Abstract
This article discusses the potential of Christoph Schwöbel’s relational theology for a reconsideration of Christian faith between church teaching and the dynamic praxis of love. Faith is approached as a relational phenomenon that is always already inspired by and confronted with shifting human expectations. At the interface between human expectations and God’s ongoing self-communication, theology reflects on both in a critical and self-critical manner. The future orientation of faith is then discussed in terms of God’s love, promise and faithfulness. Finally, the article argues for the need to develop a new concept of the soul as the relational centre of human beings.
Zusammenfassung
Dieser Artikel nimmt Christoph Schwöbels Entwurf einer relationalen Theologie auf, um das Wesen des christlichen Glaubens zwischen kirchlicher Lehre und einer dynamischen Liebespraxis neu zu bestimmen. Glaube wird hier als Beziehungsphänomen verstanden, das immer schon von partikulären Erwartungen gekennzeichnet ist. An der Schnittstelle zwischen menschlichen Erwartungshorizonten und göttlicher Selbstkommunikation versucht die Theologie sich mit beiden Herausforderungen kritisch und selbstkritisch auseinanderzusetzen. Die Zukunftsbestimmtheit christlichen Glaubens, die in Gottes Liebe, Versprechen, Verheißung und Treue gründet, ist Gegenstand des zweiten Teils. Im abschließenden dritten Teil wird ein neuer Seeelenbegriff gefordert, ohne den eine relationale Theologie unvollständig bleiben würde.
Zum seinem 60. Geburtstag erhielt Christoph Schwöbel eine Festschrift, zu der ich einen Beitrag über „Liebe, Hoffnung und Glaube als Kategorien relationaler Theologie“, beisteuern durfte.[1] Dort bekundete ich mein Einverständnis mit Schwöbels Projekt einer relationalen Theologie, die sich immer wieder neu mit den Bedingungen und Inhalten der christlichen Lebensführung in den sich verändernden globalen, regionalen und lokalen Zusammenhängen unseres Daseins auseinandersetzt.
Während Schwöbel die göttliche Trinität als den Grund relationalen Denkens und Handelns ausmacht, versuche ich gleichsam von unten her phänomenologisch vier mit einander zusammenhängende Beziehungen zu erörtern: meine Beziehung zu anderen Menschen (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), meine Beziehung zu Gott, meine Beziehung zu Gottes Schöpfungs- und Versöhnungshandeln im Universum sowie meine Beziehung zu mir selbst. Für mich ist die Trinität dabei eher Grenzbegriff und Zielpunkt als klarer theologischer Ausgangspunkt, aber, wie gesagt, Schwöbel und ich sind uns einig über die relationale und dynamische Verfasstheit des christlichen Glaubens.
Unser jeweiliges akademisches und familiäres Leben in verschiedenen europäischen Kontexten, in denen wir uns regelmäßig begegneten, sowie gemeinsame Reisen auch in außereuropäische Regionen haben uns immer wieder die Notwendigkeit vor Augen geführt, jenseits von überkommenen konfessionellen Begrenzungen christliche Theologie heute auch im Gespräch mit anderen Religionen und Weltanschauungen kritisch und selbstkritisch zu betreiben. Wir haben versucht, von unserer jeweiligen christlichen Glaubenstradition zu lernen und unsere kirchlichen Biographien gegenseitig kritisch zu begleiten. Dabei vertraten wir konsequent die Position, dass adäquate Theologie nicht nur den Interessen und Anliegen von Akademie und Gesellschaft, sondern immer auch denen der lebendigen kirchlichen Gemeinschaft verpflichtet bleiben muss. Gott will Beziehung mit uns Menschen. Die systematisch-theologische Auseinandersetzung über Inhalte und Formen des Glaubens ist nicht nur ein akademisches oder soziales Bedürfnis, sondern auch persönliche Berufung, die Dimensionen des christlichen Alltags zu erforschen und kritisch-konstruktiv zu begleiten.
