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Zukunftsvisionen für die chinesische Germanistik

  • Michael SZURAWITZKI

    Dr. phil. habil., M. A. Promotion 2005, Habilitation 2011. Vertretungsprofessuren in Germanistischer Linguistik in Joensuu, Siegen, Duisburg-Essen, LMU München. 2014–2017 Ordentliche Professur (befristet) für Germanistische Linguistik an der Tongji-Universität Shanghai. 2017–18 W2-Professor (stv.) für Linguistik des Deutschen, Universität Hamburg. Seit 10/2018 W2-Professor (stv.), Germanistik/Linguistik, Universität Duisburg-Essen. Webseite: www.szurawitzki.de. Forschungsinteressen u. a. Fach- und Wissenschaftssprache Deutsch, Medienlinguistik, Kontrastive und Interkulturelle Linguistik.

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Published/Copyright: March 16, 2019

Zusammenfassung

Im Beitrag werden Zukunftsvisionen für die chinesische Germanistik vorgestellt. Nach einer Einführung steht ein Abschnitt zur Fachgeschichte der Germanistik in China, bevor auf die gegenwärtige Situation und auf die Zukunft der Germanistik im Reich der Mitte Bezug genommen wird. Hierbei kommen verschiedene Aspekt in den Blick, wie das Wachstum, Publikationspraxen, Binnendifferenzierung und die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Abstract

This paper focuses on the future of German Studies in China. After an introduction sections on the history and the contemporary situation of German Studies in China are given. The focus is on perspectives for the future, such as e. g. the growth of German Studies, publication opportunities, the structure of the broader concept of German Studies, and the situation of prospective future professors.

1 Einführung

Als ich gebeten wurde, für das vorliegende Themenheft einen Beitrag beizusteuern, musste ich nicht lange überlegen, welches Thema dieser behandeln sollte. Aus meiner Tätigkeit an der Tongji-Universität (2014–2017) heraus bot es sich an, mit einer Innensicht der chinesischen Germanistik ausgestattet, über den Fortgang der zumindest quantitativ messbaren Erfolgsgeschichte des immer noch wachsenden Fachs Überlegungen anzustellen. Die hier vorgelegten Thesen sind komplementär zu einem Beitrag im Jahrbuch für Internationale Germanistik (Szurawitzki 2017), der auf den 2015 an der Tongji-Universität durchgeführten XIII. Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik IVG (im Folgenden: IVG-Kongress) fokussiert. Am Ende des genannten Beitrages stehen kompakt einige Überlegungen, wie es mit der Germanistik in China weitergehen könnte; hier bekomme ich Gelegenheit, meine Gedanken ausführlicher darzulegen, und danke dafür den HerausgeberInnen des Themenhefts.

Um zur Zukunft etwas Substanzielles sagen zu können, muss man auch auf die Vergangenheit und die Gegenwart blicken. Mit Perspektive auf die chinesische Germanistik verhält es sich nicht anders, von daher ist der vorliegende Beitrag wie folgt aufgebaut: Zunächst steht nach der Einführung (1) ein Abschnitt zur Fachgeschichte der chinesischen Germanistik (2). Daran schließt sich ein Abschnitt über die Gegenwart, die ich in meinem speziellen Fall eng mit der Tongji-Universität und dem genannten IVG-Kongress verbinde, an (3). Die Überlegungen zur Vergangenheit und Gegenwart sind im Vergleich kurz gehalten; darauf folgt der Hauptteil des Beitrags, der sich mit den zukünftigen Entwicklungen und Tendenzen der Germanistik in China beschäftigt (4). Dazu muss ergänzend vorab gesagt werden, dass sich meine Positionen nicht nur auf die an der Tongji (同济大学) gemachten Erfahrungen zurückführen lassen: Ich habe auch an anderen chinesischen Universitäten Einblicke in die Germanistik nehmen dürfen, so u. a. an der Shanghai International Studies University (SISU) (上海外国语大学), der Zhejiang-Universität (浙江大学) in Hangzhou, der Pekinger University of International Business and Economics (UIBE) (对外经济贸易大学), um nur einige zu nennen. Ich stehe mit einer großen Zahl von KollegInnen in China von ganz unterschiedlichen – kleineren und größeren Universitäten – weiter in Kontakt.

