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Über drei Deduktionen in Kants Moralphilosophie - und über eine vierte, die man dort vergeblich sucht. Zur Rehabilitierung von Grundlegung III

  • Ludwig Bernd EMAIL logo
Published/Copyright: March 21, 2018
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Abstract:

Since H. J. Paton’s famous commentary from 1947, Kant’s interpreters have considered a ‘deduction of the categorical imperative’ a challenge. This is quite puzzling since Kant himself never talks about such a deduction - and the famous ‘deduction’ he does mention in Groundwork III.4 is, as a close reading shows, not at all the deduction of a law but the deduction of a concept, of the idea of a pure lawgiving will: Only the reality of this idea can explain the possibility of - prima facie impossible - categorical imperatives and thus of morality as autonomy. The presupposition of the validity of the moral law, however, was already a cornerstone of Kant’s critical metaphysics in 1781: Moral theology (which replaces all speculative proofs of immortality and of God’s existence) depends on the moral law’s being an undisputed datum without any need for philosophical justification (‘deduction’). While in the Groundwork (1785) Kant tried to show the practical reality of the idea of a pure will with the help of a speculative deduction of freedom (which a reviewer described as being ‘uncritical’ in May 1786), in the second Critique (1787/88) the reality of that very idea, and with it the idea of freedom, depends (as did immortality and God’s existence in 1781) on the aforementioned practical datum, which, from that point on, Kant called a “Factum der reinen Vernunft” [fact of pure reason].

Prominenter Gegenstand in den Diskussionen über die Grundlagen der Kantischen Moralphilosophie ist seit Langem eine Deduktion des kategorischen Imperativs (oder des Sittengesetzes). Unter den Interpreten besteht verbreitet Einigkeit darin, dass Kant im Dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 mit besagter Deduktion[1] eine Begründung der moralischen Verbindlichkeit leisten wollte. Kontrovers diskutiert wird hingegen die Frage, ob Kant später diese Deduktion zurückgezogen (resp. die zugrundeliegende Begründungsanstrengung aufgegeben) hat, um sie dann 1787/88 in der Kritik der praktischen Vernunft durch eine neue Lehre vom „Factum der reinen Vernunft“ zu ersetzen.[2]

I Der Text

Geht man dem Verdacht einer solchen Revision nach, indem man einen Blick in die heute verfügbaren Texte wirft, in denen Kant selbst (sei es durch seine Druckschriften, Briefe und Notizen oder vermittels Nachschriften anderer) zu uns spricht, so wird man allerdings als erstes gewahr, dass nicht nur die Kritik der praktischen Vernunft eine solche Imperativ-Deduktion vermissen lässt, sondern dass - von einer Ausnahme in den späten 1790er Jahren abgesehen (s. u.) - in dem an ‚Deduktionen‘ nicht gerade armen Textkorpus (über 200 Vorkommnisse) von einer Deduktion des kategorischen Imperativs genauso wenig die Rede ist, wie von einer des Sittengesetzes. Das ist angesichts der Prominenz dieser Ausdrücke (und deren angelsächsischer Pendants) in der Kant-Literatur eine durchaus irritierende Feststellung.

Die Irritation muss noch weiter zunehmen, wenn man bemerkt, dass ausgerechnet in jener Passage der Grundlegung, in der vorgeblich eine Deduktion des kategorischen Imperativs zu finden ist, Kant uns mitteilt, dass eine solche Deduktion hier definitiv nicht auf der Tagesordnung steht, sondern eine ganz andere. Denn mit der Antwort, die er in der vierten Sektion des dritten Abschnittes auf die Frage: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ gegeben hat, verhält es sich, wie er im Nachhinein klarstellt, „ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe [!] des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzukommen und dadurch synthetische Sätze [!] a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen.“ (GMS, AA 04: 454, Herv. B. L.) Kurz zuvor, 1783, waren die Prolegomena erschienen, denen wir entnehmen, dass es in der theoretischen Philosophie wesentlich um die Frage, „Wie sind synthetische Sätze [!] a priori möglich?“ (Prol, AA 04: 276) geht, und dass diese Frage in der Kritik durch die Deduktion der Kategorien, der reinen Begriffe [!] des Verstandes, beantwortet wird (etwa: Prol, AA 04: 365). Um die von ihm intendierte[3] Analogie zur „theoretischen Erkenntnis“ (GMS, AA 04: 420) vorzubereiten, hatte Kant schon im zweiten Abschnitt der Grundlegung gezielt herausgearbeitet, dass der kategorische Imperativ, dessen „Möglichkeit“ im Folgenden gezeigt werden soll, ein „synthetisch-praktischer Satz a priori“ ist, und dass er demnach als ein „synthetischer praktischer“ (GMS, AA 04: 444), kurz: wie ein „synthetischer“ (GMS, AA 04: 440), Satz a priori zu behandeln sei. Was auch immer wir uns von der Grundlegung versprechen, eines dürfen wir angesichts dieser kantischen Ausführungen dort definitiv nicht erwarten: Dass die Frage: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ vermittels einer Deduktion dieses kategorischen Imperativs selbst (ganz gleich, was wir unter einer solchen überhaupt verstehen wollen) beantwortet wird. Denn wenn wir im Text von GMS III.4 jene „Deduction“, deren „Richtigkeit“ post festum durch Verweis auf den „ärgste[n] Bösewicht“ bestätigt wird, und die für Kant ein praktisches Analogon zur Kategorien-Deduktion darstellt, genauer bestimmen wollen, dann kann es definitiv nicht eine Deduktion ebenjenes synthetischen Satzes gewesen sein, dessen Möglichkeit durch sie erwiesen werden soll. Es muss vielmehr die Deduktion von etwas davon Unterschiedenen sein, und zwar die eines (Vernunft-)Begriffs,[4] einer Idee, die hier ‚hinzu kommt‘.

