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Bruchlinien und Fluchtpunkte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Sicherheitsrecht

  • Markus Löffelmann EMAIL logo
Published/Copyright: April 4, 2024
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I. 458Systembildung

In den vergangenen rund zweieinhalb Jahrzehnten hat das BVerfG mit einer wahren Flut von immer umfänglicheren Judikaten auf den Gebieten des Strafverfahrensrechts[1], Polizeirechts[2], Nachrichtendienstrechts[3] und Telekommunikationsrechts[4] ein neues Rechtsgebiet konturiert: das Sicherheitsverfassungsrecht.[5] Die einzelnen Entscheidungen bauen aufeinander auf, greifen ineinander, grenzen die verschiedenen Teilgebiete des Sicherheitsrechts gegeneinander ab und verbinden sie. Bei einer Gesamtbetrachtung ist ein deutlicher systembildender Anspruch des Gerichts erkennbar, der dennoch notwendig unvollständig und unvollendet bleiben muss, weil es sich nur selektiv mit Rügen befassen darf, die in zulässiger Weise an es herangetragen werden. In der Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung durch den Gesetzgeber führt diese Lückenhaftigkeit zu zahlreichen Folgeproblemen. Differenzierungs- und Harmonisierungsansätze des Gerichts müssen weitergedacht und in andere Regelungskontexte übertragen werden, was die Gefahr einer schiefen »Kontextualisierung«[6] birgt. Aber auch aus sich heraus ist die Rechtsprechung des Gerichts nicht frei von Friktionen, Ungereimtheiten und Widersprüchen. Man sollte darin, bei aller Kritik[7], nicht nur ein Manko sehen, sondern auch den Beleg für das Funktionieren einer dynamischen Verfassungsauslegung.[8] Immerhin entscheiden dort über die Jahrzehnte hinweg viele Menschen mit unter459schiedlichem juristischen Hintergrund in zahlreichen Spruchgruppen, in denen sich divergierende Rechtsprechungslinien ausprägen können.[9] Für den Gesetzgeber resultiert daraus nicht nur Unsicherheit, sondern auch ein erhebliches Maß an Gestaltungsfreiheit, was freilich den Willen voraussetzt, über eine Exegese der Verfassungsgerichtsrechtsprechung hinaus selbst systembildend tätig zu werden. Ein wichtiger Schritt hierzu ist die Identifizierung von Bruchlinien der Rechtsprechung, deren wichtigste in diesem Beitrag dargestellt werden sollen.

II. Bruchlinien

Das moderne Sicherheitsrecht wird in weiten Bereichen als besonderes Datenschutzrecht verstanden. In Teilen – namentlich des Strafverfahrens- und Polizeirechts – ist es aber wesentlich älteren Ursprungs als dieses. Zugleich dient insbesondere das Strafverfahrensrecht häufig als Vorbild für Regelungen in anderen Bereichen des Sicherheitsrechts.[10] Dadurch treffen im Sicherheitsrecht unterschiedliche Rechtssetzungskulturen aufeinander: eine klassische, auf Reduktion und ein komplementäres Verhältnis der Gewalten angelegte; und eine moderne, die durch den Anspruch möglichst »normenklarer« und »präziser«[11] Regelungen legislativ dominiert ist. Die Bruchlinien, die jeder Auslegung und Fortentwicklung des Rechts immanent sind und herkömmlich als solche der Rechtsanwendung und fachgerichtlichen Rechtsprechung auftreten, werden dadurch zu Bruchlinien der Gesetze und der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung.

1. Automatisiertes Aussondern von Daten

Das BVerfG judiziert seit langem, dass dem rein automatisierten Verarbeiten von personenbezogenen Daten, welche für die betroffene Person folgenlos ausgesondert werden und an die sich daher keine belastenden Maßnahmen anschließen können, keine Eingriffsqualität zukomme. Der Erste Senat hat dies 1999 für die strategische Fernmeldeaufklärung nach dem G 10[12], 2003 für die Zielwahlsuche von Telekommunikationsverkehrsdaten[13], 2006 für die Rasterfahndung[14], 2008 für die automatische Kennzeichenerfassung[15] und 2009 für die Abfrage von Kreditkartendaten[16] angenommen. Das BVerwG hatte sogar die bei der automatischen Kennzeichenerfassung anfallenden sog. »unechten Treffer«, die eine manuelle Aussonderung erforderlich machen, dieser Kategorie zugeordnet.[17] In ihrer Entscheidung zum IMSI-Catcher von 2007 hatte die 1. Kammer des Zweiten Senats die Problematik hingegen nicht thematisiert, obschon das nahegelegen hätte.[18] Mit seinen beiden Entscheidungen aus dem Jahre 2018 zur automatisierten Kennzeichenüberwachung ging der Erste Senat von seiner etablierten Rechtsprechungslinie ab und erachtete als maßgeblich, ob sich das staatliche Interesse an den Daten zum Zeitpunkt ihrer Erfassung bereits »spezifisch verdichtet« habe, was der Senat für alle erfassten Kennzeichen nun bejahte.[19] In der Folge übertrug der Senat in seiner BNDG-Entscheidung von 2020 diesen Maßstab auf das Erfassen des Rohdatenstroms, in dem sich Telekommunikationsdaten von Ausländern im Ausland befinden, und erachtete damit deren Selbstbetroffenheit als gegeben.[20] Das wirft die Frage auf, in welchen Konstellationen überhaupt noch davon ausgegangen werden kann, das behördliche Interesse an solchen Daten habe sich nicht »spezifisch verdichtet«. Denn gerade bei der Maßnahme der strategischen Ausland-Fernmeldeaufklärung (heute §§ 19 ff. BNDG) äußert sich das spezifische behördliche Interesse in der jeder Erhebung vorausgehenden Auswahl von Telekommunikationsnetzen und Selektoren. Das würde nahelegen, nur bei den Daten eine Eingriffsqualität anzunehmen, die nach der automatischen Filterung für die nachrichtendienstliche Auswertung übrigbleiben. Andernfalls bliebe von der ursprünglichen Rechtsprechungslinie wenig übrig, denn letztlich eignet jeder automatisierten Datenverarbeitung, dass die Ergiebigkeit ihrer Resultate vom Umfang des durchsuchten Datenbestands abhängig ist, an dem folglich ein nicht nur beliebiges behördliches Interesse besteht.