Als Fortsetzung meines Gesprächs mit meinem Freund und Kollegen im besagten Festschriftartikel möchte ich im vorliegenden Beitrag einige Gedanken zum Verständnis des Glaubens am Schnittpunkt zwischen kirchlicher Glaubenstradition und -lehre und der christlichen Praxis der Liebe vortragen. Dieser Artikel ist also ebenfalls als „Gespräch“ gedacht und aufgebaut. Christoph Schwöbel war immer an konstruktiver Kritik seiner Positionen interessiert. Deshalb möchte ich auch hier nicht ohne Kritik vorgehen, wohl wissend und traurig, dass er mir nicht mehr antworten kann. Zunächst untersuche ich den Glauben als Beziehungsphänomen, das immer schon mit bestimmten Beziehungserwartungen konfrontiert ist, die es theologisch zu prüfen gilt. Zweitens erörtere ich die Zukunftsbestimmtheit des Glaubens, die in Gottes Versprechen, Verheißung und Treue gründet. Drittens plädiere ich für eine neue Theologie der Seele, ohne die eine relationale Theologie unvollständig bleiben würde.
Glaube, Beziehung und Beziehungserwartungen
In den unterschiedlichen kirchlichen Traditionen und Konfessionen hat sich bisweilen ein statisches Glaubensverständnis eingespielt: überall und zu jeder Zeit drücke der kirchlich vermittelte christliche Glaube eine für alle Christinnen und Christen unverrückbare und verbindliche Wahrheit aus, der es zuzustimmen gelte.[2] Das Bemühen um eine von allen zu teilende Lehrorthodoxie hat jedoch immer wieder zu Verzerrungen und Frustrationen geführt. Der Glaube lässt sich nicht ein für alle Mal abstrakt und an der Wirklichkeit der gläubigen Menschen vorbei verbindlich formulieren. Sobald der christliche Glaube eine Frage beantworten will, die von niemandem mehr gestellt wird, läuft seine Verkündigung ins Leere. Deshalb muss sich die Theologie mit den sich verändernden Glaubenserwartungen von Menschen beschäftigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die spezifischen Erwartungen von Christgläubigen nun selbst zur unhintergehbaren Norm werden sollen, sondern dass diese Erwartungen im nie abgeschlossenen Gespräch mit Gottes Selbstkommunikation kritisch und selbstkritisch beurteilt werden müssen. Dass Glaubenserwartungen zum Ort der Begegnung mit dem lebendigen Gott werden wollen, macht sie an sich noch nicht wahr oder gerecht.
Paul Tillich, Hans Küng, David Tracy, Johann Baptist Metz, Linn Tonstad und weitere Theologinnen und Theologen haben auf die sich notwendigerweise verschiebenden Paradigmen hingewiesen, innerhalb derer Theologie betrieben wurde und wird.[3] Dasselbe gilt natürlich auch für den Glauben. Während etwa im Mittelalter und der Reformationszeit eine wesentliche Glaubenserwartung darin bestand, primär Gottes verzeihende Gnade zu finden, erwarten postmoderne Menschen im Westen heute eher eine heilende Gottesbeziehung, die den zerstreuten und vereinsamten Menschen neu beziehungsfähig macht. Den postmodernen Menschen auf eine mittelalterliche Anthropologie verpflichten zu wollen, in der Menschen sich zunächst als Sünder definieren sollten, um sie dann aus ihrer hoffnungslosen Lage erlösen zu können, funktioniert heute nicht mehr. Gott bezieht sich auf die Menschen, wie sie jetzt sind und nicht wie eine kirchliche Lehre sie bisweilen gerne haben möchte.