Aber welcher Idee? Unter allen in der Grundlegung erwähnten Ideen (der Pflicht, der Freiheit, der Glückseligkeit, der Verstandeswelt, der Würde, der Menschheit etc.) kann es nur die eines reinen, gesetzgebenden Willens sein, denn allein von dieser wird (1) in III.4 tatsächlich behauptet, dass sie hier (zum sinnlich affizierten Willen) ‚hinzukomme‘. Zudem hat Kant (2) die Kategorien mit der Betonung, dass sie „für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten“ (s. o.), in die größtmögliche Nähe zu genau dieser Idee gerückt. Darüber hinaus wurde sie (3) bereits in der Vorrede als das abgrenzende Kennzeichen der reinen kantischen von der wolffschen Moral angekündigt (GMS, AA 04: 390) und soll (4) ferner „das specifische Unterscheidungszeichen“ des kategorischen Imperativs von den hypothetischen abgeben (GMS, AA 04: 432) - gleichwohl erfährt sie weder vor noch nach III.4 irgendeine systematische Einbettung. Keine andere unter den infrage stehenden Ideen könnte (5) die Möglichkeit einer kategorischen Nötigung unseres „durch sinnliche Begierden affizierten Willens“ besser (bzw.: überhaupt) begreiflich machen; und nur für die Deduktion der (hinzukommenden) Idee eines reinen Willens liefert (6) der Konflikt des (leider schwächelnden) „guten Willens“ des Bösewichts mit dessen (notorisch) „bösen Willen“ dann auch eine nachvollziehbare ‚Bestätigung‘ aus dem „Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft“.

Wer demnach darauf besteht, dass es bislang sinnvoll war und auch weiterhin hermeneutisch verantwortbar sein könnte, von ‚Kants Deduktion des kategorischen Imperativs‘ (bzw. ‚des Sittengesetzes‘) in der Grundlegung zu reden, wird eine Berechtigung für diese durchaus nicht triviale und (wie sich im nächsten Abschnitt zeigen wird) alles andere als hilfreiche Interpretationshypothese also zumindest nicht in den bislang dafür herangezogenen Passagen aus dem dritten Abschnitt finden: Diese handeln ausdrücklich von einer anderen Deduktion, von der Deduktion der Idee eines reinen, gesetzgebenden Willens[5] - mit einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ beschäftigt sich ausschließlich (s. o.) die Kant-Literatur.

II Die Argumentation

Wen dieser direkte Text-Befund allein noch nicht aufhält, dem kann man zusätzlich einen zweiten, nicht weniger gewichtigen Stein vor die Füße legen, indem man zeigt, dass von der geradezu gebetsmühlenartig beklagten „Dunkelheit“[6] der Argumentation in Grundlegung III kaum ein Schatten übrig bleibt, wenn man erstens darauf verzichtet, in III.4 irgendeine Imperativ- oder Gesetzes-Deduktion dingfest machen zu wollen, und zweitens der genannten Begriffs-Deduktion die ihr von Kant zugewiesene, zielführende Rolle beim Nachweis der „Möglichkeit“ kategorischer Imperative einräumt. Dabei wird zudem deutlich, dass man die fraglos verbleibenden Zweifel an der Gültigkeit oder Angemessenheit dieser Argumentation zumindest nicht dadurch ausräumen kann, dass man auf eigene Rechnung irgendetwas nachliefert, was angemessen als eine ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ bezeichnet werden könnte.

Und in der Tat liegen Grundstruktur, Einzelschritte und Ziel der Argumentation von Grundlegung III im Lichte der obigen Auswertung von Kants Verweis auf seine Kategoriendeduktion klar und deutlich vor Augen: Nach der Vorstellung und einer Erläuterung des (neuen) positiven Begriffs der Freiheit (III.1) soll zunächst (III.2 und 3) dessen praktische Realität vermittels einer „Deduktion der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ (GMS, AA 04: 447) gesichert werden (denn „die Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie“, d. h., der Selbst-Gesetzgebung). Diese Freiheit dient nun als Grundlage („Vorbereitung“) einer weiteren Deduktion, der Deduktion der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens (III.4 - die Freiheit „weiset“ bereits in III.1 auf diese Idee, welche dort als die eines „Dritte[n]“ angekündigt wird; GMS, AA 04: 447).[7] Und die dadurch gesicherte praktische Realität dieser Idee wiederum erlaubt es bereits, die Frage „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ zu beantworten. Diese Frage ist ausweislich ihrer ersten Erwähnung nämlich die, „wie bloß die Nöthigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne“ (GMS, AA 04: 417 - eine Frage, die bei den hypothetisch-gebietenden „keiner besonderen Erörterung“ bedarf, ebd.). In dieser für Kant demnach maßgeblichen Bedeutung ist die Frage nach der Möglichkeit kategorischer Imperative erkennbar nicht eine nach der Verbindlichkeit bzw. praktischen Geltung oder nach einer Rechtfertigung des Sittengesetzes, sondern vielmehr die, wie man die infrage stehende Art von Imperativen „begreiflich machen“ (GMS, AA 04: 447) kann, also nicht ob, sondern vielmehr „woher [!] das moralische Gesetz verbinde“ (GMS, AA 04: 450), wenn es denn tatsächlich kategorisch verbindet.[8] Selbst wenn es dem Text in diesem Punkt an Deutlichkeit fehlen würde (wovon jedoch insbesondere im Kontext von GMS, AA 04: 417 keine Rede sein kann!), so ließe sich Kants Frageintention immer noch direkt an seiner Antwort ablesen: Für die abschließende (und mehrfach aufgeschobene; u. a. GMS, AA 04: 420, 425, 430 f., 440, 445) Beantwortung der Frage soll und kann nämlich offenkundig die im dritten Abschnitt nunmehr gewonnene Einsicht genügen, dass für freie Wesen die Idee eines reinen Willens praktische Realität hat: Weil und sofern wir unsere (intelligible) Freiheit mit Recht ‚voraussetzen‘ (dazu gleich!), kann die sittliche „Nöthigung“ demnach als eine Beziehung zwischen unserem reinen, intelligiblen und unserem sinnlich-affizierten Willen „gedacht werden“ - und das ist „zum praktischen [!] Gebrauche der Vernunft, d. i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses [sc. des kategorischen] Imperativs mithin auch des sittlichen Gesetzes hinreichend“ (GMS, AA 04: 461).