2. 460Rundumüberwachung

Ebenfalls in ständiger Rechtsprechung judiziert das BVerfG, eine »Rundum-» oder »Totalüberwachung«, mittels derer ein umfassendes Persönlichkeitsbild der betroffenen Person erstellt werden könne, sei mit der Verfassungsidentität nicht zu vereinbaren.[21] Dahinter steht der Gedanke der Menschenwürde, der es verbietet, die Person zum »bloßen Objekt« staatlicher Überwachung zu machen.[22] Andererseits anerkennt der Erste Senat, dass Nachrichtendienste ihre Informationen aus einer Vielzahl von Quellen beziehen und begründet damit die besondere Eingriffsintensität – nicht aber Unzulässigkeit – nachrichtendienstlicher Informationserhebungsmethoden.[23] Das Kumulieren von heimlichen Maßnahmen ist freilich kein Proprium der Nachrichtendienste, sondern trifft in Teilbereichen ihrer Tätigkeit ebenso auf die Strafverfolgungs- und Polizeibehörden zu. Im strafprozessualen Kontext befasste sich schon 2005 der Zweite Senat mit der Kumulierungsthematik und befand, die erhöhte Belastung durch den Einsatz mehrerer Maßnahmen gegen dieselbe Person sei bei der einzelnen Anordnung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen[24] – ein durchweg pragmatischer Ansatz. In seiner Entscheidung zur »Vorratsdatenspeicherung« stellte wiederum der Erste Senat diesen Gedanken in den Kontext der Verarbeitung von Massendaten und leitete daraus Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit solcher Ermächtigungen durch den Gesetzgeber ab.[25] Das war die Geburtsstunde der andauernden Diskussionen um eine »Überwachungsgesamtrechnung«.[26] Bei einer Gesamtbetrachtung dieser Rechtsprechung stellt sich freilich die Frage nach der Trennlinie zwischen einer bloßen zulässigen Kumulierung von Überwachungsmaßnahmen und einer schlechthin unzulässigen Totalausforschung. Wann letztere gegeben sei, und ob dieser Kipppunkt von einer Veränderung von Bedrohungsszenarien und Aufklärungsbedarfen abhängig sein könne, hat das BVerfG bislang nicht beantworten müssen.

