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Law and Anthropology

  • Harald Sippel
Published/Copyright: February 11, 2022

Reviewed Publication:

Wolfgang Fikentscher: Law and Anthropology; 2. Aufl., München / Oxford / Baden-Baden (C.H. Beck / Hart / Nomos Verlagsgesellschaft) 2016, 547+XXXII S.


Das nun in zweiter Auflage vorliegende Buch des bereits 2015 verstorbenen Verfassers, ehedem Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Handelsrecht, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht sowie Privatrechtsvergleichung an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), setzt sich aus universaler Perspektive mit dem Beziehungsgeflecht und den Wechselwirkungen von Recht und Anthropologie in Vergangenheit und Gegenwart auseinander. Der inhaltliche Unterschied zur ersten Auflage besteht vor allem darin, dass eine Erweiterung des Themenspektrums erfolgte und verstärkt Bezüge zur Ökonomie, Religion und Politikwissenschaft aufgestellt wurden.

Die umfassende Untersuchung hat einen anthropologischen Fokus. Der Zugang zum Recht wird gebahnt durch breite Ausführungen zur Kulturanthropologie, als deren Teil die Rechtsethnologie oder – im Kontext der Ausführungen präziser – die Rechtsanthropologie, um den vom Verfasser bevorzugten Begriff zu gebrauchen, erachtet wird.

Das Werk besteht aus drei Teilen, die in insgesamt 16 Kapitel mit unterschiedlicher quantitativer Gewichtung zerfallen. Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Rechtsanthropologie, insbesondere mit ihrer Signifikanz und der Terminologie (Kap. 1), die historischen Entwicklungen dieser Disziplin (Kap. 2), die rechtssoziologischen Bezüge (Kap. 4) und die mannigfaltigen Beziehungen zur Kulturanthropologie (Kap. 3 und 5 bis 7). Im zweiten Abschnitt werden Teilgebiete der Rechtsanthropologie erörtert, die der Verfasser ausführlich thematisch aufbereitet, indem er eine grobe Einordnung in die Bereiche Verwandtschaft (Kap. 8), Gesellschaftsordnung (Kap. 9), Gegenseitigkeitsverhältnis (Kap. 10), Verteilungsgerechtigkeit (Kap. 11), Ausgleichs- oder Vergeltungsgerechtigkeit (Kap. 12) und Verfahrensgerechtigkeit (Kap. 13) vornimmt. Der unspezifisch gehaltene dritte Teil stellt eine Art Auffangbecken für Themen bereit, die in den ersten beiden Abschnitten der Ausarbeitung keine Berücksichtigung finden. Hier wird zuerst in kurzen Ausführungen das Recht nordamerikanischer indigener Völker erörtert (Kap. 14), um sodann auf wenigen Seiten die Stellung indigener Völker im Völkerrecht abzuhandeln (Kap. 15) und Vorschläge für eine angewandte Rechtsanthropologie zu unterbreiten (Kap. 16).

Die beiden letztgenannten Kapitel, in denen die Position indigener Völker im internationalen Recht und die Entwicklung der Menschenrechte in einen Zusammenhang mit rechtsanthropologischen Fragestellungen gestellt werden, sind für die juristische Zeitgeschichte von Bedeutung. Für die Rechtsgeschichte ist insbesondere das zweite Kapitel relevant. An dieser Stelle werden die Entwicklung der Wissenschaft von der Rechtsanthropologie nachgezeichnet, die verschiedenen relevanten Denkschulen genannt und die damit im Zusammenhang stehenden gelehrten Persönlichkeiten sowie deren Ideen vorgestellt. Aspekte zur Rechtsgeschichte, zur Geistes- und Wissenschaftsgeschichte ziehen sich allerdings durch das gesamte Werk, zumal es der Verfasser versteht, auf instruktive Weise das vielfältige und spannende Zusammenspiel von Rechtsanthropologie, Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie, Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zu verdeutlichen. Hier zeigt es sich auch eindrücklich, wo – um im historischen Bild zu bleiben – gleichsam „Barthel den Most holt“, also welcher rechtlichen Vorstellungen, Hintergründe und Tatsachen sich Wolfgang Fikentscher für seine Ausführungen bedient, nämlich aus der Bibel und dem Koran, aus dem griechischen und dem römischen Recht, aus germanischen Volksrechten und spätmittelalterlichen europäischen Stadtrechten, aus dem Recht europäischer Staatsgebilde seit der Neuzeit und dem Recht außereuropäischer indigener Völker. Diese keinesfalls abschließende Aufzählung wäre jedenfalls unvollständig, wenn nicht zumindest auch noch auf die fiktive Literatur hingewiesen würde, die der Verfasser zur Bekräftigung mancher seiner Thesen verwendet. Dabei bleibt nicht aus, dass sich diese zuweilen als reichlich kühn erweisen, wenn er beispielsweise ein Theaterstück des Dramatikers Heiner Müller zur Untermauerung seiner Hypothese der mangelnden Selbstorganisation und fehlenden Eigenverantwortung ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger heranzieht (S. 336 f). Fragwürdig ist es auch, wenn er im selben Zusammenhang heute angeblich noch bestehende Andersartigkeiten im Rechtsleben zwischen der ost- und westdeutschen Bevölkerung aus unterschiedlichen germanischen Volksrechten, nämlich dem sächsischen und dem fränkischen Recht herleitet, ohne dabei die im Zeitablauf erfolgten ungleichartigen Veränderungen der politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen (S. 337–340).

In geografischer Hinsicht werden vom Verfasser sämtliche Kontinente behandelt, wenngleich Nord- und Mittelamerika stärker vertreten sind und vor allem Afrika unterrepräsentiert ist. Zum letztgenannten Erdteil fällt auf, dass die zahllos dort durchgeführten rechtsanthropologischen Forschungen und deren Ergebnisse in der Abhandlung kaum Berücksichtigung finden.

Das aus vielerlei Vorlesungsmaterialien, entstanden für Lehrveranstaltungen zur Rechtsanthropologie an der LMU und an der University of California School of Law at Berkeley in den Vereinigten Staaten von Amerika, allmählich zu einem Stück herangewachsene Werk von Wolfgang Fikentscher stellt sowohl ein Lehr- wie auch ein Handbuch für den Themenkomplex „Recht und Anthropologie“ dar. Es offenbart eine Fülle an Wissen, um (rechts-)anthropologische Phänomene zu veranschaulichen und Zusammenhänge darzustellen, und bietet quasi einen Steinbruch an Gedanken, der genügend Material für weitere Untersuchungen liefert. Da nicht sämtliche angesprochenen Themen erschöpfend behandelt werden, durchweht das gelehrte Werk bisweilen Züge des noch nicht Abgeschlossenen. Es handelt sich gleichsam um ein work in progress, wohl weil das Buch eigentlich so angelegt ist, im Ergebnis nie fertig zu werden, um stets offen für neue anthropologische Erkenntnisse zu sein. Darauf deuten auch die zahlreichen Fingerzeige hin, wo nach Ansicht des Verfassers noch Forschungsbedarf besteht.

Das Werk von Wolfgang Fikentscher enthält zahlreiche Fotografien, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und einen hilfreichen Personen- und Sachindex. Es ist unverzichtbar für alle (rechts-)anthropologisch Arbeitende und Interessierte.

Published Online: 2022-02-11
Published in Print: 2022-03-28

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/jjzg-2022-0010/html
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