Mit dieser Antwort ist der gewichtige Vorbehalt - nicht etwa gegenüber der Sittlichkeit überhaupt, sondern - gegenüber Kants besonderer philosophischer „Entwickelung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit“ (GMS, AA 04: 445) in den vorausgegangen Abschnitten der Grundlegung aus dem Weg geräumt, der Einwand nämlich, dass die dabei zutage geförderte reine Moral der Autonomie mit ihren kategorischen Imperativen bloßes „Hirngespinst“ (ebd.) bleiben müsse, weil die dafür anzunehmende nicht-sinnliche Nötigung überhaupt nicht „gedacht werden könne“: In diesem Falle wäre Pflicht am Ende „überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff“ (GMS, AA 04: 402) - denn die Gebote und Verbote der „im Schwange gehenden“ Sittlichkeit könnten dann letztlich (doch) nur als die (nicht weiter erläuterungsbedürftigen, s. o.) hypothetischen Imperative einer „mehr oder weniger verfeinerten Selbstliebe“ (GMS, AA 04: 406) „gedacht werden“.

Was in III.2 und 3 im Einzelnen geschehen ist, lässt sich nun ohne Weiteres als derjenige Teil der „besondere[n] und schwere[n] Bemühung“ (GMS, AA 04: 420) identifizieren, an dem alle vorkritische Moralphilosophie scheitern musste: Die in III.1 angekündigte ‚Deduktion der Freiheit‘. Kant fasst sie in III.5 rückblickend folgendermaßen zusammen:

Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann), sondern auch sie praktisch, d. i. in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung nothwendig. (GMS, AA 04: 461)

Die in der zweiten Hälfte dieses Zitats angesprochene „praktisch[e]“ Notwendigkeit war Gegenstand der Sektion III.2, wie es bereits deren Überschrift erkennen lässt: „Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden“. Darauf, dass die in der ersten Hälfte erwähnte „speculative Philosophie“, und zwar die kritische, den Nachweis der Möglichkeit der Freiheit in III.3 bewerkstelligt, weist uns bereits die dortige Terminologie hin (GMS, AA 04: 452 f.): An der „reinen Spontaneität“ der Vernunft, die sich „wirklich“ in den „Ideen“ zeigt und „dadurch [!] weit über alles, was […] Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht“, lässt sich die Zugehörigkeit des Menschen zur „intelligiblen“ bzw. „Verstandeswelt“ erkennen. Und damit ist es (spekulativ) möglich, ebenjene Kausalität, die wir uns (zufolge III.2) als willensbegabte Subjekte (praktisch) notwendig zuschreiben, als eine „intelligible“ Freiheit zu denken, als eine „Art von Causalität“ (GMS, AA 04: 446; vgl. GMS, AA 04: 460 und KrV, A 449), die (wie die Kritik der reinen Vernunft gezeigt hat, KrV, A 532 f.) nicht mit dem „Princip der Naturnothwendigkeit“ (in der Welt der Erscheinungen) in Widerspruch steht und „der eigentliche […] Grund der Imputabilität“ unserer Handlungen ist (KrV, A 448). Deren besonderes Kausalgesetz kann, wie sich nun vermittels des eingangs in III.1 vorgestellten positiven Begriffs der Freiheit ergibt, nur das formale Sittengesetz sein - das hier am Ende von III.3, also erst nach Abschluss der Deduktion der Freiheit, erstmals systematisch ins Spiel kommt: Wir haben damit die „Autonomie des Willens samt ihrer Folge, der Moralität“ erkannt (GMS, AA 04: 453).

Da eine „Causalität durch Vernunft“ (so dann schließlich Sektion III.4; vgl. bereits GMS, AA 04: 446) „Wille“ genannt wird, und ein „reiner“, intelligibler Wille Gesetze für das Sinneswesen vorstellt (denn die intelligible Welt enthält „den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben“), ist es möglich, dessen Gesetze als Imperative zu „denken“[9], die kategorisch gebieten, und die von ihnen gebotenen Handlungen sind damit (die sittengesetzlichen) Pflichten (q. e. d.).

Hiermit ist nicht nur das Beweisziel des dritten Abschnitts erreicht, sondern (wie ein Blick auf das Ende der Vorrede zeigt; GMS, AA 04: 391 f.) auch das der Grundlegung als Ganzer: Das ‚allgemeine Prinzip der Moralität‘ wurde aus dem gemeinen sittlichen Vernunftgebrauch nach analytischer Methode ‚entwickelt‘ (GMS I), sodann auf seine Tauglichkeit für eine philosophische Sittenlehre ‚geprüft‘ (GMS II)[10] und schließlich auf seine ‚Quellen‘, den gesetzgebenden, reinen Willen freier Wesen, zurückgeführt (GMS III.1-4). Der dann noch verbleibende Text unterfüttert insbesondere die „speculative[n]“ Freiheits-Erörterungen aus GMS III.3 noch einmal detailliert mit Lehrstücken des transzendentalen Idealismus (GMS III.5: „Ding an sich“ vs. „Erscheinung“ &c.), um damit schließlich die „Grenze“ einer philosophischen Freiheits- und Sittenlehre genauer abstecken zu können (GMS III.6). Eine noch ausstehende (und von den ersten Lesern auch sogleich ersehnte, siehe: Br, AA 10: 486) Metaphysik der Sitten wird von dem nunmehr ‚festgesetzten‘ „obersten Prinzip“ der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zu dieser selbst demnächst „synthetisch den Weg nehmen“.[11]

Auch wenn diese Skizze der Argumentation als eine Skizze naturgemäß lückenhaft bleibt (und sie es uns daher nicht erlaubt, Detail-, Angemessenheits- oder gar Geltungsfragen zu erörtern), so fängt sie gleichwohl Voraussetzungen, Argumentationsgang und Beweisziel des dritten Abschnitts hinreichend textnah und dicht ein, um diesen, erstens, von jedem Verdacht außergewöhnlicher ‚Dunkelheit‘ zu befreien und, zweitens, in den dort dargestellten „Hauptzüge[n]“ (GMS, AA 04: 445) zumindest keine solche Lücke offen zu lassen, die ausgerechnet mit irgendeiner ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ auszufüllen wäre - zwei Feststellungen, die für die hiesigen Zwecke hinreichen.