3. Kernbereichsschutz

Das BVerfG anerkennt seit langem einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung, in den der Staat unter keinen Umständen eindringen darf.[27] Zum Schutz des Kernbereichs hat das Gericht ein Stufensystem präventiver und nachträglicher gesetzlicher Vorkehrungen entwickelt, deren Ausprägung von der Wahrscheinlichkeit abhängig ist, dass durch eine Maßnahme in diesen Bereich eingegriffen wird.[28] In Umsetzung dieser Rechtsprechung wurden durch den Gesetzgeber zunächst im Bereich des Strafverfahrensrechts Schutzregelungen entwickelt, die in der Folge auf zahlreiche andere Bereiche des Sicherheitsrechts übertragen wurden.[29] Unter anderem fand dabei die Formulierung Verbreitung, dass eine Maßnahme unzulässig sei, durch die »allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich« erlangt werden.[30] Der Zweite Senat legte sie im Sinne einer verbotenen »gezielten« Datenerhebung aus dem Kernbereich aus und befand sie so für verfassungskonform.[31] Die Crux der Rechtsprechung liegt freilich darin, zu bestimmen, wann der Kernbereich überhaupt betroffen ist. Das BVerfG hat hierfür »in Ansehung des konkreten Falls«[32] zahlreiche Kriterien entwickelt.[33] Ein Ausschlussgrund soll dabei sein, wenn sich überwachte Gespräche unmittelbar auf bevorstehende oder begangene Straftaten beziehen, weil dadurch ein Sozialbezug hergestellt werde.[34] Aber warum sollte dieser Gedanke nur für strafrechtlich sanktionierte Rechtsgutsverletzungen gelten und nicht z. B. für verfassungsfeindliche Gespräche, die schließlich ebenfalls das Gemeinwesen als Ganzes betreffen? Die angebliche Funktion des Strafrechts als ultima 461ratio (die in der jüngeren Rechtsprechung des Zweiten Senats zurecht nicht mehr aufgegriffen wird[35]) kann hierfür nicht ausschlaggebend sein, denn ob und in welchem Maße der Staat das Steuerungsmittel des Strafrechts nutzt, ist allenfalls in Randbereichen verfassungsrechtlich determiniert. Außerdem finden straftatenbezogene Regelungsmodelle auch in anderen Bereichen des Sicherheitsrechts Verwendung.[36] Warum also sollten tatsächliche Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht einer Straftat den Kernbereich ausschließen, nicht aber solche, die die Prognose der Straftat tragen, zumal sich Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Bereich der Vorfelddelikte stark überschneiden? Und wurde, wenn sich Verdacht oder Prognose nicht erhärten, retrospektiv nun in den Kernbereich eingegriffen oder nicht? Die Überlegungen zeigen, dass das Spannungsverhältnis von Kernbereichs- und Rechtsgüterschutz kaum dogmatisch befriedigend aufgelöst werden kann.

4. Vertraulichkeitsbeziehungen

Eine prominente Rolle, die eng mit dem Kernbereichsschutz verzahnt ist, nimmt in der Rechtsprechung des BVerfG der Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen ein. Solche Beziehungen sind teilweise ein Indikator für Kernbereichsrelevanz[37], teilweise sind sie in einem besonderen öffentlichen Interesse an bestimmten Berufen fundiert[38] und teilweise in einer besonderen Gefährdung der betroffenen Personen.[39] Der verfassungsrechtliche Hintergrund des Schutzes ist also ausgesprochen heterogen. Seine verfassungsrechtliche und seine einfachrechtliche Reichweite sind außerdem nicht identisch. So judizierte der Zweite Senat bereits 1972, dass der Gesetzgeber eine breite – aber nicht grenzenlose – Freiheit besitze, bestimmte Berufsgruppen unter den besonderen Schutz des Rechts zu stellen und die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege dadurch zu beeinträchtigen; Voraussetzung sei ein präzise umrissenes Berufsbild.[40] Mit anderen Worten können z. B. Hebammen und Suchtmittelberater (vgl. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 3 b StPO) einen derartigen Schutz genießen, verfassungsrechtlich geboten ist dies indes nicht. Der Gesetzgeber hat diesen Schutz in erster Linie in § 53 und § 53 a StPO und daran anschließenden Normen realisiert. Dieser Regelungsansatz wurde vielfach auf andere Bereiche des Sicherheitsrechts übertragen, obwohl die genannten Normen einen spezifisch strafprozessualen Konflikt auflösen sollen.[41] Zugespitzt: Warum sollten z. B. von G 10-Maßnahmen betroffene Hebammen (vgl. § 3 b Abs. 2 G 10) besonderen Schutz erfahren? Erforderlich wäre eine bereichsspezifische Abwägung jeweils typisiert für bestimme Personengruppen bestehender Schutzbedarfe mit hoheitlichen Aufklärungsinteressen. Schwierigkeiten bereitet zudem die vom Ersten Senat geforderte Übertragung solcher Schutzüberlegungen auf Auslandssachverhalte.[42] Ob eine Person dort einer bestimmten Berufsgruppe zugehörig ist, kann mangels berufsrechtlicher Regelungen schwer zu bestimmen sein. Andere Personenkreise wie Whistleblower, Oppositionelle oder Dissidenten[43] entziehen sich einer abstrakten Kategorisierung der Schutzwürdigkeit, weil zunächst geklärt werden müsste, ob solche Personen vor dem Staat oder dieser vor ihnen geschützt werden muss.