2 Zur Fachgeschichte der chinesischen Germanistik

Die chinesische Germanistik ist nicht so alt wie das Wirken Deutschsprachiger in China: Politisch ist vor allem die Kolonie in Qingdao 青岛 (dt. Tsingtau) zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu nennen, deren Spuren bis heute sichtbar sind. Das Auswärtige Amt engagierte sich über die Etablierung einer deutschen Medizinschule für Chinesen in Shanghai ab 1907 (vgl. Reinbothe 2007 a, 2007b), die heute als Vorläufer der Tongji-Universität gilt (den ‚Gründungsmythos‘ der Tongji-Universität durch den deutschen Arzt Erich Paulun hat Roswitha Reinbothe in diversen Publikationen [vgl. v. a. Reinbothe 2009] erläutert und ausdifferenziert). Deutsch wurde also mehr oder minder systematisch seit dieser Zeit gelernt, wenn auch noch nicht in Form einer Universitätsgermanistik. Mit Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 schloss sich China bis zum heute so genannten Beginn der Öffnungspolitik Ende der 1970er Jahre, und ausländische Einflüsse wurden entsprechend in den Hintergrund gedrängt.

Die ausführlichste Zusammenfassung der Geschichte der chinesischen Germanistik bietet Hernig (2000), auf dessen Darstellung ich mich im Folgenden schwerpunktmäßig beziehe. Älter sind u. a. die Darstellungen von Zhang (1985), Kreissler (1989) und Winckler (1991). Im Kapitel 3.2 seiner Monographie (Hernig 2000: 129ff.) nimmt er auf die Geschichte des Faches Bezug, setzt seinen Einsprungpunkt jedoch mit 1871 schon früher und erläutert die Entwicklungen bis 1978 (Kap. 3.2.1), bevor er in einem zweiten Schritt (Kap. 3.2.2) die Phase seit Beginn der Öffnungspolitik in den Blick nimmt. Hernig (2000: 129) führt den Beginn der Beschäftigung mit dem Deutschen nach 1871 zurück, das Jahr, in dem Deutsch „in den Fächerkanon der im Jahre 1862 gegründeten Pekinger Fremdsprachenhochschule (Tongwenguan) integriert“ wurde. Dazu kam es um 1900 zu deutschen Schulgründungen. Solch deutscher Bildungsexport war nach Hernig von Beginn an wirtschaftlich motiviert und sollte „der deutschen Industrie neue Absatzmärkte sichern“ (Hernig 2000: 129). Als zentrale Einflussbereiche werden in diesem Zusammenhang das Rüstungsgeschäft, der Eisenbahnbau und das Bankwesen genannt (Hernig 2000: 129 f.). Die Entwicklung der Germanistik selbst war jedoch verbunden mit der Bewegung des Vierten Mai von 1919 (Hernig 2000: 130), die mittelbar dazu führte, dass das Interesse für die modernen westlichen Gesellschaften und deren Literaturen – also auch für die deutsche – geweckt war (vgl. Zhang 1985: 169). Ab 1922 konnte man z. B. an der Peking-Universität Germanistik im Hauptfach studieren (Hernig 2000: 130). Das Studium kann man sich als zweigeteilt vorstellen, erst ein Sprachpropädeutikum, dann die Lektüre deutscher Klassiker (vgl. Y. Zhu 1987: 242; Kreissler 1989: 173)[1]. Jedoch verschwand die so ambitioniert angetretene Germanistik unter der Regentschaft der Guomindang Tschiang Kai Sheks (1887–1975) bereits in den 1930er Jahren wieder (Hernig 2000: 131), und der Fokus ging zurück zu ausschließlich wirtschaftlich motivierten deutsch-chinesischen Beziehungen. Dennoch engagierten sich die Germanisten der ersten Stunde um ihren Nestor Feng Zhi auch in Zeiten der Institutionslosigkeit und legten erste germanistische Literaturgeschichten und -lexika in chinesischer Sprache vor (Hernig 2000: 131), während sie sich durch Fremdsprachenunterricht über Wasser hielten. Mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 und der damit verbundenen Annäherung an die Sowjetunion – und die DDR – veränderte sich die Situation. Bis 1956 „etablierte sich die Germanistik endgültig als Institution an vier Hochschulen“ (Hernig 2000: 131). Im Fokus stand das Studium sozialistischer deutscher Literatur wie z. B. Seghers oder Brecht einerseits und die Publikation deutschsprachiger SchriftstellerInnen andererseits. Parallel wurde die intensive Sprachausbildung stärker in den Blick genommen. Somit wurde der Bereich der Sprachvermittlung simultan wichtiger (Hernig 2000: 132). Bereits