III Worum es in GMS III nicht geht - und auch gar nicht gehen darf

Falls man sich von einer derartigen ‚Deduktion‘ allerdings erhofft, dass sie es (mit) Kant am Ende erlaubte, in GMS III die Verbindlichkeit des Sittengesetzes, bzw. dessen Gültigkeit oder Geltung aufzuzeigen, zu begründen, zu beweisen, zu rechtfertigen o. ä., dann legt man seinen Interpretationsversuchen noch einen dritten, für sich allein schon unüberwindlichen Stein in den Weg: Ein solcher Nachweis ist nämlich nicht nur im Text der Grundlegung nicht aufzufinden und bliebe dort ja auch ohne erkennbare systematische Funktion. Er ist darüber hinaus ausgerechnet beim kritischen Kant überhaupt nicht zu erwarten: An Verbindlichkeit und Unabweisbarkeit der sittlichen Forderungen hat dieser nämlich niemals auch nur den geringsten Zweifel zugelassen. Er hat sie, ganz im Gegenteil, stets ausdrücklich als ein gerade für seine kritische Philosophie unhintergehbar-Gegebenes, d. h. ohne jede Deduktion o. ä., vorausgesetzt. Schon in den 1770er Jahren (siehe etwa V-Met-L1/Pölitz, AA 28: 306 ff.) behandelt Kant das Verbindlichkeitsbewusstsein ersichtlich als ein solches datum, und 1781 zieht er es dann explizit heran, um zwei von den drei transzendentalen Ideen objektive praktische Realität zu verschaffen (KrV, A 807 ff.): Nur dank des moraltheologischen Gottesbeweises, für den man ein Bewusstsein der Verbindlichkeit der moralischen Gesetze bei allen nachdenkenden Menschen „mit Recht voraussetzen“ darf (ebd.), kann die Kritik der reinen Vernunft schließlich sämtliche spekulativen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweise als „null und nichtig“ verabschieden (KrV, A 636, vgl. 401), ohne damit unweigerlich im skeptischen Atheismus zu enden. Folglich ist eine absolute epistemische Priorität des Sittengesetzes für „Unbedingt-Praktische[s]“ (KpV, AA 05: 29) bei Kant nicht nur 1785 längst ein alter Hut: Sie ist (seit) 1781 sogar der Dreh- und Angelpunkt einer kritischen Überwindung der dogmatischen Metaphysik in Seelen- und Gotteslehre. - Dies gilt freilich a fortiori dann auch (und hier nun gänzlich unstrittig) für die Freiheits-Lehre[12] der Kritik der praktischen Vernunft, d. h. für die Zeit nach der Grundlegung. Und es gilt ersichtlich genauso für die bereits erwähnten Ausführungen zum ‚ärgsten Bösewicht‘ in der Grundlegung selbst, denn ganz ausdrücklich bezweifelt (gemäß Kant) nicht einmal ein solcher die Gültigkeit sittlicher Forderungen: Er verzweifelt vielmehr daran, dass es ihm beharrlich misslingt, ihnen Genüge zu tun.[13]

Dementsprechend betont Kant dann auch am Ende der Schrift (GMS, AA 04: 463), dass „unsere Deduction des obersten Princips [!] der Moralität“ gerade das nicht leisten konnte (und folglich auch nicht sollte), was diejenigen zu finden hoffen, die möglicherweise nach einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ im genannten Sinne einer ‚Begründung seiner Geltung‘ (o. ä.) suchen: Die „praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Imperativs“ (GMS, AA 04: 463), d. h. sein Pflichtcharakter (vgl. GMS, AA 04: 425, TL, AA 06: 482), lässt sich nämlich gerade „nicht begreiflich machen“ - nur ebendiese Unbegreiflichkeit selbst: Ebendarin zeigt sich die „äußerste[] Grenze aller praktischen Philosophie“ (GMS, AA 04: 455).[14] Unter der ‚Prinzipien-Deduktion‘ versteht Kant hier (wie auch andernorts[15]) folglich seine (am Ende der Vorrede angekündigte) „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“, eine Rechtfertigung der spezifischen Formel also (vgl. GMS, AA 04: 413), mit welcher er die allseits zugestandene („im Schwange gehende“) sittliche Verbindlichkeit (endlich!) auf ihren (reinen) Begriff bringt.[16] Auch der mit dem Pflichtcharakter sittlicher Forderungen vertraute Bösewicht wird deren „ächte Principien“ (GMS, AA 04: 412) und deren „Quellen“ (GMS, AA 04: 405) in der Regel nicht kennen (so GMS, AA 04: 403), bevor der kritische Philosoph ihm (wie auch einigen ethusiasmierten Göttingern) 1785 mit zumindest zwei „höchst neuen und auffallenden Wahrheiten“ (Br, AA 10: 486) auf die Sprünge geholfen hat: Der Kategorische Imperativ ist das Sittengesetz und die Freiheit ist dessen ratio essendi - beides konnte man bis dato allein aus Kants Vorlesungen lernen.

Wenn Kant dann gut zwei Jahre später in der Kritik der praktischen Vernunft behauptet, dass die „objektive Realität [!] des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion“ bewiesen werden könne, und dass etwas Anderes „an die Stelle dieser [!] vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips“ tritt (KpV, AA 05: 47), dann kann das folglich gar keine Selbstkritik an einer vermeintlichen ‚Deduktion des Sittengesetzes‘ von 1785 sein. Es ist vielmehr in derselben Weise gegen die überkommenen (und durch die kritische Philosophie längst als unangemessen ausgewiesenen) Erwartungen auf Seiten der Leserschaft[17] gerichtet, wie bereits zuvor der deutliche Hinweis auf die „oberste[] Grenze aller moralischen Nachforschung“ am Ende der Grundlegung (GMS, AA 04: 462).[18] Und Kant streicht 1787/88 sogar noch einmal ganz ausdrücklich heraus, dass es ihm in der früheren Schrift wesentlich darum gegangen war, eine „bestimmte Formel“, die „ganz genau bestimmt und nicht verfehlen lässt“, was zu tun sei anzugeben und zu rechtfertigen (KpV, AA 05: 08): Für eine solche „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“ (s. o.) sollte man ‚alle Grenzen der Vernunft‘ (GMS, AA 04: 458) eigentlich nicht überschreiten müssen.

IV Ein dogmatischer Fehler und seine kritische Überwindung

Kant musste allerdings bald einsehen, dass er 1785 dem dogmatischen Weg doch noch ein wenig zu weit gefolgt war, und so bedurfte es 1787 einer prima facie eher subtilen Korrektur - die systemarchitektonisch jedoch höchst folgenreich war. Die eingangs erwähnte Revisionsthese weist dabei allerdings geradewegs in die falsche Richtung: Die eigentliche Revision betrifft nämlich nicht den kategorischen Imperativ selbst, d. h. eine vermeintliche Rechtfertigung des Sittengesetzes,[19] sondern wesentlich dessen Beziehung zur Willens- und Freiheitslehre: Eine Bemerkung in der Kritik der praktischen Vernunft kann uns hier Klarheit über den entscheidenden Punkt verschaffen: Das Bewusstsein des sittlichen Grundgesetzes dringt sich uns auf

als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. (KpV, AA 05: 31; Herv. B. L.)