Die Begegnungen mit Jesus, von denen die Evangelien erzählen, beziehen sich immer auf konkrete Menschen, auf die Jesus trifft, in ihrer jeweiligen Beziehungsdynamik. Dabei werden keine anthropologischen oder harmatiologischen Bekenntnisse vorausgesetzt, sondern lediglich die Erwartung, dass die Angesprochenen auf Jesu Anrede mit Neugier und Offenheit reagieren. Die Glaubensvollzüge, die in den Evangelien aufscheinen, laden Menschen in ihrer partikulären Situation ein, zusammen mit Jesus den Weg Gottes zu beschreiten. Dementsprechend wäre es entscheidend, dass Glaubensbeziehungen auch heute im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Generation, Sprache, Kultur, Geographie usw. genauer analysiert und verstanden werden. Es ist nicht einzusehen, dass ein Glaubenssatz wie „Ich glaube an Gott“ im patristischen Antiochien, im mittelalterlichen Wittenberg, im neuzeitlichen Kyoto und im postmodernen New York dieselbe Resonanz haben müsste.[4]
Jedem Glaubensakt wohnt immer schon eine ganz spezifische Dynamik inne, die von verschiedenen Quellen gleichzeitig gespeist wird. So gesehen ist jeder christliche Glaubensakt als persönlicher Beschluss, den Weg gemeinsam mit Jesus Christus und anderen Menschen zu Gott und in Gottes Reich zu gehen, zu würdigen. Die Fülle kirchlicher Glaubensformeln und katechetischer Unterweisungen vermag bestenfalls diesen persönlichen Entschluss, mit anderen gemeinsam auf Jesu Weg zu wandeln, entsprechend zu ermutigen und zu begleiten. Das bloße Nachsprechen eines gemeinschaftlichen Glaubensbekenntnisses kann jedoch nie den eigenverantwortlichen Glaubensvollzug ersetzen. Anders formuliert bleibt die Orthodoxie immer hinter der Orthopraxie zurück. Die theologische Arbeit dient dem Glaubensvollzug, wenn sie die Bedingungen der Nachfolge Christi in den konkreten Gegebenheiten der Welt jeweils bestmöglich beleuchtet. Und zu diesen Bedingungen zählen auch die sich stets verändernden Glaubenserwartungen.
Es macht einen großen Unterschied, wohin der Weg in der Nachfolge Christi führen soll. Ist das erhoffte Ziel der Glaubensbewegung etwa die Wiederherstellung eines paradiesischen Urzustandes der göttlichen Schöpfung, die durch die menschliche Sünde zerstört worden ist? Zahlreiche Theologen von Paulus über Augustinus bis zu Tillich sahen sich diesem Ziel verpflichtet. Oder enthält das göttliche Schöpfungs- und Versöhnungsgeschehen eine Einladung an alle Menschen, an dem Schöpfungsprozess je nach Möglichkeiten teilzunehmen, wobei das letzte Ziel offen bleiben muss aus Respekt vor der Freiheit sowohl Gottes als auch der Menschen? Oder sehnen wir Menschen uns wie die Gnostiker aller Zeiten immer noch nach einer völlig anderen Welt, einem ganz anderen Kosmos, für den diese unsere Welt bestenfalls eine Vorstufe darstellt? Unser Verhältnis zu Gottes Schöpfungs- und Versöhnungsprojekt beeinflusst also immer schon unsere persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubenserwartungen.
Das Gleiche gilt auch für unser Selbstverständnis als durch die Sünde geprägte Menschen. Wenn die Sünde zum Ausgangs- und Angelpunkt des christlichen Glaubens avanciert, wird die Beziehung Gottes zu den Menschen von ihrer Schattenseite her aufgerollt und entsprechend kultiviert, aber nicht von ihrem Beziehungspotenzial her. „Ich bin ein Sünder, also bin ich“ wird dann zum grundlegenden anthropologischen Credo. Hier wird jedoch die Beziehungswirklichkeit Lügen gestraft, der Jesus den Evangelien zufolge in den Begegnungen mit seinen Zeitgenossen Ausdruck und Dynamik verleiht. Das Heil des Menschen kommt von Gott her, nicht weil der Mensch Sünder ist, sondern weil Gott seine Geschöpfe liebt. Hier muss die Theologie aufpassen, dass sie nicht den Willen Gottes verdreht: Die Liebe Gottes steht im Zentrum von Jesu Weg und Verkündigung und nicht das Sündersein des Menschen.
