschichtlichen Gott-Mensch-Einheit einen Rückfall in eine vorkritische Metaphysik darstellt. Kierkegaard etwa hat dafür plädiert, den Gott-Menschen als ‚Zeichen des Widerspruches‘ zu verstehen: „Zeichen des Widerspruches sein heißt, etwas andres sein, das in Widerstreit steht zu dem, was man unmittelbar ist. So mit dem Gott-Menschen. Unmittelbar ist er ein einzelner Mensch, ganz wie andere Menschen [...]; aber nun der Widerspruch, daß er Gott ist.“[107] Die Pointe bei Kierkegaard ist nun, dass das Historische unmittelbar gerade kein Zeichen sein kann, sondern solches nur für den wird, der die Bedingungen der Zeichenerkennung hat: „das Zeichen ist nur für den, der weiß, daß es ein Zeichen ist, und, streng genommen, nur für den, der weiß, was es bedeutet.“[108] Das Wissen um die Bedeutung des Zeichens ist der Glaube; ohne Glauben ist die Realgeschichte schlicht das, was sie ist. Ohne Glaube keine Offenbarung, kein Christus und keine Auferweckung: „Es gibt keinen Auferweckten, ohne daß an ihn geglaubt wird: Würde niemand an ihn glauben, hätte es keinen Sinn, von seiner Auferweckung zu reden.“[109]
Das Verhältnis des Glaubens zur Heilsgeschichte ist analog zum Verhältnis des Glaubens zu den Sakramenten: Der Glaube ist für das Sakrament nicht konstitutiv. Allerdings kann nur der Glaube das gültige Sakrament zum Heil empfangen, sodass es ohne Glauben zum Gericht ist.[110] Daher ist es nur im Glauben möglich, die Offenbarung als Offenbarung und Christus als Christus zu empfangen. Der Schluss, dass die Heilsgeschichte damit amputiert wird, ist dann insofern folgerichtig, als es keine Heilsgeschichte außerhalb des Glaubens, oder unmittelbar als Realgeschichte, gibt. Da der Gott-Mensch kein Phänomen ist, ist es legitim, ihn als transzendentale Genese unseres Selbst zu verstehen.
Allerdings muss das Christusereignis als Glaubensereignis weiterhin zur Geltung kommen, sonst entsteht die Gefahr der Beliebigkeit von historischem Kreuz und geglaubter Auferstehung für den Glauben. Andererseits soll niemand Jünger zweiter Hand werden (d. h. Glauben haben an die Berichte von Kreuz und Auferstehung (Köhlerglaube)), sondern ganz persönlich am Neuen Sein partizipieren. Die Spannung besteht also zwischen der Singularität des Christus und der Partizipation der Glaubenden am Neuen Sein. Die Spannung kann m. E. nicht anders gelöst werden, als so, dass der Christus eben wie die Glaubenden am Neuen Sein partizipiert (als Erstgeborener vieler Brüder (Röm 8,29)), allein unter der Singularität seiner Überwindung der existentiellen Entfremdung: „Gäbe es kein personhaftes Leben, in dem die existentielle Entfremdung überwunden ist, dann würde das Neue Sein eine Forderung und eine Erwartung sein und nicht Wirklichkeit in Raum und Zeit. Nur wenn die Existenz in einem Punkt überwunden ist – in einem personhaften Leben, das die Existenz als Ganzes repräsentiert –, dann ist sie im Prinzip überwunden.“[111] Das aber kann durchaus mit Henrys Interpretation einhergehen, Christus als Memorial[112] einer Gottesbeziehung zu verstehen, in der die Vergessenheit des Egos überwunden wurde, weil er als Sohn gelebt hat. Eine zweite Stütze ergibt sich durch die von Henry (sowie Eckhart und Augustinus) formulierte fleischlichen Korrelation zwischen dem erstgeborenen Sohn und allen weiteren Söhnen: Christus ist bei Henry als principium individuationis[113] mit jedem Sohn durch das selbe Fleisch verbunden; erst Christus ermöglicht die Partizipation an Gott, weil sein Fleisch alle Menschen einschließt.[114] Zugleich ergibt sich von dieser Natalität jedes Menschen aus dem christologischen Fleisch nicht nur die Partizipation am Neuen Sein, sondern überhaupt jedweder Neuanfang menschlicher Geschichte, wie Arendt gezeigt hat.[115]
Ad 2) Das zweite Problem betrifft ein Kernanliegen protestantischer Soteriologie: Die Rechtfertigung kann nur dann dem simul iustus et peccator entsprechen, wenn die Gerechtigkeit gerade nicht die meine, sondern die des Christus ist, mithin extra nos dem Sünder zugerechnet wird. Just aber diese außerhalb des Sünders liegende Gerechtigkeit scheint in der Philosophie Henrys, der auf die Identität von Fleisch und Gott setzt, preisgegeben. Wie kann unter der Voraussetzung der Identität der Mensch das empfangen, was von der Wurzel her das nicht seine sein soll? Oder anders: wird nicht der Mensch in der Identität zu seinem eigenen Erlöser, weil der erlösende Gott sein Fleisch ist? Oder nochmal anders: ist eine strikte Trennung von Gott und Mensch nicht zwingend nötig, um von Erlösung extra nos sprechen zu können? Ohne Zweifel hat die christliche Dogmatik insgesamt dahin tendiert, ein Zwei-Subjekte-Schema anzunehmen. Aber ob das theologisch zwingend ist, steht auf einem anderen Blatt.