Da sich kein anderer Text der abendländischen Philosophie seit den Zeiten der Vorsokratiker als Adressat einer solchen Zurückweisung anbietet, ist es in der Tat schwer, die herausgehobene Phrase nicht als einen Verweis auf jenen wichtigen Argumentationsstrang in Grundlegung III zu lesen, der sich etwa so zusammentragen lässt:

Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit sammt ihrem Princip daraus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. (GMS, AA 04: 447; III.1)

Direkt nach dem Abschluss der (im selben Absatz angekündigten) „Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ heißt es dann:

[…] jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität. (GMS, AA 04: 453; III.3)

Damit sollte nun der Verdacht ausgeräumt sein,

[…] daß wir nämlich vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen, mithin von jenem gar keinen Grund angeben könnten. (ebd.)

Diese Argumentation von 1785 lässt sich problemlos im Duktus der zitierten Passage von 1787/88 paraphrasieren: Das sittliche Grundgesetz hat zwar das Ansehen eines synthetischen Satzes a priori, ist allerdings gleichwohl analytisch, insofern es sich durch die Zergliederung des (positiven) Begriffs der Freiheit gewinnen lässt, dessen objektiver Realität wir uns durch eine Deduktion versichern können, die ihrerseits vom Sittengesetz unabhängig ist.

Was Kant im Jahre 1787/88 dann kritisch dagegen hält, ist, dass die einschlägige Freiheitsdeduktion unbemerkt eine „intellectuelle Anschauung erfordert“ hat - und nach den bisherigen Erörterungen lässt sich ein solcher Vorwurf gegenüber der Grundlegung tatsächlich leicht nachvollziehen: Denn 1785 war es für Kant (wie auch schon 1781 und 1783, s. KrV, A 546 f. und Prol, AA 04: 345 f.) das Bewusstsein der mit „reiner Spontaneität“ hervorgebrachten Ideen, das die ‚wirkliche‘ (GMS, AA 04: 452) Teilhabe unserer Vernunft an der intelligiblen Welt und damit die Möglichkeit der Selbstzuschreibung einer intelligiblen Freiheit spekulativ (siehe GMS, AA 04: 456, 461; vgl. KrV, A 803 f.) aufweisen sollte. Was aber auch immer wir nun vermittels derjenigen Selbstanschauung erkennen können, die in der kritischen Philosophie wesentlich an die Anschauungsform der Zeit gebunden ist: Eine reine (absolute) Spontaneität unserer Vernunft (und damit unseres Willens), die nur im e suppositione zeitlosen Intelligiblen möglich ist, kann definitiv nicht dazu gehören (vgl. KrV, B XXVIII). In der Kritik der praktischen Vernunft weist Kant die ideenbasierte Freiheitsdeduktion daher mit gutem Grund zurück: Eine solche kann nicht konsequent kritisch sein, denn entweder muss sie neben der sinnlichen eine „intellectuelle [Selbst]Anschauung“ voraussetzen („die man hier gar nicht annehmen darf“, s. o.) - oder sie verstößt (noch schlimmer!) gegen die für die kritische Philosophie grundlegende Lehre von ‚zwei Stämmen der Erkenntniß‘ (KrV, A 15): tertium non datur.

An der genannten Stelle von 1787/88 deutet Kant also bereits indirekt darauf hin, dass er die 1785 angebotene „speculative“ Erklärung der Möglichkeit „synthetischer“ kategorischer Imperative aufgeben muss. Und wenige Seiten später macht er dann auch deutlich, warum er nun glaubt, auf sie verzichten zu können. Er ist inzwischen nämlich zu der Überzeugung gekommen, dass es gänzlich überflüssig war, die Realität der Idee des reinen Willens eigens durch eine freiheitsbasierte Deduktion aufzuzeigen:

Die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist im moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben [!]; denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Principien beruht. (KpV, AA 05: 55.)

Und die Realität der Freiheit ergibt sich dann erst unmittelbar aus der Realität eines solchen Willens:

Im Begriffe eines Willens aber ist der Begriff der Causalität schon enthalten, mithin in dem eines reinen Willens der Begriff einer Causalität mit Freiheit. (ebd.)

Dass es eine ‚reine praktische Vernunft‘ gebe, soll und kann die Kritik der praktischen Vernunft mit Rekurs auf genanntes „Factum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht“ (KpV, AA 05: 91) „darthun“ (KpV, AA 05: 03). Und weil demnach

reine Vernunft wirklich [!] praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe [!] Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit [!], es [sc. praktisch] zu sein, ist vergeblich. (KpV, AA 05: 03.)

Das alles ist nun tatsächlich (und zum Teil bis in die Wortwahl hinein) eine unmissverständliche Absage speziell an Grundlegung III.3 und 4, und zwar vermittels einer vollständigen Umkehrung der wesentlichen epistemischen Abhängigkeiten von Freiheit, reinem Willen und Sittengesetz: Wie wir sahen, hatte Kant 1785 noch - überflüssigerweise - versucht, dem - angesichts des „Factum“ ja ohnehin „vergeblich[en]“ - „Vernünfteln wider die Möglichkeit“ kategorischer Imperative (d. h.: dagegen, dass „reine Vernunft wirklich praktisch“ sein kann) durch zwei ‚schwere‘ Ideen-Deduktionen einen Riegel vorzuschieben. Mit der ersten wollte er ohne jeden Rückgriff auf das Sittengesetz zunächst dem Vernunft-Begriff der Freiheit „Realität“ verschaffen und mit der zweiten daran anschließend dann auch dem eines reinen Willens. Für die erste Deduktion nahm er dabei an, die „reine Spontaneität“ der Ideen „zeig[e]“ (und zwar im Rahmen der spekulativen Philosophie!), dass „reine Vernunft durch bloße Ideen“ (GMS, AA 04: 460) „wirklich“ mit dem Kopf durch jene (eigentlich ja) theoretisch-undurchdringliche Wand gehen kann, die die Verstandeswelt von der Sinnenwelt trennt (GMS, AA 04: 452).[20] Und dies alles, wo doch (wie Kant 1787/88 dann feststellt) das Sittengesetz selbst bereits ein hinreichend großes Tor für die „herrliche Eröffnung […] einer intelligiblen Welt“ (KpV, AA 05: 94) aufgetan hatte - auch wenn dieses Tor sich ausschließlich für den Gebrauch in praktischer Absicht öffnen lässt: Eine solche „Eröffnung“ kann man nämlich von je her „aus dem gemeinsten praktischen [!] Vernunftgebrauche darthun“ (KpV, AA 05: 91; vgl. KrV, A 807). Demnach hatte sich auch schon Kants „Bösewicht“ in der Grundlegung völlig zu Recht mit seinem „guten Willen“ „in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt“ (GMS, AA 04: 455). Doch 1785 glaubte Kant, für den Nachweis der objektiven Realität der Idee eines reinen Willens darauf nicht zugreifen zu müssen, denn er hatte ja bereits eine einschlägige, freiheitsbasierte „Deduction“ aufgeboten (die einen ‚spekulativen Möglichkeitsnachweis‘ einschloss). Folglich musste der „praktische [!] Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft […] die Richtigkeit dieser Deduction“ seinerzeit nur post festum noch einmal bestätigen“ (GMS, AA 04: 454).