Wenn Glaube also als persönliche und gemeinschaftliche Nachfolge begriffen werden soll, darf er nicht einfachhin zum „Gegenbild der Sünde“ reduziert werden.[5] Hier verfällt selbst Schwöbels ansonsten verdienstvolle relationale Theologie der Versuchung, von der menschlichen Relationslosigkeit her Gottes Beziehungsgnade zu denken, anstatt von Gottes Liebe her die Situation des Menschen in all ihren Facetten zu begreifen. Trotz aller reformatorischen Schärfe von Evangelium und Gesetz verdunkelt hier der Verweis auf die Macht des Gesetzes den Blick auf das Potenzial des Evangeliums, selbst wenn Schwöbel anschließend versucht, die Beziehung zwischen Menschen und Gott wieder ins rechte Licht zu rücken:
Zur Erkenntnis der Sünde kann es erst aus der Perspektive ihrer Überwindung, aus der Relokation des Menschen in der Beziehung zu Gott kommen, in der im Licht der Christusoffenbarung auch die Offenbarung Gottes in der Schöpfung wieder sichtbar wird und damit die Situation der Dislokation des Menschen in der cognitio peccati als das erkannt werden kann, was sie ist: Widerspruch gegen Gott. Die Christusoffenbarung offenbart so den ursprünglich die Schöpfung in ihren Strukturen bestimmenden Logos, indem die Menschwerdung dieses Logos in Jesus Christus innerhalb der Strukturen der geschöpflichen Erfahrung die Strukturen der Schöpfung in ihrer Zielbestimmung auf die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen offenbart.[6]
Christlicher Glaube ist aber mehr als ein Gegenbild zur Sünde. Er beschreibt in jeder Beziehung zunächst das Vertrauen in den anderen. Ich höre dem anderen zu. Ich nehme seine bzw. ihre Anrede ernst und erwäge sie vertrauensvoll. Nur so kann „Menschsein als Gespräch“ recht verstanden werden.[7] „Die Geschichte Jesu ist die Geschichte des ununterbrochenen Gesprächs Gottes mit der Menschheit und der Menschheit mit Gott.“[8] Dieses göttlich-menschliche Gespräch im Wort und Handeln Jesu Christi kann theologisch entfaltet werden, ohne dass man jedoch wie bei Schwöbel unmittelbar vom Theologumenon der Trinität bzw. des innertrinitarischen Gesprächs her denken muss.[9]
Die in den Evangelien bezeugten Dimensionen der von Jesus vorgestellten Gottesherrschaft verweisen auf Gottes schöpferische und unendliche Liebe und unterstreichen von daher Gottes Willen, mit allen Menschen in persönlicher Beziehung stehen zu wollen. Die Nachricht von Gottes Nähe und persönlicher Gegenwart ist damals wie heute eine gute Nachricht, vor allem für Menschen, die aufgrund verschiedenster Ausschlussmechanismen nicht an der Feier der Gottesnähe im Gottesdienst und am gemeinschaftlichen Leben teilhaben können: die Kranken, Armen, Behinderten, Fremden, Kinder, Frauen, Unreinen, Entrechteten usw. Die ihnen verkündigte Nähe und Liebe Gottes verheißt Befreiung von allem, was die gottgewollte Gemeinschaft zwischen Menschen und Gott behindert oder einschränkt.
