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Rechtsgeschichte als Dogmatik und Problemlöser. Diethelm Klippel und die „juristische Zeitgeschichte“

  • Martin Otto
Published/Copyright: June 27, 2022

Nicht erst 1985 war die Rechtsgeschichte in einer methodischen Krise [1]. Diese Dauerkrise besteht im Grunde seit Inkrafttreten des BGB, seit die Rechtswissenschaft nicht mehr zwangsläufig als historische Wissenschaft verstanden wird [2]. Die „dienende Funktion“ der Rechtsgeschichte, ihre zwangsläufige Verknüpfung mit der Dogmatik war mit dem BGB und der „Entzahnung von historischer und dogmatischer Rechtsbetrachtung“ [3] obsolet geworden. Nach 1945 konnte noch einmal eine kurze rechtshistorische Blüte beobachtet werden [4]. Explizit der Disziplin gewidmete Lehrstühle nahmen zu, neugegründete Fakultäten erhielten in der Regel zwei rechtshistorische Lehrstühle, bedeutende Werke entstanden, ob von Franz Wieacker [5], Eberhard Schmidt [6], Bernd Rüthers [7] oder auch Ernst Rudolf Huber [8], historische Kärnerarbeit betrieben nicht nur Werner Schubert [9] oder Helmut Coing [10], ein ganzes Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte wurde 1964 von Coing gegründet [11]. Trotzdem wurde es ab den Studienreformen der siebziger Jahre immer rechtfertigungsbedürftiger, rechtshistorisch zu arbeiten. Es waren nicht allein normative Vorgaben; ab den sechziger Jahren sah sich die Rechtsgeschichte auch von einem sozialwissenschaftlichen Zugang herausgefordert. Andere ihrer Vertreter suchten offensiver den Anschluss an die Geschichtswissenschaft, gerade weil die Rechtswissenschaft nicht mehr historisch arbeitete. Es entstand eine neue Literaturgattung, die keiner so nannte: die methodische Rechtfertigung der Rechtsgeschichte [12]. Die Literaturform brachte schöne Blüten hervor, etwa Uwe Wesels Versuch einer „materialistischen“, also marxistischen Rechtsgeschichte [13]. Die traditionell international vernetzten Romanisten bewiesen Resilienz [14], hatten mit der europäischen Einigung und ihrer historischen Legitimation (das Abendland war nach 1945 ein scheinbar unverdächtiger Referenzrahmen) auch eine komfortablere Steilvorlage für eine „Europäische Rechtsgeschichte“ [15]. Die Kanonisten versuchten sich innovativ, indem sie darauf verwiesen, dass in unserem Recht mehr kanonisches Recht steckt als wir glauben [16]. Die germanistische Rechtswissenschaft hatte die größten Rechtfertigungsprobleme, weniger wegen politischer Missbrauchsgefahr als wegen der zunehmend erkannten Aporien einer Anwendung der Historischen Rechtsschule auf „germanische“ Quellen [17]. Nicht erst 1985 stellte sich einer Disziplin, in der respektabel geforscht, gelehrt, promoviert und habilitiert wurde, die methodische Sinnfrage: Why Legal History?

Der junge, 1943 in Trier geborene Gießener Professor Diethelm Klippel antwortete darauf mit zwei Worten: Juristische Zeigeschichte. Das war der Titel eines schmalen Büchleins, das 1985 im traditionsreichen „Brühlschen Verlag“ Gießen als vierter Band der „Gießener rechtwissenschaftlichen Abhandlungen“ erschienen war. Verlag [18] und Reihe [19] sind längst vergangen, die Schrift wird noch immer zitiert [20] . Es war soweit ersichtlich das erste Mal, dass der Begriff „Juristische Zeitgeschichte“ in einem Buchtitel gebraucht wurde. Was Klippel damit meinte, verdeutlicht der Untertitel: „Die Bedeutung der Rechtsgeschichte für die Zivilrechtswissenschaft.“ Das kam nicht aus heiterem Himmel. Ausdrücklich knüpfte Klippel an seine bei Dieter Schwab in Regensburg entstandene Habilitationsschrift an [21], in der im Vorjahr 1985 der Begriff „juristische Zeitgeschichte“ bereits in der Einführung wohl zum ersten Mal gebraucht wurde; hier war definitorisch die Rede von einer „solche[n] juristische[n] Zeitgeschichte, welche die Entstehung und Veränderung heute geltender Normen in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft verfolgt“ und allein deutlich machen kann, dass die „Auslegung und Abgrenzung“ dieser Vorschriften „nicht sozusagen naturrechtlich vorgegeben sind“ [22]. Dem besonders verehrten Dieter Schwab war dann die „Juristische Zeitgeschichte“ zum „50. Geburtstag am 15. August 1985“ gewidmet, eine seltene Geste des zurückhaltenden Klippel [23]. Es gab auch inhaltliche Anknüpfungen an Schwab [24], etwa an dessen im Vorjahr erschienenen Beitrag aus der Festschrift für Heinz Hübner, in dem Schwab einer „rein historische[n] Ausrichtung der Rechtsgeschichte“ ihren „Tod als Lehrfach an den Juristischen Fakultäten“ vorhersagte,