5. Wohnraumüberwachung und informationstechnischer Eingriff

Wohnraumüberwachungen und informationstechnische Eingriffe nehmen in der Rechtsprechung des BVerfG zum Sicherheitsrecht eine Sonderrolle ein. Bei den erstgenannten Maßnahmen ist dies in den differenzierten Schranken des Art. 13 Abs. 3 bis 5 GG angelegt.[44] Für informationstechnische Eingriffe leitet der Erste Senat vergleichbare Anforderungen aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ab.[45] Hierzu gehört unter anderem, dass informationstechnische Eingriffe – wie für Wohnraumüberwachungen durch Art. 13 Abs. 4 S. 1 GG vorgegeben – nur zur Abwehr von Gefahren eingesetzt werden dürfen.[46] Diese Gleichziehung wird unter dem Gesichtspunkt einer Nivellierung spezifischer verfas462sungsnormativer Weichenstellungen kritisiert.[47] Begründet wird die Sonderrolle der beiden Maßnahmen durch das BVerfG damit, ihnen eigne bereits aus sich heraus eine so hohe Eingriffsintensität, dass es auf etwaige Folgeeingriffe nicht mehr ankomme.[48] Das ist bereits rechtstatsächlich angreifbar, weil es zahlreiche unterschiedliche Möglichkeiten der Durchführung solcher Maßnahmen gibt, die in ihrer Eingriffsintensität stark divergieren. Der Gedanke vermag aber auch analytisch nicht zu überzeugen. Er läuft darauf hinaus, dass die Verletzung von Grundrechtssubstanz abstrakt nur schwer genug sein muss, um eine Abwägung mit den verfolgten Belangen entbehrlich zu machen. Das widerspricht jeder Abwägungslogik, wonach den rechtfertigenden Interessen ein umso größeres Gewicht zukommen muss, je schwerer der Eingriff wiegt. Zudem harmoniert die Sonderrolle der beiden Maßnahmen nicht mit der Problematik der Rundumüberwachung (vgl. oben 2.). Wenn durch jede der Maßnahmen eine nicht mehr steigerungsfähige Eingriffsintensität verwirklicht würde, müsste dann ihre Kumulierung nicht zwingend die Schwelle zur Totalüberwachung überschreiten? Das wird vom BVerfG so nicht judiziert und widerspricht der sicherheitsbehördlichen Erfahrung, wonach eine Kumulierung zahlreicher anderer Überwachungsmaßnahmen in ihrer Intensität diejenige von Wohnraumüberwachung und informationstechnischem Eingriff übersteigen kann.

6. Informationelle Folgeeingriffe

In seiner Rechtsprechung zur Weiterverarbeitung von aus einer Erhebungsmaßnahme erlangten Daten differenziert das BVerfG in mittlerweile ständiger Rechtsprechung zwischen einer zweckgebundenen Weiterverwendung, welche durch die Erhebungsnorm legitimiert wird, und Zweckänderungen, für die eine eigenständige Rechtfertigungsgrundlage erforderlich sei.[49] Gemeinsam ist beiden Alternativen, dass durch die Weiterverarbeitung der Daten vertieft oder erneut in das durch die Ersterhebung betroffene Grundrecht eingegriffen wird.[50] Z. B. verletzt also die weitere Verwendung von durch eine Wohnraumüberwachung erlangten Daten Art. 13 GG. Bei den Privatheitsgrundrechten, die wie Art. 10, Art. 13 GG oder das »Computergrundrecht« über einen spezifischen Schutzbereich verfügen, leuchtet das dogmatisch aber nicht ein, weil der Erhebungseingriff, vor dem er primär schützen soll, bereits beendet ist.[51] Dass dieser Ansatz sich nicht konsequent durchhalten lässt, zeigt sich im Vergleich mit anderen Maßnahmen: Die weitere Behandlung von Daten, die aus einer Wohnungsdurchsuchung stammen (Art. 13 Abs. 2 GG) ordnet der Zweite Senat zutreffend dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu.[52] Nichts anderes kann für Erkenntnisse gelten, die anlässlich einer Wohnungsbetretung (Art. 13 Abs. 7 GG) erlangt wurden. Anerkannt ist auch, dass Daten, die aus einem Telekommunikationsverkehr stammen, nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs grundsätzlich nicht mehr dem Schutz des Art. 10 GG unterfallen.[53] Der verfassungsrechtliche Status von Daten kann sich also verändern und ist nicht ein für allemal an das Grundrecht gebunden, das ihr Entstehen schützt. Weil letzten Endes die gesamte Lebenswirklichkeit in Daten übersetzt werden kann[54], sind Zäsuren, die einen lebensweltlichen Sachverhalt von den ihn beschreibenden Daten trennen, wichtig, um die Reichweite normativer Schutzbereiche einzugrenzen. Andernfalls könnte sich die Rechtsordnung mit einem einzigen Grundrecht – dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung – begnügen und Differenzierungen allein aus Verhältnismäßigkeitserwägungen ableiten.