Jesus verkündigt aber keine neue Liebe Gottes, sondern bekräftigt in Wort und Handlung das mosaische Liebesgebot als Zentrum des vertrauensvollen Umgangs von Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch sowie des vertrauensvollen Umgangs des Menschen mit sich selbst. Offenbarung und Erlösung stehen bei Jesus also im Dienst der Versöhnung aller möglichen Beziehungen von Gott und Mensch. Es geht hier nicht um eine irgendwie geartete Erlösung individueller Seelen, sondern um nichts weniger als um die sich entwickelnde eschatologische Gemeinschaft Gottes mit den Menschen. Dieses Ziel übersteigt jeden menschlichen Versuch, Gott auf diverse Heilserwartungen zu verpflichten – von individuellen Erlösungshoffnungen bis zu kirchlichen Exklusivitätsansprüchen. Schwöbel schreibt diesbezüglich zu Recht: „Gottes Gespräch kann nicht innerhalb der Mauern der Kirche eingeschlossen werden, da es von Anfang an an die ganze Schöpfung gerichtet ist, die ihr Sein aus dem göttlichen Wort hat.“[10] Gottes Einladung zur Teilnahme an Gottes Schöpfungs- und Versöhnungsprojekt richtet sich an alle Menschen. Alle Beziehungen, in denen wir Menschen stehen, gründen in der von Gott geschenkten Liebe: In der Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen, zu Gottes Schöpfungsgeschehen und zu meinem sich entwickelnden Selbst. Umgekehrt lässt sich festhalten, dass es keine wahrhafte menschliche Liebesbeziehung an Gott vorbei gibt.[11]
Die Liebe Gottes, die im Handeln und in der Verkündigung Jesu sichtbar wird, will die Menschen immer wieder zu neuem Vertrauen befreien und ermutigen. Wenn Jesus den Glauben von Menschen rühmt, geht es immer um ihr Vertrauen auf Gott, um die Annahme des Geschenks, überhaupt vertrauen zu können. So steht Jesus an der Schnittstelle von Vertrauen und Glauben. Wo immer Vertrauen gestört ist, versucht er, es wiederherzustellen, neu zu begründen, von allerlei Ballast zu befreien. Auch die erzählten Begegnungen der Jünger mit dem auferweckten Gekreuzigten handeln von einer jeweils neuen Vertrauensdynamik.
Gleichzeitig verdeutlichen die Evangelien und die Apostelgeschichte, dass Vertrauen gepflegt, kultiviert und immer wieder neu ausgerichtet werden muss. Dies geschieht in einer lebendigen Beziehung zumeist im Gespräch, im Gebet, im Respekt für den anderen und für Gott als den radikal Anderen.[12] Vertrauen setzt keine Symmetrie voraus, aber Gegenseitigkeit. So wird weder die Göttlichkeit Gottes noch die Menschlichkeit des Menschen infrage gestellt. Beide werden in der Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch in ihrem jeweiligen Sein anerkannt. Weder darf Gott zum Erlösungsgehilfen im Rahmen aller möglichen Erwartungen reduziert werden, noch darf sich der Mensch auf eine angeborene oder ererbte Sündigkeit reduzieren lassen. Das Geschenk des Glaubens krönt vielmehr die neue Vertrauensbasis zwischen Menschen und Gott, um die es Jesus von Nazareth ging. Das von ihm verkündigte und inaugurierte Reich Gottes wächst durch den Glauben, der auf dem neu geschenkten Vertrauen aufbaut.
Das Reich Gottes lädt also zu einer neuen Vertrauenskultur ein, in der das Gespräch zwischen Gott und Mensch gedeihen und in der der Glaube in der von Gott geschenkten Liebe wachsen kann. In dieser Vertrauenskultur geht es nicht um individualistische Erlösungshoffnungen, sondern um eine wahrhafte Gegenseitigkeit von Gott und Menschen, die auf Anerkennung, Liebe, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit aufbaut. In dieser Konstellation erscheint Versöhnung als Kulmination einer von Gott initiierten Liebespraxis und nicht als Höhepunkt einer von Menschen gepflegten Sorge um die Rettung einer individuellen Seele von ihren sündigen Neigungen.