Die entscheidende gedankliche Wendung, welche Kant 1785 noch nicht genommen hatte, lässt sich nun an einem auf den ersten Blick eher nebensächlichen Detail ganz direkt ablesen: Der Bösewicht „beweist“ seine Freiheit nämlich dadurch, dass auch er „wünscht“, ein guter Mensch zu sein. Auf dieses Wünschen wird sich die „Deduction der Freiheit“ (KpV, AA 05: 48) von 1787/88 dann jedoch nicht einlassen, denn in ihr geht es allein um das Sollen[21] - und insbesondere um das dahinter stehende Gesetz:[22] Weil wir uns der „unwidersprechliche[n]“ (KpV, AA 05: 105) Nötigung durch das Sittengesetz, d. h. eines unabweisbaren kategorischen Sollens, bewusst sind, können und müssen („ultra poße nemo obligatus“, V-Met/Dohna, AA 28: 683) wir die „objective Realität eines reinen Willens“ (d. h., eine reine praktische Vernunft) und damit dann auch (s. o.) unsere Freiheit (und die Imputabilität) voraussetzen. Ohne das Sittengesetz (so lesen wir es 1787/88 bei Kant zum ersten Mal[23]) wäre man folglich „niemals zu dem Wagstücke gekommen […], die Freiheit in die Wissenschaft einzuführen“ (KpV, AA 05: 30). Und die gemeine Menschenvernunft bestätigt nicht nur, wie schon 1785, die „Richtigkeit“ der einschlägigen „Deduction“; seit 1787 bestätigt sie auch noch die von Kant gerade erst aufgedeckte „wahre Unterordnung unserer Begriffe“:

Er [sc. „jemand“, der unter einer Pflicht steht] urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. (KpV, AA 05: 30.)

V Zusammenfassung und systematische Einbettung

1) Der kritische Kant kennt keine ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘. Er beansprucht weder 1787/88 noch 1785 oder 1781, irgendeine Rechtfertigung des Sittengesetzes (im Sinne einer Begründung oder eines Nachweises von dessen Geltung, Gültigkeit, Verbindlichkeit o. ä.) geliefert zu haben, und er hätte auch gar keinen Grund gehabt, sie zu liefern: Für ihn ist die sittliche Verpflichtung ein praktisches datum und wird als ein solches weder vom kritischen Philosophen selbst noch von dessen Gewährsleuten und Adressaten (den „aufgeklärten Moralisten“ und den reflektierenden „Menschen“, s. KrV, A 807; vgl. KpV, AA 05: 91) skeptisch in Frage gestellt. Es ist einer eigens philosophischen Rechtfertigung weder bedürftig noch fähig. In diesem Punkt sind sich Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft vollständig einig und folgen damit einer wesentlichen Vorgabe der Kritik der reinen Vernunft: Dort hatte Kant genanntes datum nämlich bereits für seinen moraltheologischen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweis ‚mit Recht vorausgesetzt‘ (KrV, A 807). Nur so konnte „die Critik […] die Religion frey von der speculation“ (HN, AA 23: 59) machen,[24] ohne damit unabwendbar im skeptischen Atheismus zu enden: Jede nachgeschobene ‚philosophische Rechtfertigung‘ des Sittengesetzes hätte diese Konzeption offenkundig gesprengt. - Für mögliche Irritation sorgt in diesem Kontext daher nicht etwa Kant selbst, sondern einzig und allein ein umtriebiger Obskurant, der 1947, auf Seite 242 von H. J. Patons wirkungsmächtigem Grundlegungs-Kommentar, als „transcendental deduction of the categorical imperative“ das Licht der akademischen Welt erblickte, seit den 1960er Jahren dann auch unter deutschen Namen unterwegs war und dabei sogar bis in Aufsatz- und Buchtitel vorgedrungen ist.[25] Nachdem er die Kant-Forschung lange genug in der Dunkelheit vor sich her getrieben hat, wäre sein siebzigster Geburtstag eine gute Gelegenheit, ihn nun endlich in den wohlverdienten Ruhestand zu schicken. Denn ihm ist es zu verdanken, dass über Jahrzehnte hinweg der Zugang speziell zum Dritten Abschnitt der Grundlegung systematisch verfehlt wurde und das Buch seitdem unverdientermaßen im Ruf herausragender „Undurchdringlichkeit“ steht. Wesentlich dafür war und ist die Unterstellung, Kant habe dort so etwas wie einen philosophischen „Nachweis der Geltung des Sittengesetzesfür den Menschen[26] versucht, also ein Projekt verfolgt, welches für ihn im Jahre 1785 nichts Geringeres bedeutet hätte, als seine neue Konzeption der kritischen Metaphysik kurzerhand wieder auf den Kopf zu stellen - und dies nur, um damit „die moralischen Gesetze [die jedermann] als Gebote ansieht“ (KrV, A 811), an denen also selbst Bösewichter und kritische Moralisten nicht zweifeln, ohne jede Not noch einmal durch „Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen“ (RGV, AA 06: 26 Fn.) zu können![27]