Henrys Philosophie bietet als Schlüssel für das oben skizzierte Problem bereits einen Lösungsansatz dahingehend, dass alle Vermögen in ihrer Wurzel extra nos sind. Es war oben schon davon die Rede, dass das Ich durch das Sich umgestoßen wird: Es ist nicht die Transzendentalität des Ich, das das Ich und die Wirklichkeit, mithin auch das simul konstituiert. Es ist das Sich jedes Phänomens, die Phänomenalität als solche, die jedes Ich zum Zeugen macht. Daher ist der Mensch weder durch sich selbst ein Sünder (worauf die Erbsündenlehre richtigerweise hinwies), noch ist er durch sich selbst ein Gerechter (wofür das extra nos steht). Der Mensch ist ‚in Besitz‘ all dessen, weil er (mit Marion) ein „Zuweisungsempfänger“[116] der Phänomenalität ist:
Er vermag unbegrenzt aus ihnen Nutzen zu ziehen, auch wenn er dafür nicht die geringste Garantie erhält, was insofern einer radikalen Besitzenteignung gleichkommt, die umso radikaler ist, als sich die Phänomene in kontinuierlicher und unumkehrbarer Weise geben und sich dabei im selben Maße von sich her zeigen und Zeugnis ablegen für den phänomenologischen Vorrang ihres ‚Sich‘ gegenüber jedem möglichen Zuweisungsempfänger.[117]
Wäre der Mensch wirklich der Schöpfer seiner Gerechtigkeit, wäre sie bloße Vorstellung seiner Intentionalität, mithin Objekt. Weil aber Sünde und Gerechtigkeit keine Phänomene (der Erfahrung) sind, sondern „ein Modus der Existenz“[118], unterliegen sie nicht der phänomenologischen Struktur des Welterscheinens. Das man im Leben auf Gott aufmerksam wird, ist nicht analog zum sichtbaren Phänomen, dass jemand Fahrrad fährt. So wie das Können des Fahrradfahrens unsichtbar ist, weil es die Möglichkeit eines Fleisches ist, so ist die Sünde und der Glaube (denn der Glaube ist die Gerechtigkeit) unsichtbare Modi der Existenz. Aber sie widerfahren dem Menschen; und im Widerfahren konstituieren sie den Modus seiner Existenz.[119]
Ist dafür die Singularität der Gerechtigkeit Christi notwendig? Wäre sie es, würden wir theologisch in eine absurde Metaphysik fallen, dass ein Individuum für die Sünde des Menschengeschlechtes verantwortlich ist, sowie ein Individuum für dessen Erlösung. Adam und Christus würden phantastisch außerhalb des Geschlechtes und der Geschichte (Kierkegaard) fallen. Es ist die Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder gerecht macht im Glauben und das heißt: Gott sieht denjenigen Menschen als gerecht an, der sich seiner Sohnschaft erinnert. Das extra nos ist bei Henry auch immer schon dadurch gesichert, dass die Menschen Söhne und Töchter Gottes sind; dass sie aus Gott geboren sind dem Ur-Sohn nach. Das extra nos verflüchtigt sich nie in einen Pantheismus: „Folglich stehen der Erst-Lebendige und alle weiteren aus dem absoluten Leben Geborenen nicht in einer reziproken Relation von phänomenologischer Strenge wie der Vater und der Sohn, sondern in einer asymmetrischen Relation einseitiger Abhängigkeit. Der Ur-Sohn kann ohne alle anderen Söhne, alle anderen aber nicht ohne den Ur-Sohn existieren.“[120]