Im Reich Gottes dreht sich alles um die Wiederherstellung der Beziehungsfähigkeit des Menschen und um die Neuausrichtung des Menschen in der gemeinschaftlichen Praxis der Liebe. Es geht also um die Zukunft des Menschen mit Gott in der Gemeinschaft der Heiligen. Akte der Säuberung von allen möglichen Unreinheiten machen erst Sinn, wenn sie diesem übergeordneten Ziel dienen und nicht umgekehrt. Schwöbel fasst dies wie folgt zusammen:
Die Macht Gottes ist die Macht des Versöhners, der seine verblendeten und von ihm entfremdeten Geschöpfe in Christus mit sich versöhnt, indem er an seinem schöpferischen Gemeinschaftswillen auch angesichts der Sünde des Geschöpfes, angesichts des Widerspruchs gegen Gott, festhält. Er schafft Versöhnung, indem die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott und Mensch in seiner schöpferischen Liebe und nicht im Werk des Menschen begründet ist: Die Rechtfertigung geschieht gratis, sola gratia, und dieses ausschließliche Werk Gottes will allein im Glauben angenommen werden. Die Macht Gottes ist die Macht der Vollendung, insofern Gott die Gemeinschaft mit seiner versöhnten Schöpfung durch das Wirken seines Geistes, die Erschließung seiner Wahrheit, vollendet. Es ist diese Macht Gottes, die menschliche Macht begründet und begrenzt und ihr innerhalb dieser Begrenzung auch Erfolg verheißt.[13]
Schwöbel und ich sind uns darüber hinaus einig, dass sowohl Schöpfung als auch Versöhnung in der Liebe Gottes wurzeln. „Nicht die Beseitigung des Sünders oder seine Bestrafung ist die Voraussetzung der Versöhnung, sondern Gottes schöpferische Liebe als versöhnende Liebe, die ihren Grund und ihr Maß nicht im Maß der Verfehlung findet, sondern in Gottes Wesen als Liebe.“[14] Für mich folgt aus dieser Einsicht jedoch die Priorität der Liebe über Glaube und Hoffnung. Während die Liebe aufgrund ihrer Verankerung in Gottes Ewigkeit Raum, Zeit und Sprache transzendiert, bleiben Glaube und Hoffnung an die Sterblichkeit des Menschen gebunden und gehen somit mit ihm im Tod unter.
Gottes Versprechen und die Zukunft der Welt
In einer seiner letzten Publikationen vor seinem plötzlichen Tod hat Schwöbel nachdrücklich auf die Zukunftsperspektive des christlichen Glaubens verwiesen.[15] Gerade in einer multikulturellen Gesellschaft wird der Bezug auf die Zukunft wichtig, die immer auch die Zukunft der anderen sein muss. Für Schwöbel vermittelt gerade die Reformation christlichen Glaubens seit dem 16. Jahrhundert einen zentralen Hinweis auf das Versprechen Gottes an alle Menschen.
Die wichtige Unterscheidung und Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium wird nur klar, wenn wir die Logik des Versprechens von der Logik der Anweisung unterscheiden. Während das Gesetz dem Muster „Wenn..., dann...“ in der Form des Gebotes „Du sollst..., so dass...“ folgt, hat ein Versprechen das logische Muster „weil..., deshalb...“. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass das Gesetz das gegenwärtige Ergebnis an Bedingungen der Vergangenheit knüpft, das Versprechen aber eine Zukunft eröffnet, die der Vergangenheit ihre determinierende Kraft nimmt und sie als durch die Zukunft bestimmt erweist.[16]
Das Versprechen Gottes an uns Menschen begründet eine Beziehung, die Zukunft eröffnet. „In diesem Sinne beinhaltet die Logik des Versprechens die Logik des Gebens, die Unbedingtheit des Versprechens als reine Gabe, die nichts voraussetzt als das Sein des Versprechenden als Möglichkeit in eine freie und dennoch wechselseitige Beziehung einzutreten.“[17] Gottes Sein selbst wird für den Menschen zum Versprechen, das sowohl Schöpfung als auch Versöhnung und Heiligung verheißt.[18] Diesem Sein Gottes gebührt unser Vertrauen. „Gottes Versprechen und Gottes Liebe gehören untrennbar zusammen, so wie Gottes Versprechen unbedingt schöpferisch ist, so ist auch Gottes Liebe schöpferische Liebe.“[19] Das Wesen der Liebe ist jedoch allumfassend: Sie strebt immer die Erfüllung aller Geliebten an. Wenngleich Gottes einzigartige und stets schöpferische Liebe im Verhältnis zur menschlichen Liebe asymmetrisch bleibt, so strebt auch sie immer schon nach Wechselseitigkeit. Schwöbel sieht in Gottes Versprechen nicht nur Gabe und Anrede, sondern auch die Befähigung, mit dem Versprechen Gottes zu kooperieren, indem wir Menschen Gott erkennen und Gottes Willen tun.