hier sind die auch heute noch wichtigsten Bereiche der chinesischen Germanistik benannt; die Linguistik ist im Vergleich weniger flächendeckend vorhanden. Nachdem die Beziehungen zur Sowjetunion Ende der 1950er Jahre bis zum endgültigen Bruch Anfang der 1960er Jahre immer schlechter wurden, wurde absehbar, dass sich dies auch auf die Beziehungen zur DDR und damit auch auf die Germanistik auswirken würde. Dennoch wurden von chinesischen Germanisten in dieser Zeit „Werke von Hermann Paul, Otto Behagel [sic] und Georg Lukacs“ (Hernig 2000: 133; vgl. Y. Zhu 1987: 244) übersetzt, ebenso wie Thomas Manns Buddenbrooks. Mit der Kulturrevolution (1966–1976) kam de facto der germanistische Betrieb komplett zum Erliegen. Erste Zeichen einer „Wiederbelebung“ konnten mit der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1972 (Hernig 2000: 133) gesetzt werden, nachdem eigentlich auch während der Kulturrevolution die wirtschaftlichen Beziehungen nie komplett abgerissen waren. Mit dem Kulturabkommen 1979 mit der Bundesrepublik, das einen Meilenstein der Öffnungspolitik Chinas markierte, wurde eine intensive Austauschtätigkeit, auch im Hochschulbereich, aufgenommen (Hernig 2000: 133–134). Damit einher ging die Förderung der deutschen Sprache, Literatur und Landeskunde in China. Ab hier ist aus heutiger Perspektive der Aufstieg der chinesischen Germanistik zu sehen, da nun in Zusammenarbeit mit der BRD (seit einem Regierungsabkommen von 1978) weit über 100 Hochschulkooperationen verbrieft wurden. Damit einher gingen die Absichten, die Sinologie in Deutschland und die Germanistik in China zu stärken. In diesem Zuge wurden Germanistik-Lektorate des DAAD an chinesischen Hochschulen eingesetzt und Stipendien des Goethe-Institutes für chinesische Lehrkräfte eingeführt (Hernig 2000: 134). Seit 1982 existiert mit dem Chinesischen Germanistenverband eine Dachorganisation für alle GermanistInnen Chinas (Hernig 2000: 136). Bis 1997 war die Germanistik an ca. 25 Hochschulen und Universitäten Chinas vertreten (Hernig 2000: 137). Mittlerweile gab es auch eigenständige sprachwissenschaftliche Forschung: J. Zhu (2002) schreibt zur Situation der Germanistischen Linguistik in China. Kong (2007) nimmt eine Bestandsaufnahme der Hochschulgermanistiken in China vor. X. Zhu (2011) fokussiert dagegen auf die Interkulturalität der chinesischen Germanistik. Den zahlenmäßigen Anstieg der Universitätsinstitute der Germanistik mit einer knappen Versechsfachung seit den 1990er Jahren thematisieren Marioulas/Wu (2015) und zuletzt Szurawitzki (2015).

3 Gegenwart: IVG-Kongress 2015 etc.

Zur Planung und Durchführung des IVG-Kongresses habe ich an anderer Stelle eine ausführliche Darstellung vorgelegt (Szurawitzki 2017). Für den Kontext des vorliegenden Artikels ist der Kongress aber auch von großer Wichtigkeit, da der vorliegende Text ohne den Kongress wohl nicht hätte entstehen können. Der XIII. Weltkongress Germanistik im Sommer 2015 an der Tongji-Universität markierte in jedem Fall vorerst den Höhepunkt des Aufstieges der chinesischen Germanistik. Ca. 1200 angereisten TeilnehmerInnen aus aller Welt wurde während der Kongresswoche mit gut 1000 gehaltenen Vorträgen deutlich, dass die chinesische Germanistik zu den wenigen im weltweiten Vergleich mindestens quantitativ boomenden Fächern gehört (zusammen mit anderen Schwellenländern wie etwa Indien) und das sich v. a. am Eröffnungsabend im Rahmen des feierlich begangenen Chinesischen Kulturabends manifestierende Selbstbewusstsein des Gastgeberlandes einerseits natürlich politisches Programm ist, aber auch fachlich nicht von ungefähr kommt. In jedem Falle war der Kongress als Abschluss der Amtszeit von IVG-Präsident Jianhua Zhu sichtbares Zeichen dafür, dass es der chinesischen Germanistik mindestens gut, wenn nicht ausgezeichnet geht. Wie der weitere Weg nach diesem vorläufigen Höhepunkt der internationalen Sichtbarkeit weiter beschritten werden kann, ist eine geradezu spannende Frage, auf die ich im folgenden Abschnitt einige Antwortansätze formulieren möchte.