7. Zweckänderungen

Nur auf den ersten Blick unproblematisch ist die im Zusammenhang mit informationellen Folgeeingriffen getroffene Weichenstellung, wonach die Weiterverarbeitung ersterhobener Daten zu einem anderen Zweck und/oder durch eine andere Behörde einen neuen selbstständigen Grundrechtseingriff begründe.[55] Was ist ein »anderer Zweck«? Obwohl dieser Begriff eine zentrale Rolle im Datenschutzrecht einnimmt[56], ist er doch reichlich obskur und wird kaum hinterfragt. Zwecke haben mit teleologischen Erklä463rungen zu tun. Sie beschreiben unter anderem den erwarteten Nutzen von Handlungen.[57] Dieser Nutzen kann weit umschrieben werden (etwa »Sicherheit herstellen«) oder eng (etwa »Verhinderung dieser konkreten Rechtsgutsverletzung«). Die Bindung an den Zweck entfaltet daher nur dann eine Aussagekraft, wenn er – wie vom BVerfG gefordert – »bereichsspezifisch und präzise« bestimmt wird.[58] Der Zweck einer Maßnahme besteht dann nicht lediglich in deren Funktion (etwa Strafverfolgung), sondern kann auf einen Ausschnitt davon zugespitzt sein (etwa Verfolgung schwerer Straftaten), ohne andererseits den Konkretisierungsgrad eines »Anlasses« (der konkreten Straftat)[59] zu erreichen. Die etwaig erforderliche Begrenzung auf einen bestimmten Kreis von Taten richtet sich nach der Eingriffsintensität der Maßnahme.[60] Werden daher z. B. Erkenntnisse aus einer Telekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO in einem anderen Strafverfahren zur Verfolgung von Anlasstaten im Sinne des § 100 a Abs. 2 StPO verwendet, stellt dies keine Zweckänderung dar und ist durch die Erhebungsnorm gerechtfertigt.[61] Funktionale Unterschiede sicherheitsbehördlicher Tätigkeit – etwa Strafverfolgung statt Gefahrenabwehr oder nachrichtendienstliche Aufklärung – bedingen hingegen bei der Weiterverarbeitung von Daten immer eine Zweckänderung. Ein funktionaler Begriff der »anderen Behörde« hätte demgegenüber keine eigenständige Bedeutung, so dass der vom BVerfG angestimmte Doppeltakt (»anderer Zweck oder andere Behörde«) tatsächlich ein Zweiklang wäre. Ein rein organisatorischer Behördenbegriff würde andererseits dazu führen, dass es sich z. B. bei der Datenweitergabe zwischen den verschiedenen Polizeibehörden von Bund und Ländern oder zwischen diesen und den Staatsanwaltschaften oder Ermittlungsgerichten um rechtfertigungsbedürftige Zweckänderungen handelte, was vom BVerfG ersichtlich nicht intendiert ist. Solche verschiedenen Behörden können zudem einen gemeinsamen Zweck verfolgen, wie dies z. B. in den Gemeinsamen Zentren geschieht.[62] Außerdem können Zwecke Mittel zu anderen Zwecken sein.[63] Das ist der Fall bei weiten Teilen der Aufklärungstätigkeit von Nachrichtendiensten, die als »Informationsdienstleister« verstanden werden.[64] Wird als Zweck nur der Primär- und nicht ein Sekundärzweck anerkannt, verkürzt dies das funktionale Verständnis solcher Behörden, die dann lediglich zum »Selbstzweck« tätig würden.[65] Solche Überschneidungen könnten es nahelegen, den Begriff der Behörde in einem engen informationellen Sinne zu verstehen, wonach die Datenverarbeitung durch verschiedene Akteure in einem tatsächlich und rechtlich »geschützten Raum« zu demselben Zweck keine Zweckänderung darstellte.[66]

8. Hypothetische Datenneuerhebung

Der Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung gehört zu den »Wunderwaffen« des BVerfG im Umgang mit Fragen der Datenübermittlung. Der Ursprung der Figur liegt in der fachgerichtlichen Rechtsprechung zur strafprozessualen Telekommunikationsüberwachung in den 1970er Jahren.[67] Als »hypothetischer Ersatzeingriff« sollte der Gedanke zum einen die Verwendbarkeit von durch eine Telekommunikationsüberwachung erlangten Daten in anderen Strafverfahren legitimieren[68] und zum anderen in verallgemeinerter Form die Verwertbarkeit rechtswidrig erhobe464ner Daten begründen.[69] Die letztgenannte Dimension hat sich in der Rechtsprechung nicht durchgesetzt, die erstgenannte wurde vom Gesetzgeber hingegen mit dem Ziel der Klarstellung aufgegriffen und hat zu strafprozessualen Verwendungsnormen geführt.[70] Eine davon, § 100 d Abs. 5 S. 2 StPO a. F.[71], wurde durch das BVerfG in seiner Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung 2004 überprüft und für verfassungskonform erachtet.[72] Mit dem BKAG-Urteil 2016 erhob der Erste Senat die Denkfigur zu einem selbständigen verfassungsrechtlich verankerten Prinzip.[73] Es besagt, dass Daten, die nur unter erhöhten Eingriffsschwellen erhoben werden dürfen, zu einem anderen Zweck nur dann verwendet werden dürfen, wenn ihre Ersterhebung hierfür hypothetisch nach verfassungsrechtlichen Maßstäben mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln zulässig wäre.[74] Das macht es erforderlich, dass der Gesetzgeber oder Rechtsanwender die schwierige Frage beantwortet, welche Mittel – über die die empfangende Stelle einfachrechtlich gar nicht verfügen muss – mit dem Mittel der Ersterhebung vergleichbar und verfassungsrechtlich zulässig wären. Innerhalb eines abgeschlossenen Rechtsgebiets wie des Strafverfahrensrechts, dem der Hypothesen-Gedanke entlehnt ist, lässt sich diese Frage noch einigermaßen verlässlich beantworten. Rechtsgebietsübergreifend verursacht sie aufgrund der nur eingeschränkt vergleichbaren Determinanten verfassungsrechtlicher Zulässigkeit jedoch enorme Probleme.[75] Inwieweit entsprechen sich ein strafprozessualer Anfangsverdacht, eine polizeiliche Gefahrprognose und tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung? Wie ist das für »mittlere« Rechtsgutsgefährdungen und »mittlere« Kriminalität? Solche Versuche einer Ordnung und Kategorisierung von Eingriffsschwellen, Rechtsgütern und Straftaten rühren an die tönernen Fundamente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.[76] Noch schwieriger wird die Betrachtung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten.[77] Wie soll man beurteilen, ob eine Datenerhebung durch eine ausländische Stelle im Ausland nach Maßstäben des deutschen Verfassungsrechts zulässig wäre, wie, ob eine deutsche Stelle mit vergleichbaren Mitteln, wie eine ausländische sie genutzt hat, selbst hätte Daten erheben dürfen? Geht man auf den Grundgedanken zurück, dass jede zweckändernde Datenverwendung einen neuen selbstständigen Grundrechtseingriff darstellt (oben 7.), sind derlei hypothetische Erwägungen noch nicht einmal naheliegend, geschweige denn zwingend. Es wäre dann vollkommen ausreichend, die Eingriffsintensität des informationellen Folgeeingriffs neu und selbständig zu gewichten und in ein angemessenes Verhältnis zu den mit der Weiterverarbeitung verfolgten Zwecken zu setzen.[78]

