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Tanz

Veröffentlicht/Copyright: 9. Juli 2025
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Liebe Leserinnen und Leser,

Tanzen ist wie Singen eine der ältesten Ausdrucksformen der menschlichen Kultur. Dementsprechend tanzen die Religionen der Welt seit Jahrtausenden in unterschiedlichsten Weisen und Absichten. Tänze dienen zur Heilung einer gestörten sozialen Ordnung, sie markieren Passageriten und vermitteln ekstatische Trance als Zugang zum Numinosen. In einigen afrikanischen Kulturen rufen erotische Tänze die Potenz der Götter zu den Menschen herab. Der indische Gott Śiva hat sogar die Welt durch Tanz ins Sein gerufen. Noch im Alten Testament sind Tänze vor allem Ausdruck der Lebensfreude und tauchen auch im kultischen Kontext auf, wenngleich schon damals der ekstatische Kulttanz der heidnischen Umwelt abgelehnt wird.

Im Vergleich zu diesem bunten Reigen wirkt die christliche Tradition blass und blutleer. „Wer das Bein zum Tanze hebt, dem wird’s im Himmel abgesägt“, dichteten die hessischen Blödelbarden „Superzwei“. Nietzsche spottete im „Zarathustra“: Er wolle nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Aber wie Sie in diesem Heft sehen werden, ist der Umgang mit dem Tanz in den heutigen christlichen Konfessionen durchaus unterschiedlich und vielfältig, wobei zwischen dem säkularen (Volks- und Gesellschafts-)Tanz und dem sakralen Tanz zu unterscheiden ist.

Den Auftakt macht Tatjana Schnütgen, die das Potenzial des Tanzes für praktische Ökumene und interkonfessionelle Konvivialität erkundet. Er sei ein Medium, den Glauben zu erden. Christoph Barnbrock nimmt zwei Theologen des 19. Jahrhunderts unter die Lupe, um sowohl die damalige theologische Kritik an Gesellschaftstänzen als auch die grundlegend veränderte Haltung der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu zeigen. Dies ist der einzige Beitrag aus freikirchlicher Sicht, er scheint aber Typisches zu beschreiben. Denn eine Reihe Pfingst- und anderer Freikirchen meldete auf Anfrage einander ähnelnde Beobachtungen zurück: Es habe dort lange Zeit Skepsis und Ablehnung gegenüber dem Tanz geherrscht, die heute aufgeweicht oder verschwunden seien, beides jedoch ohne tiefere theologische Reflexion. Es hätten allerdings in jüngerer Zeit gelegentlich Gläubige mit Tanz im Gottesdienst experimentiert. Für eine profunde theologische Analyse des Themas sei es aber noch zu früh. Vielleicht deutet sich auch hier ein kultureller Paradigmenwechsel an, der bislang eher geschieht als theologisch reflektiert oder gar kirchlich initiiert wird?

Der amerikanische Presbyterianer Erik Dailey geht von der bekannten Tanzfeindlichkeit der reformierten Tradition aus. Da schon das säkulare Tanzen verpönt war, spielte Tanz natürlich in Spiritualität und Kultus erst recht keine Rolle. Die Ursprünge dieser Ablehnung findet er im Einfluss neuplatonischer Philosophie auf das frühe Christentum und in der Aufklärung, welche die Vernunft dem Gefühl, die ratio der emotio überordnete. Aber auch er weist auf gegenläufige moderne Ansätze hin, die alte Muster aufbrechen wollen.

Dominik Koys historischer Blick fokussiert vor allem auf die tanzkritische Haltung des Pietismus am Beispiel August Hermann Franckes. Dieser wusste um das positive Bild des Tanzes im Alten Testament (David vor der Bundeslade!), er gewichtete aber für die „Normalchristen“ seiner Zeit die sexuellen Anklänge und Versuchungen des Tanzes schwerer. „Dance is the vertical expression of a horizontal desire“, soll George Bernard Shaw formuliert haben.

Den Abschluss jedoch bilden zwei Gegenbeispiele, in denen hochritualisierte Tänze im kultischen Zusammenhang zum Ausdruck einer eigenen konfessionellen Frömmigkeit und Religionskultur geworden sind. Kai Merten stellt den liturgischen Tanz der „Däbtärä“, also theologisch gebildeter Laien, in der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche vor. Martin Bräuer schließlich beschäftigt sich mit der sprichwörtlich gewordenen Echternacher Springprozession, die in Luxemburg jährlich nach Pfingsten zum Grab des heiligen Willibrord abgehalten wird. Ihr Ursprung ist trotz verschiedener Erklärungsversuche unklar, doch unbestritten ist ihre bis heute anhaltende Beliebtheit.

Mehrere Autoren erwähnen eine Neubewertung des Tanzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hierzu gehört auch die Vorgeschichte der ökumenischen Initiative „Christliche Arbeitsgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität e.V.“, welche am Ende Tatjana Schnütgen kurz vorstellt und damit einen Ausblick auf mögliche künftige Entwicklungen gibt.

Im Namen des Konfessionskundlichen Instituts wünsche ich Ihnen eine erhellende, anregende und vielleicht ideenstiftende Lektüre.

Kai Funkschmidt

Online erschienen: 2025-07-09
Erschienen im Druck: 2025-07-07

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 11.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/mdki-2025-0010/html
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