2) Am Ende der Grundlegung ist rückblickend von ‚unsrer Deduction des obersten Princips der Moralität‘ die Rede. Kant bezeichnet damit die von ihm tatsächlich geleistete „Aufsuchung und Festsetzung“ einer neuen Formel für das Sittengesetz, „dessen praktische unbedingte Nothwendigkeit“ (GMS, AA 04: 463), d. h. dessen selbst vom ärgsten Bösewicht anerkannter Sollenscharakter, allerdings „unbegreiflich“ bleiben muss - was die kritische Philosophie jedoch zumindest „begreiflich“ (GMS, AA 04: 447) machen kann. In der Kritik der praktischen Vernunft betont Kant dann erneut, dass man mit einer Prinzipien-Deduktion einen Nachweis der objektiven praktischen Realität, d. h. der Verbindlichkeit, des Moralprinzips nicht führen kann - und für eine Rechtfertigung seiner „neue[n] Formel“ verweist er dann eigens auf die frühere Schrift zurück (KpV, AA 05: 08).

3) Im dritten Abschnitt der Grundlegung versucht Kant 1785 mittels einer freiheitsbasierten Deduktion die praktische Realität der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens aufzuweisen. Diese soll dort die Möglichkeit kategorischer Imperative, d. h. einer nicht-sinnlichen Nötigung, ‚begreiflich machen‘, denn andernfalls, so der Vorbehalt, könnte die Moral gar nicht als jene reine Lehre von der Autonomie gedacht werden, die in den ersten beiden Abschnitten als philosophischer Kern der gemeinen praktischen Vernunfterkenntnis ‚ent-wickelt‘ wurde. Diese (Willens-)Deduktion gibt es 1787/88 in der Kritik der praktischen Vernunft dann nicht mehr: Sie hat sich zwischenzeitlich als mit der kritischen ‚Zwei-Stämme-Lehre‘ unvereinbar erwiesen und ist zudem angesichts des von Kant bereits 1781 für seine Moraltheologie herangezogenen, unhintergehbaren datum einer reinen praktischen Vernunft auch gar nicht erforderlich: Die Vernunft zeigt als praktische nämlich „ihrer Begriffe Realität durch die That“. - Die eigentliche metaphysische Bedeutsamkeit der Idee des reinen gesetzgebenden Willens für eine kritische Moralphilosophie erschließt sich allerdings erst, wenn man von der Grundlegung aus noch einmal zurückblickt: Im Kanon der Kritik der reinen Vernunft war Kant 1781 im Rahmen seines (von da an alternativlos gewordenen!) moraltheologischen Gottesbeweises davon ausgegangen, dass zu den unverzichtbaren „Voraussetzungen“ des Gebotscharakters der „schlechterdings nothwendig[en]“ „moralischen Gesetze“ irgendwelche „Verheißungen und Drohungen“ gehören (KrV, A 634, 811 f.). Es konnte ihm allerdings nicht lange verborgen bleiben, dass die darauf gegründete verbindlichkeitstheoretische Dimension seines Gottesbeweises prinzipiell unvereinbar war mit der metaethischen These, dass die moralischen Gesetze kategorisch gebieten: Denn wenn es „wirklich reine moralische Gesetze“ gibt (KrV, A 807) und diese ihrerseits kategorische Imperative sind, dann können sie e suppositione auch und gerade unabhängig von den jeweils zu erwartenden „angemessene[n] Folgen“ (KrV, A 811) des Handelns gebieten - und der verbindlichkeitstheoretische Gottesbeweis greift somit ins Leere. Die spezielle Metaphysik in der Kritik konnte also definitiv nicht mit jener Moralphilosophie zusammenbestehen, die Kant seit Längerem in seinen Vorlesungen (etwa: V-Mo/Collins, AA 27: 256 und V-Mo/Mron, 1407 f.) präsentierte. Anders herum: Im systematischen Kontext der kritischen Philosophie von 1781 sind kategorische Imperative definitiv nicht möglich (und es dürfte somit kein Zufall sein, dass solche in der Kritik auch gar nicht vorkommen). Dass Kant dieses Problem nicht entgangen ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er es wenig später dann durch zwei präzise darauf zugeschnittene Eingriffe gelöst hat - und zwar auf Seiten seiner Metaphysik: Er hat (1) seine Version des moraltheologischen Beweises von allen verbindlichkeitstheoretischen Momenten befreit und ihn auf die rationalitätstheoretische Dimension beschränkt (siehe KpV, AA 05: 108 ff.; vgl. bereits V-Mo/Mron II, AA 29: 616; WDO, AA 08: 139). Und weil ein göttlicher Wille kraft des ihm zugedachten, allumfassenden Sanktionspotentials zwar die Möglichkeit von Imperativen überhaupt erklären kann, aber gerade nicht die von kategorischen Imperativen in specie, musste Kant (2) diesen gesetzgebenden Willen notgedrungen durch einen anderen ersetzen, der seinerseits nun auch ohne alle äußeren „Triebfedern des Vorsatzes“ (KrV, A 813), d. h., ohne „Interesse als Reiz oder Zwang“ (GMS, AA 04: 433) gebieten kann. Was, außer einem gesetzgebenden Willendes Menschenselbst, bleibt dann aber übrig? Folglich trat unversehens - und noch 1781 definitiv unantizipiert - die epochale Ablösung der Theo-Nomie durch die Auto-Nomie auf die Agenda der kritischen Philosophie: Ein Nachweis der praktischen Realität der Idee eines reinen Willens wurde so zu einer neuen und zugleich unabweisbaren (metaphysischen) Herausforderung für Kant.[28]Diese Aufgabe also war es, die von ihm eine „besondere und schwere Bemühung erforder[te]“ (GMS, AA 04: 420) und die er 1785 zunächst vermittels einer freiheitsbasierten Deduktion lösen wollte - aber erst 1787/88 dann mit Rückgriff auf das sittengesetzliche „Factum“ auch konsequent-kritisch lösen konnte: Insofern sind beide Schriften Teil des Projekts einer kritischen Metaphysik.[29]