9. Operative Anschlussbefugnisse

Der Maßstab der hypothetischen Datenneuerhebung gilt dem BVerfG zufolge auch für Datenübermittlungen durch Nachrichtendienste an andere Stellen[79], wird in diesem Kontext aber modifiziert. Das Gericht stellt hier zunächst fest, Nachrichtendienste schöpften ihre Erkenntnisse aus dem Einsatz einer Vielzahl nachrichtendienstlicher Mittel[80], die in solcher Breite und Eingriffsintensität anderen Sicherheitsbehörden »in keiner Konstellation eingeräumt werden« dürften.[81] Nachrichtendienste nähmen insoweit eine besondere Stellung ein, da sie einerseits über keine operativen Anschlussbefugnisse verfügten und andererseits ihre Tätigkeit dem Schutz höchstrangiger Rechtsgüter diene.[82] Legt man den Maßstab der hypothetischen Datenneuerhebung an, dürften die so erlangten Erkenntnisse anderen Stellen, denen nach verfassungsrechtlichen Maßstäben ver465gleichbare Befugnisse nicht eingeräumt werden dürften, danach schlechthin nicht übermittelt werden. Diesen Schluss zieht der Erste Senat aber nicht, sondern lässt die zweckändernde Übermittlung zum Schutz »besonders gewichtiger Rechtsgüter« oder zur Verhütung bzw. Verfolgung »besonders schwerer Straftaten« zu.[83] Für die Übermittlung an Stellen mit »operativen Anschlussbefugnissen« muss die Eingriffsschwelle einer zumindest konkretisierten Gefahr bzw. eines qualifizierten Tatverdachts hinzukommen.[84] Diese Rechtsprechung hat den Gesetzgeber in Bund und Ländern vor die Herausforderung gestellt, näher auszubuchstabieren, was mit den genannten unbestimmten Rechtsbegriffen gemeint sein soll.[85] Er hat dafür unter anderem einen vom strafprozessualen abweichenden[86] nachrichtendienstspezifischen Begriff der besonders schweren Straftat kreiert, um zentrale Übermittlungsbefugnisse zu erhalten[87], und Übermittlungskonstellationen definiert, die mit operativen oder administrativen Anschlussbefugnissen einhergehen.[88] Hilfreich war dabei, dass das BVerfG mit dieser neuen Dogmatik nicht mehr zwischen Ersterhebungen verschiedener Eingriffsintensität unterscheidet, sondern jedenfalls alle durch nachrichtendienstliche Mittel erhobenen Daten gleich behandelt. Auch Daten, die durch eine singuläre niedrigschwellige nachrichtendienstliche Maßnahme erhoben wurden, müssen daher den hohen Übermittlungsschwellen genügen.[89] Dahinter steht der Gedanke, dass sich durch das Aggregieren von Informationen die Eingriffsintensität bis zur Schwelle eines besonders schweren Grundrechtseingriffs erhöht. Das ist aber nicht selbstverständlich, denn das Zusammenführen und »Sanitarisieren« von Daten kann auch anonymisierend und damit eingriffsmindernd wirken.[90] Vor allem aber bedeutet der holistische Blick des Ersten Senats auf nachrichtendienstlich erlangte Informationen im Ergebnis eine Abkehr von dem Gedanken der hypothetischen Datenneuerhebung, wonach die Eingriffsschwellen der Ersterhebung und des Folgeeingriffs einander entsprechen sollen.