„den auch die künstliche Ernährung durch den vom rechtshistorischen Grundlagenschein ausgehenden Beschäftigungszwang nicht wird verhindern können.“ [25]

Dies entsprach auch Klippels Standpunkt, doch wäre es grundfalsch, hier kausale Abhängigkeiten oder gar eine keineswegs illegitime Rezeption des Lehrers zu sehen; Klippels Gedankenführung war ganz eigenständig. Und sie verstand sich als ein Angebot an die gesamte Zunft: einen Teil hatte er im Rahmen des „Rechtshistorischen Wochenendes“ bei den Kieler Kollegen Hans Hattenhauer und Werner Schubert, die er von einer Lehrstuhlvertretung als Privatdozent näher kannte, vorgestellt [26]. Der Kritik sei er nicht immer gefolgt, doch habe dies zur „Klärung“ seiner Ansichten beigetragen. Klippel hatte bereits in seiner Habilitationsschrift darauf hingewiesen, dass jede Rechtsauslegung auch historisch arbeiten muss [27]. Die Wortwahl „Juristische Zeitgeschichte“ war wohlüberlegt, denn Klippel war auch nach rechtshistorischen Maßstäben gut mit der damaligen geschichtswissenschaftliche Methodik vertraut. In Gießen sollte er später als „Zweitmitglied“ dem Fachbereich 8 (Geschichtswissenschaften) angehören [28], stolz war er auf seine Mitgliedschaft im „Deutschen Historikerverband“, auf Historikertagen war er nicht nur unter den Zuhörern anzutreffen [29]. Er zitierte 1985 viele Vertreter der Geschichtswissenschaft, darunter Hans Rothfels [30] und Eberhard Jäckel [31], folgte dem damals üblichen Ansatz, die Zeitgeschichte mit dem Jahr 1917 (Kriegseintritt der USA, Oktoberrevolution) beginnen zu lassen, verwies drauf, dass „Zeitgeschichte“ eben kein Epochenbegriff ist, sondern „sich als Konsequenz ihrer Definition mit den Jahren verschiebt“ [32]. Er erwähnte die wenigen Kollegen, die den Begriff der Zeitgeschichte auch „auf rechtshistorische Untersuchungen“ angewendet hätten [33], die mehr im Mittelalter beheimateten Gerhard Dilcher[34] und Hans Thieme [35], zudem den Alternativbegriff „Rechtliche Zeitgeschichte“ bei Robert Scheying [36] und Gernot D. Hasiba [37], um zu betonen, dass er den Begriff in einer anderen Weise gebrauchen werde.

„Die Abweichung vom Sprachgebrauch der allgemeinen Geschichtswissenschaft rechtfertigt sich schon deshalb, weil sich das Alter von Gesetzen nicht nach den genannten Daten richtet […].“ [38]

Klippel hatte einen höchst anspruchsvollen Versuch einer rechtshistorischen Standortbestimmung geschrieben, das Literaturverzeichnis umfasste Titel, die sich gleichmäßig auf Rechts- und Geschichtswissenschaften, auf das 19. und das 20. Jahrhundert verteilten. Erkennbar ist ein begriffsgeschichtlich vermittelter Zugang; die über Schwab vermittelte Mitarbeit an dem Monumentalwerk „Geschichtliche Grundbegriffe“ [39] war für Klippel, wie er Jahre später in einem Gespräch mit Barbara Stambolis 2008 erklärte, ein wissenschaftliches Initialerlebnis [40]. Der sorgfältige Leser, den sich Klippel immer wünschte, hätte dieses Hinweises nicht bedurft. Ein Rechtshistoriker, der sich eklektizistisch aus dem Begriffsarsenal der Nachbardisziplinen bedient, war er nicht. Jede begriffliche Anleihe war sorgfältig durchdacht, jedes Wort abgewogen, dem Zufall blieb wenig überlassen. Um einer Pointe willen wurden keine Abstriche gemacht; vielleicht der Kernsatz von Klippel, sein rechtshistorisches Credo, war deswegen etwas versteckt, doch er beschrieb präzise die Aufgaben seiner juristischen Zeitgeschichte: diese befasse sich

„mit der Entwicklung der gesetzlichen Bestimmungen, der Literatur und der Rechtsprechung seit Inkrafttreten des Gesetzes, auf dem die heutige rechtliche Situation beruht, im Falle von BGB und HGB also seit dem 1. Januar 1900. Damit leistet sie vor allem einen methodischen und sachlichen Beitrag zur Bewältigung der Probleme, die aufgrund alternder Gesetze – insbesondere der Kodifikationen – entstehen.“ [41]