Zur Gotteserkenntnis gehört aber auch zu sehen, dass Gott auch ein verletzlicher Gott ist, insofern seine Gabe von uns zurückgewiesen werden kann, wenn wir andere Angebote bevorzugen.[20]
Versprechen, Vertrauen und Liebe gehören also unbedingt zusammen und zeichnen gemeinsam den christlichen Glauben aus. Gleichzeitig gehören ihre geschichtlichen Entfaltungen zum Glaubensprozess, weswegen Schwöbel die innere Zusammengehörigkeit von fides qua und fides quae unterstreicht.[21] Ich sehe natürlich auch diesen Zusammenhang, finde jedoch, dass er immer wieder kritisch bedacht werden muss, so dass überlieferte Glaubensinhalte, wie zum Beispiel eine überbordende Betonung der Sündigkeit des Menschen, nicht mit der göttlichen Dynamik von Versprechen, Vertrauen und Liebe in Konflikt geraten. Schwöbel behandelt dieses Konfliktpotenzial bedauerlicherweise hier nur unter der Überschrift der Anfechtung. „Weil das Vertrauen des Glaubens ausschließlich auf Gottes Verheißung beruht, muss sich die Glaubensgewissheit mit Anfechtungen auseinandersetzen, mit den Versuchungen und Gefährdungen des Glaubens.“[22] Die systemische Gefährdung des Glaubens durch lehramtliche und theologische Verzerrungen aus Vergangenheit und Gegenwart darf jedoch nicht auf das Niveau persönlicher Anfechtungen reduziert werden.
Schwöbels Betonung der reformatorischen Einsicht in die Unterscheidung zwischen Sein und Tun ist dagegen sehr zu begrüßen. „Die Rechtfertigungslehre stellt die weit verbreitete anthropologische Behauptung, dass der Mensch ist, was er tut, so dass Menschen durch die Summe ihrer Werke definiert werden können, explizit in Frage.“[23] Gottes schöpferisches und versöhnendes Versprechen begründet erst die dynamische Identität des Menschen. So gesehen leistet Gottes Gnade „die fundamentale Anerkennung jeder besonderen menschlichen Person als ein Versprechen und als eine Gabe Gottes“.[24]
Das Gespräch Gottes mit den Menschen, die Beziehung von Gott und Menschen zur Schöpfung, das Verhältnis von Menschen zu anderen Menschen im Horizont des göttlichen Zukunftsversprechens kommen immer wieder in Schwöbels relationaler Theologie zu Wort.[25] Dagegen fehlt mir in seiner ansonsten so reichen Theologie ein Begriff, der die von Gott geschenkte Beziehungsfähigkeit des Menschen vielleicht noch allseitiger und intensiver beleuchten könnte: die menschliche Seele. Ein paar Hinweise zum relationalen Potenzial dieses Begriffs sollen das kurze Gespräch mit meinem Freund beschließen.