10. Auslandsgeltung der Grundrechte

Mit seinem BNDG-Urteil von 2020 hatte das BVerfG klargestellt, dass die Grundrechte des Grundgesetzes auch für von deutscher Staatsgewalt im Ausland betroffene Ausländer ihre schützende Wirkung entfalten.[91] Weil das BVerfG diese fundamentale Weichenstellung maßstäblich aus Art. 1 Abs. 2 und 3 GG ableitet, unterfällt sie der Ewigkeitsgarantie. Zugleich hatte es betont, der Schutz könne unter Verhältnismäßigkeitsaspekten aufgrund der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten deutscher Staatsgewalt im Ausland modifiziert sein.[92] Was letzteres für Kooperationen mit ausländischen Stellen und Datenübermittlungen ins Ausland bedeutet, ist bislang weitgehend ungeklärt. Denkt man die Entscheidung fort, kann sie – soweit zeichnet sich ein übergreifender Konsens ab – nicht nur für die Grundrechte aus Art. 5 und 10 GG und das Handeln des Bundesnachrichtendienstes gelten. Erforderlich sind vielmehr Handlungsbefugnisse für alle deutschen Sicherheitsbehörden, die ihre Aufgaben auch im Ausland erfüllen. Bislang gibt es derlei nur für die Technische Aufklärung nach §§ 19 ff. BNDG. Besonders virulent ist dabei die Frage, ob auch die Bundeswehr bei Auslandsverwendungen über solche Rechtsgrundlagen verfügen muss. Das würde ein umfassendes Einsatzrecht erforderlich machen. In seiner damaligen Entscheidung hatte der Erste Senat diese Frage nicht thematisiert[93]; die 2. Kammer des Zweiten Senats hatte sie in der Kunduz-Entscheidung aus demselben Jahr zwar gestreift, 466aber offengelassen.[94] Die Überlagerung der Menschenrechtsregime durch das humanitäre Völkerrecht im bewaffneten Konflikt und die parlamentarische Einzelermächtigung von Auslandseinsätzen[95] sprechen dafür, dass die Maßstäbe der BNDG-Entscheidung jedenfalls nicht schablonenartig auf die Streitkräfte übertragen werden können. Betrachtet man die aktuellen Herausforderungen an militärische Verteidigungs- und Beistandspflichten, zeigt sich, dass die Bruchlinie hier nicht innerhalb des Verfassungsrechts oder zwischen diesem und dem einfachen Recht verläuft, sondern an der Grenze zu den staatstheoretischen Grundlagen einer zugleich rechtsstaatlichen und wehrhaften Verfasstheit des Staates: Dass eine Gesellschaft einen Vertrag schließen würde, durch den sie ihre Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit gegenüber anderen Völkerrechtssubjekten grundlegend schwächt, leuchtet nicht ohne weiteres ein.

III. Fluchtpunkte

Bei allen Unwägbarkeiten in der Rechtsprechung des BVerfG zum Sicherheitsrecht darf man nicht übersehen, dass das Gericht mit seiner strukturierenden Arbeit wichtige Voraussetzungen für eine systematischere und transparentere Sicherheitsgesetzgebung geschaffen hat. Maßgeblich sind hier insbesondere die Umgrenzung der funktionalen Besonderheiten der verschiedenen Akteure in der Sicherheitsarchitektur[96], Ansätze einer Kategorisierung von Eingriffsgewichten[97] und Rechtsgütern bzw. typisierten Rechtsgutsverletzungen (Straftatenkategorien)[98] nebst der Anlage eines »Stufensystems« von einander korrespondierenden Mitteln und Zwecken[99], die wiederholte Forderung nach bereichsspezifischen und präzisen einfachrechtlichen Rechtsgrundlagen[100] und nach einer präventiven gerichtsähnlichen Kontrolle bei schweren Grundrechtseingriffen.[101] Das Gesicht der Sicherheitsgesetzgebung hat sich dadurch geändert. So enthalten alle Sicherheitsgesetze heute für eingriffsintensive Maßnahmen detaillierte »Standardbefugnisse« und zahlreiche Verfassungsschutzgesetze Kataloge nachrichtendienstlicher Mittel.[102] Die Technische Aufklärung des Bundesnachrichtendienstes knüpft an Kataloge von Bedrohungsszenarien an (§ 19 Abs. 4, § 31 Abs. 5 BNDG), die auch der Öffentlichkeit ein Verständnis von der Reichweite und Bedeutung der Tätigkeit des Auslandsnachrichtendienstes vermitteln. Mit dem Unabhängigen Kontrollrat wurde ein eigenes hochkompetentes gerichtsähnliches Kontrollorgan geschaffen, dem perspektivisch weitere Aufgaben zuwachsen werden.[103] Mit den beiden jüngsten Reformen der Übermittlungsvorschriften im Nachrichtendienstrecht hat der Gesetzgeber erstmals die Zweckänderungsdogmatik des BVerfG substanziell in klare und anwendungsfreundliche Übermittlungsregelungen übersetzt.[104] Dennoch ist die deutsche Sicherheitsarchitektur noch weit von einem Zustand der Harmonie entfernt. Zu zerklüftet ist in weiten Bereichen die Gesetzgebung auf Bundes- und Länderebene.[105] Um das zu ändern, ist es erforderlich, die zentralen Fluchtpunkte in der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG weiter zu verfolgen:

  1. Notwendig ist eine übergreifende Kategorisierung und Relationierung[106] von Rechtsgütern und Schutzzwecken. Das BVerfG hat dies bislang nur selektiv und exemplarisch getan. Betrachtet man etwa die am weitesten konsolidierte Kategorie der »besonders gewichtigen« Rechtsgüter[107] im Lichte der aktuellen außenpoliti467schen Spannungen, zeigt sich, dass der bislang in dem Kanon nicht verzeichneten »Einsatzbereitschaft der Streitkräfte«[108] kaum ein geringerer Stellenwert zugemessen werden kann.

  2. Die bereits weit entwickelte Kategorisierung von Eingriffsgewichten müsste konsequent durch alle Rechtsmaterien hindurch kodifiziert werden. Hierfür könnten gesetzliche, in Schwerekategorien gegliederte Kataloge von Befugnissen angelegt werden, an die wiederum ein gestuftes System von Eingriffsschwellen[109] anschließen könnte.

  3. Die wenig eingängige Verquickung von Ersteingriff und informationellem Folgeeingriff unter dem Vorzeichen desselben Grundrechts sollte aufgebrochen werden. Versteht man die zweckändernde Weiterverarbeitung mit dem BVerfG als selbständigen Grundrechtseingriff, spricht alles dafür, diesen als informationellen Eingriff zu qualifizieren und selbständig zu gewichten. Die damit einhergehende Entkoppelung von der Ersterhebung würde für den Gesetzgeber eine viel einfachere Datenbehandlung in Schutzwürdigkeitskategorien erlauben, die maßgeblich von der Art der Folgeverwendung und Sensibilität der Daten bestimmt werden könnten, ohne dass damit Einschränkungen beim Grundrechtsschutz einhergingen. Außerdem könnten auf diese Weise unproblematisch und dogmatisch schlüssig Fälle bewältigt werden, in denen eine Eingriffsqualität nicht schon der Ersterhebung von Daten[110], sondern erst ihrer Weiterverarbeitung[111] zukommt.

  4. Der Kernbereichsschutz müsste bereichsübergreifend harmonisiert, der Schutz der Berufsgeheimnisträger hingegen bereichsspezifisch unter Rückgang auf die jeweils in Konflikt stehenden verfassungsrechtlichen Wertungen ausgestaltet werden. Um eine Umgehung von bereichsspezifischen Schutzvorschriften zu verhindern, müssten diese nicht nur – wie bislang – an die Datenerhebung, sondern auch an Übermittlungstatbestände anknüpfen.[112] Das harmonierte zudem besser mit dem selbständigen Charakter von Folgeeingriffen.

Aber auch auf der Ebene der Verfassungsrechtsprechung ist die Entwicklung längst noch nicht abgeschlossen. Weitere wichtige Verfahren sind aktuell anhängig und werden hinzukommen.[113] Weil die Querbezüge zwischen den verschiedenen Materien des Sicherheitsrechts immer mehr zunehmen, könnte es sinnvoll sein, in den Geschäftsordnungen des BVerfG spezifischere Zuständigkeiten hierfür zu verankern. Die Behandlung weiter Teile des Sicherheitsrechts unter dem verbindenden Vorzeichen des Datenschutzes[114] erscheint angesichts der hohen Ausdifferenziertheit des Sicherheitsrechts nicht mehr zeitgemäß, überlagert bereichsspezifische Unterschiede, führt zu Kompetenzkonflikten[115] und ist damit letztlich einer spruchgruppenübergreifenden Harmonisierung der Rechtsprechung abträglich. Ebenfalls erwägenswert wäre angesichts der hohen Komplexität der Materie und naturgemäß im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur selektiven Befassung des BVerfG eine Wiedereinführung des 1956 abgeschafften Gutachtenverfahrens.[116] Grundlegenden strukturgebenden gesetzgeberischen Entscheidungen könnte eine Konsultation des Gerichts vorausgehen, was gegenüber der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, die zunehmend zum Instrument einer strategischen 468politischen Auseinandersetzung geworden ist[117], erhebliche Vorzüge hätte. Nicht zuletzt ist aber auch die Rechtswissenschaft gefordert, die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung kreativ weiterzudenken und Lösungen zu entwickeln, die das praktisch Erforderliche und Machbare mit dem verfassungsrechtlich Gebotenen in einen Einklang bringen. Einer der Ansätze hierfür ist das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Projekt einer »Überwachungsgesamtrechnung«[118], dessen Ertrag mit Spannung erwartet wird.

Online erschienen: 2024-04-04
Erschienen im Druck: 2024-08-05

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 30.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/juru-2024-2026/html
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