Christus ist das Memorial der Erlösung; die Erlösung ist ein Handeln Gottes an den Glaubenden und kein Ereignis in der Realgeschichte durch ein übernatürliches Gott-Mensch-Wesen. Es kann so kein Zweifel daran sein, dass die Rechtfertigung extra nos geschieht, weil faktisch jeder Lebendige im Leben wurzelt und ihm alles verdankt. Die Rechtfertigung extra nos ist Ausdruck der menschlichen Tiefenpassivität, wonach wir unser eigenes Dasein und so auch unsere Gerechtigkeit (Glauben) nicht begründen können.[121]
Es ist also nicht so, daß sich etwas Besonderes, Konstatierbares in unserm Leben ereignete, daß uns besondere Qualitäten eingeflößt würden und wir nun besondere Dinge täten [...]. Aber dies hat sich ereignet, daß all unser Tun und Reden von dem Fluche erlöst ist, uns von Gott zu trennen. Es bleibt immer sündig, sofern es immer ein von uns unternommenes ist. Aber eben als sündiges ist es gerechtfertigt, d. h. es ist gerechtfertigt aus Gnade. Wir wissen nie von Gott; wir wissen nie von unserer eigenen Wirklichkeit; wir haben beides nur im Glauben an Gottes Gnade.[122]
Ad 3) Die Frage, ob Henrys Inkarnationskonzeption in eine Prädestination führt, wurde oben bereits kurz aufgegriffen. Sofern der lebendige Gott sich im Fleisch inkarniert und sofern der Glaube die Selbstimpressionalität Gottes in der Kontingenz unseres Lebens darstellt, scheint alles darauf hinzudeuten, dass der Mensch weder einen eigenen Willen, noch eine eigene Entscheidung oder Antwort im Glauben gibt. Dass der Wille nicht der unsere ist, wurde oben bereits verneint mit dem Hinweis darauf, dass die Gabe vollwertig und ohne Rückhalt sei. Es wurde oben bereits dahingehend zwischen Gott und Mensch unterschieden, dass „die ontologische Einheit von Gott und Mensch [...] modal in einem Abhängigkeits- und Freiheitsverhältnis ausdifferenziert [ist].“[123] Die Problematik der Prädestination erwächst erst dann in ihrer Strenge, wenn, wie Remmel beobachtet hat, die gesamte Christentumsgeschichte sowie alle Memoriae zwecklos entfallen, weil Gott im Menschen ohne jegliche Offenbarung sein Schauspiel treibt.[124] Doch so verhält es sich freilich nicht, weil der Glaube kein theoretisches Wissen, um historische Tatsachen ist, sondern eine Modalität unserer Existenz, in deren Modus man niemals selbst wechseln kann: „Zum Glauben an Gott kommt man nur dadurch, dass Gott den Glauben an seine Gegenwart wirkt. Wer an Gott glaubt, glaubt durch Gott an Gott.“[125] Das liegt daran, dass es kein neutrales Land menschlicher Existenz gibt: in den Glauben ‚wechselt‘ man nur aus dem Nichtglauben oder Unglauben; aber man vollzieht diesen Wechsel nie aus sich selbst, weil im Unglauben niemand Interesse oder auch nur eine Idee von Gott hat (weil es sonst nicht Nichtglauben wäre); m. a. W.: die Vergessenheit des Lebens ist absolut. In eine Prädestination führt dieser Gedanke allerdings dann, wenn die Zeitlichkeit menschlicher Existenz gekappt wird, wie Pannenberg konstatierte.[126] Erst wo die Erwählung ohne Berufung, d. h. in einer Vor-Zeit von Gott so und so entschieden wurde, brechen die Aporien der Prädestination auf. Und in der Tat scheint Henrys Konzept der transzendentalen Geburt, mit dem er die reale Heilsgeschichte des Christentums amputiert, in diese Richtung einzuschlagen.