Die Seele als Beziehungszentrum des Menschen
In den letzten Jahren erfuhr die menschliche Seele wieder erheblich mehr theologische und philosophische Aufmerksamkeit.[26] Gründe, warum die Seele einst in Misskredit geraten war, gibt es viele. Sie reichen vom Protest gegen eine Reduktion des Menschen auf seine Seele bzw. Seelensubstanz, über die scharfe Trennung von Seele und Körper bis zur Kritik an eschatologischen Verzerrungen im Namen einer Erlösung nur von individuellen Seelen, sozusagen am ganzen Menschen vorbei. Dazu kam, dass es kirchlicher Seelenbesessenheit nicht geglückt war, die Existenz einer Seele nachzuweisen, was ihr den Spott der modernen Philosophie eingetragen hatte. Wenn ich nun dafür plädiere, gerade in einer relationalen Theologie den Begriff der Seele neu zu bedenken, möchte ich auf keinen Fall zu früheren kirchlichen Seelensubstanzvorstellungen zurückkehren. Vielmehr geht es mir darum, den Menschen als Beziehungswesen schärfer begrifflich zu erfassen und aufzuwerten, um damit einer relationalen Theologie noch mehr Nachdruck zu verleihen.
Den Menschen als von Gott zur Liebe geschaffen zu begreifen, verlangt nach einer entsprechenden Ontologie der menschlichen Person, die über die Körperlichkeit und Materialität hinaus auch die Relationalität der Person und ihren Ewigkeitscharakter begreift.[27] Freilich kann eine solche Relationalität nie ohne Bezug auf die Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit auskommen. Außerdem kann eine neue und kritische Seelen-Theorie dem immer größeren Geheimnis des menschlichen Wesens nie umfassend gerecht werden. Dennoch braucht es meines Erachtens den Begriff der Seele. Denn wie sonst könnten wir die Wirkweise der drei theologischen Tugenden Liebe, Hoffnung und Glaube angemessen fassen? Sie sind doch Anknüpfungspunkte für unser menschliches Gottes- und Beziehungsverständnis und gleichzeitig Einladungen Gottes, unserer komplexen Beziehungswirklichkeit nachzukommen: unserer Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen (verstorbenen, lebenden und noch nicht geborenen), unserer Beziehung zum sich entwickelnden Universum in all seinen Dimensionen, aber auch unserer Beziehung zu uns selbst. In allen diesen miteinander verwobenen Relationen erfahren und erkennen wir Gottes Schöpfungs- und Versöhnungsprojekt.
Wir wissen zwar, dass wir diesseits unseres Todes nie die ganze Beziehungsmöglichkeit werden realisieren können. Dennoch sind wir von der Aussicht „beseelt“, dass erst in Gottes Reich unsere relationale Vollendung möglich sein kann. So erkennt eine relationale Theologie an, dass mit dem Tod des Menschen nicht notwendig das Ende der Relationalität der menschlichen Person gekommen ist. Das Versprechen der treuen Liebe Gottes bleibt auch am Ende des menschlichen Hoffens und Glaubens lebendig. Die Seele des Menschen bezeichnet diese Resonanz auf Gottes ewig-treue Liebesbeziehung zu den Menschen. Die Seele garantiert also weder unendliches Leben, noch nimmt sie die Entscheidungen für oder gegen Gottes Liebe vorweg. Aber sie steht für den unverbrüchlichen Charakter der Beziehung des Schöpfergottes zum Menschen.
Die Sorge um die Seele erscheint von daher als eine zentrale Aufgabe der Menschen im Allgemeinen und der Jünger Jesu Christi im Besonderen. Seelsorge ist das Werk der Liebe. In ihr kommen fides qua und fides quae zusammen. In Gottes Gericht der Liebe soll die menschliche Beziehungswirklichkeit schließlich in den Kategorien der Ewigkeit gewogen und beurteilt und, so hoffen wir, vollendet werden.[28]
Danksagung
Für Christoph Schwöbels Freundschaft und für seinen Entwurf einer relationalen Theologie bin ich von Herzen dankbar.[29]
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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