4) Eine Deduktion, die wir dementsprechend sowohl in der Grundlegung als auch in der Kritik der praktischen Vernunft finden (GMS, AA 04: 447, KpV, AA 05: 48), ist die ‚Deduktion der (Willens-)Freiheit‘, der „eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie“ (KrV, A 448) - und die zwei Versionen unterscheiden sich auf signifikante Weise voneinander: In der Kritik der praktischen Vernunft setzt die Freiheitsdeduktion eine besondere „That“ der Vernunft voraus: Das Bewusstsein der Nötigung durch das Sittengesetz, d. h. den kategorischen Imperativ, und dieses Gesetz ist damit seit 1787 die (exklusive) „ratio cognoscendi der Freiheit“ (KpV, AA 05: 04). In der Grundlegung gilt eine solche epistemische Priorität des Gesetzes definitiv nicht, denn wir „erkennen [!] die Autonomie des Willens samt ihrer Folge, der Moralität“ dort vermittels einer Zergliederung des Freiheitsbegriffs (GMS, AA 04: 453, vgl. 461.15 ff.). Und dessen Realität wiederum wird durch eine Deduktion gesichert, die ihrerseits ausdrücklich nicht auf das Sittengesetz zurückgreifen soll (weil man andernfalls ja unübersehbar in einem „Zirkel“, bzw. bei einer „Erbittung“ endete; GMS, AA 04: 450, 453). Erst unter der „Voraussetzung“ der Freiheit, „die uns zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht“ und damit auf einen reinenWillen in uns verweist, wird die Möglichkeit kategorischer Imperative „begreiflich“. Die („practisch-nothwendig[e]“) Voraussetzung unserer intelligiblen Freiheit wiederum hält Kant von (nachweislich) 1781 bis 1785 deshalb „speculativ“ für möglich, weil er zu dieser Zeit davon ausgeht, dass wir unser übersinnliches Dasein „als Intelligenz“, d. h. „als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache“ (GMS, AA 04: 452, 458), an einer „reinen Spontaneität“ des Ursprungs unserer Ideen erkennen können und uns „[u]m deswillen [!]“ als „zur Verstandeswelt gehörig ansehen“ dürfen (ebd.; vgl. KrV, A 456 f.). Irgendwann im Jahre 1786 muss es ihm dann bewusst geworden sein, dass im Rahmen seiner ‚zwei-Stämme‘-Lehre eine Erkenntnis von Intelligibilia grundsätzlich nicht ohne eine intellektuelle Anschauung zu haben ist - ganz gleich, ob es dabei nun um eine reine „Intelligenz“ ‚außer uns‘ (‚Gott‘) oder ‚in uns‘ (‚Ich‘) geht.[30] Wenn also der Rahmen der kritischen Philosophie nicht gesprengt werden soll, dann darf die bloße Hervorbringung von Ideen allein noch gar keine solche Spontaneität ‚zeigen‘ können, die es uns erlaubte, daran unser intelligibles Dasein „als Noumenon zu erkennen“ (so KrV, B 430 gegen etwa KrV, A 456 oder GMS, AA 04: 452). Daher muss es letztlich genügen, dass das „unleugbar[e]“ (KpV, AA 05: 21), kategorische Sollen, das sittliche eben, uns nötigt, bei uns ein „intellektuelles“ „inneres Vermögen“ der Selbstbestimmung in allein praktischer Absicht „vorauszusetzen“ (KrV, B 430; vgl. KpV, AA 05: 56): Die Willensfreiheit ist für Kant seit 1787, wie Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit es schon 1781 waren (KrV, A 634),[31] nur noch ein „Postulat der reinen praktischen Vernunft“ (KpV, AA 05: 132; vgl. KpV, AA 05: 94, KU, AA 05: 475, VNAEF, AA 08: 418, Log, AA 09: 112), wobei die reine praktische Vernunft auch hierbei nun exklusiv eine in specie moralisch-praktische ist (vgl. KU, AA 05: 172 f.).[32] Somit kann Kant auch die Willensfreiheit nicht weiterhin in seiner spekulativen Transzendentalphilosophie allein „hinreichend“ abhandeln, wie er es von 1781 bis 1785 aber noch ganz ausdrücklich zu tun beansprucht hatte:[33]Deshalb bedarf die praktische Vernunft seit 1786 einer eigenen Kritik - und diese bekommt 1787 dann sogar ihr eigenes Buch.[34]


Der ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘

zum siebzigsten Geburtstag


Published Online: 2018-3-21
Published in Print: 2018-3-8

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Nachruf auf Hariolf Oberer (1933-2017)
  3. Abhandlungen
  4. Descartes’s Legacy in Kant’s Notions of Physical Influx and Space-Filling: True Estimation and Physical Monadology
  5. Über drei Deduktionen in Kants Moralphilosophie - und über eine vierte, die man dort vergeblich sucht. Zur Rehabilitierung von Grundlegung III
  6. Natural Beauty, Fine Art and the Relation between Them
  7. Pleasure and Purpose in Kant’s Theory of Taste
  8. Gottlob Ernst Schulzes skeptizistische Kant-Kritik in ihrer Relevanz für Arthur Schopenhauers Systemkonstitution
  9. Berichte und Diskussionen
  10. Was ist Aufklärung? Beobachtungen zur Kantischen Antwort
  11. Buchbesprechungen
  12. Joachim Hruschka: Kant und der Rechtsstaat und andere Essays zu Kants Rechtslehre und Ethik. München: Alber, 2015. 264 Seiten. ISBN 978-3-495-48723-5.
  13. Karl Leonhard Reinhold: Gesammelte Schriften, Bd. 12: Vorlesungsnachschriften: Logik und Metaphysik, Darstellung der Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Faustino Fabbianelli und Erich H. Fuchs. Basel: Schwabe Verlag 2015. LXI, 407 Seiten. ISBN 978-3-7965-3434-8.
  14. Reading Kant’s Lectures. Hrsg. von Robert R. Clewis. Berlin/Boston: de Gruyter, 2015, 608 Seiten. ISBN 978-3-11-034232-1.
  15. Nathaniel Jason Goldberg: Kantian Conceptual Geography. Oxford/New York: Oxford University Press, 2015. 271 Seiten. ISBN 978-0-19-921538-5.
  16. Nicole C. Karafyllis: Willy Moog (1888-1935). Ein Philosophenleben. Freiburg/München: Alber, 2015. 719 Seiten. ISBN 978-3-495-48697-9.
  17. Mitteilung
  18. Prämierung von Dissertationen durch die Immanuel Kant-Stiftung
Downloaded on 1.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/kant-2018-0001/html
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