Der Schlüssel zum Prädestinationsproblem muss auch hier in der Berufung und in der Stellung Jesu Christi als Ur-Sohn liegen, nach dessen Bild alle Menschen geboren und in dessen Fleisch alle geheiligt sind.[127] Die doppelte Prädestination ist so leicht von der Hand zu weisen; doch verbleibt scheinbar die einfache, wonach alle Lebendigen zu Leben und zum Glauben bestimmt sind, weil sie qua Leben aus dem absoluten Leben stammen. Unzweifelhaft ist es, dass der Wille Gottes genau darin besteht, dass alle zum Leben gelangen sollen (1 Tim 2,6). So scheint einiges dafür zu sprechen, dass alle erwählt sind. Allerdings ist es ein hermeneutisches Missverständnis, dass in dieser Perspektive die Heilsgeschichte quasi objektiv unter Absehung des Glaubens und der Berufung gedacht wird. Pannenberg hat deutlich gemacht, dass der Topos der Erwählung sich nur dann sinnvoll denken lässt, wenn er durch die eigene Gewissheit des Glaubens mediiert wird:
Insofern sind die Glaubenden als solche die ‚in Christo‘ Erwählten. Ihre Erwählung besteht darin, daß ihnen schon jetzt proleptisch zuteil wird, was in der Zukunft Gottes die Vollendung der Schöpfung sein wird. Insofern empfangen sie in der Tat mit ihrer Berufung zum Glauben zugleich die Gewißheit ihrer ewigen Erwählung.[128]
Erwählung gibt es nicht im neutralen Niemandsland, sondern nur als innere Gewissheit im Glaubensvollzug. Zu den Erwählten rechnet sich berechtigt nur der, dessen Existenz gnädig umgekehrt wurde; und diese Kehre, die die Berufung ist, greift proleptisch ins Eschaton aus. Es kann in der Tat nicht anders sein, als das derjenige, der als Sohn oder Tochter affiziert wurde, zugleich darin seine transzendentale Geburt aus Gott, seine absolute Verdanktheit und Abhängigkeit erkennt. So sind richtigerweise Protologie und Eschatologie im ewigen Gott immer schon miteinander verbunden: Jede Selbstständigkeit, jeder Atemzug des Menschen, „bedarf immer schon der Gemeinschaft mit Gott durch den Geist. Und wie der Sohn durch den Geist in ewiger Gemeinschaft mit dem Vater lebt, so gewinnt auch nur durch das Wirken des Geistes die Sohnschaft in den Geschöpfen Gestalt [...].“[129]
Der Glaube ist also Gotteserkenntnis; Erkenntnis dessen, dass die eigene Geburt im Leben und nicht in der Welt oder den ‚leiblichen‘ Eltern wurzelt. Christus ist das Symbol dieser Erkenntnis. Das Christusereignis ist ein (daseins)hermeneutisches Ereignis, mit dessen Symbolen (Kreuz und Auferstehung) die Glaubenden den Wechsel vom alten ins neue Leben beschreiben. So ist das Kreuz das Symbol für die Unverfügbarkeit und Endlichkeit des leiblichen Lebens; es erscheint hier in absoluter, abgründiger und phänomenaler Kontingenz: so wie es in sich kam, so wird es von sich gerissen werden. Die Auferstehung ist das Symbol für die nicht-phänomenale, unverbrüchliche Beziehung, die das Leben zu seinen Lebendigen hat: nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, wie sie offenbar wurde im Ur-Sohn. Alle Menschen sind Fleisch des Lebens; es besteht eine Communio der Lebendigen. Zur Communio Sanctorum wird diese Gemeinschaft durch den hermeneutischen Wechsel jener, die sich als Töchter und Söhne Gottes verstehen, weil sie zum Verständnis affiziert wurden, dass sie das immer waren, aber vergessen haben. Christus ist das Memorial dieser hermeneutischen Kehre: „Völlig zufällig, völlig kontingent, völlig als ein Ereignis tritt das Wort in unsere Welt hinein. Keine Garantie ist da, auf die hin geglaubt werden könnte.“[130]
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