Unter den häufiger zitierten Autoren fallen zwei Vertreter der Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz auf [42]. Klippel war nicht naiv gegenüber Legitimationen der Geschichte durch ihren praktischen Nutzen, das Anliegen, mit Hilfe der Rechtsgeschichte als juristischer Zeitgeschichte aktuelle Probleme des geltenden Rechts zu lösen, war ihm ein konstantes Motiv. Die Aufnahme des Werkes durch die Kollegen mit kollegial verbrämter Kritik [43] war, ein offenes Geheimnis, für ihn enttäuschend, eine zuweilen angeregte Neuauflage hatte er nicht gewünscht. Im Grunde war das Buch mit dem prägnanten Titel zu früh und zu spät erschienen. Zu früh, weil die Mehrheit der Kollegen sich unter „Juristischer Zeitgeschichte“, bei Klippel ein Synonym für die dogmatische Berücksichtigung der zeitlichen Dimension des Rechts [44], nichts vorstellen konnten und sogar die Zugehörigkeit zur Rechtsgeschichte insgesamt in Abrede stellten [45]. Zu spät, weil in der Disziplin Rechtsgeschichte insgesamt ein „Abflachen des Auseinandersetzungswillens“ zu beobachten war, äußerlich erkennbar etwa auf dem Rechtshistorikertag 1986 in Frankfurt am Main; die Bereitschaft, sich mit einer weiteren methodischen Stellungnahme, auseinanderzusetzen war gering, ob nun aus irenischen oder ignoranten Motiven [46]. Dass methodische Argumente einen ahistorischen und ökonomisierten Juristentyp, der sich 1985 bereits abzeichnete, vom Wert der Rechtsgeschichte überzeugen, dürfte heute noch unwahrscheinlicher empfunden werden [47]; anders als viele seiner Kritiker hatte Klippel aber eine klare Perspektive für seine Disziplin, beschränkte sich nicht auf das pointenreiche Abbrennen von Feuerwerken, die etwas wohlfeil methodische Aporien aufdeckten [48]. Die „Juristische Zeitgeschichte“ hat Klippel in ihrer Form von 1985 nicht fortgesetzt, doch ihr Ansatz zieht sich durch sein Werk, wurde von seinen Schülern übernommen [49]. In seinen letzten Veröffentlichungen insbesondere zur Geschichte des geistigen Eigentums [50] wurde dies noch einmal akzentuiert, was bereits in einem im Zusammenhang der „Juristischen Zeitgeschichte“ entstandenen Text deutlich wurde: die größere Offenheit einer „germanistischen“ Rechtswissenschaft für juristische Innovationen [51]. Seiner eigenen Zunft hielt er eine Vernachlässigung vieler Forschungsfelder vor; die Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte sah er, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, zunehmend in die Geschichtswissenschaft abwandern; die von Klippel allerdings mitbetreute Gießener historische Habilitationsschrift von Sylvia Kesper-Biermann [52] war ihm Beleg dafür. Seine juristische Zeitgeschichte hat er damit begrifflich weiterentwickelt und aus dem ursprünglichen Bezug zur Privatrechtsgeschichte gelöst. Auf dem Rechtshistorikertag 2006 in Halle hatte Klippel mit den Reaktionen von Staat und Gesetzgebung auf „Napoleon“, „Industrialisierung“ und „Kommunikation“ schlagwortartig Desiderata für die künftige rechtshistorische Forschung zum 19. Jahrhundert benannt [53]. Das musste Vermächtnis bleiben. Am 5. Februar 2022 ist der innovative Rechtshistoriker Diethelm Klippel, Pionier der „Juristischen Zeitgeschichte“, auch für viele die ihn besser kannten unerwartet, nach kurzer schwerer Krankheit in Bayreuth wenige Wochen nach seinem 79. Geburtstag viel zu früh verstorben.

Nicht nur die Universität Bayreuth lobte ihr verstorbenes Mitglied Diethelm Klippel postum für „seinen feinen Humor“ [54]; keiner, der ihn persönlich kannte, wird ernstlich widersprechen. Persönlich hielt es Klippel allerdings mit Gotthold Ephraim Lessing, dessen Kampf gegen den Büchernachdruck in einer der letzten von ihm betreuten Dissertationen [55] umfassend dargestellt wurde:

„Wer wird nicht einen Klopstock loben?/Doch wird ihn jeder lesen? – Nein./Wir wollen weniger erhoben/Und fleißiger gelesen sein.“ [56]

Nicht nur die „Juristische Zeitgeschichte“ lohnt fleißiger Relektüre.

Published Online: 2022-06-27
Published in Print: 2022-06-27

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 25.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/jjzg-2022-0020/html
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