4 Zukunftsvisionen für die chinesische Germanistik

Wo kann man bei der Frage nach den zukünftigen Entwicklungen in der chinesischen Germanistik ansetzen? Zuerst muss man sich wohl die Frage ansehen, wie lange die auch quantitativ messbare Expansion des Faches weitergeht. Seit den 1990er Jahren hat sich die Zahl der germanistischen Institute an Universitäten grob gesprochen versechsfacht. Dank des großen, gesteigerten Engagements der deutschen Wirtschaft im Reich der Mitte sind immer mehr Deutschkönner und KulturexpertInnen in Unternehmen gefragt gewesen. Hinzu kommt die Einführung von Deutsch als Mittelschulfach und der damit steigende Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern, der noch einige Zeit lang absichern wird, dass das Fach Germanistik in China weiterwächst.

Solange man auch messbar von Wachstum sprechen kann, dürfte alles weiter den gewohnten Gang gehen. Die wissenschaftspolitische und -strategische Ausrichtung in China orientiert sich klar am internationalen Wettbewerb, mit speziellem Fokus auf US-amerikanische Zitationsindices. Das Ziel ist zumeist – und dies gilt für alle Wissenschaftsbereiche –, in die Weltspitze aufzusteigen. Für die Germanistik in China ist dies perspektivisch ggf. ein Problem, da viele Kolleginnen und Kollegen ihre Forschungsergebnisse teils nicht in entsprechend international hoch gerankten Zeitschriften auf Deutsch oder Englisch publizieren. In diesem Zusammenhang sind in den Fremdsprachenphilologien, in denen nicht oder kaum auf Chinesisch publiziert wird, v. a. der Arts and Humanities Citation Index (A&HCI) sowie der Social Sciences Citation Index (SSCI) zu nennen. Publikationen in Zeitschriften, die in den genannten Indices erfasst sind, werden genauso hoch bewertet wie die besten chinesischen Zeitschriften. Zur Bewertung der Publikationsleistung wird ausschließlich das Publikationsmedium herangezogen. Im Wettbewerb mit anderen Sprachfächern, v. a. der Anglistik, müsste sich die germanistische Publikationskultur in China wohl darauf einstellen, die Veröffentlichungen von begutachteten Aufsätzen in angesehenen, referierten Zeitschriften zu priorisieren. Sammelbände, auch im deutschen Sprachraum verlegte, und Beiträge zu solchen Bänden zählen in der Praxis kaum bis gar nicht. Der hier vorgeschlagenen Fokussierung steht entgegen, dass bei der Begutachtung von eingereichten Manuskripten häufiger Ablehnungen ausgesprochen bzw. aufwendige Überarbeitungsvorschläge unterbreitet werden. Dies ist an sich nichts Ehrenrühriges, verträgt sich u. U. jedoch schlecht mit dem Konzept des Gesichtsverlustes, wobei natürlich keine KollegIn gern für ihren Text mit Kritik, Überarbeitungswünschen oder gar Ablehnung umgeht. Außerdem scheint mir insgesamt mehr Information über Publikationsmöglichkeiten notwendig, da viele mir bekannte KollegInnen vielleicht gerne in deutschen Zeitschriften publizieren würden, aber oft die Initiative und ggf. auch das Know-how und die Kontakte fehlen, wie man an solche Medien geeignet heranzutreten vermag.

Der zweite Punkt, den ich hier behandle, betrifft die Binnendifferenzierung des Faches. Traditionell hat der Fokus der Germanistik in China auf der Literaturwissenschaft gelegen, wenngleich insgesamt auch diverse KollegInnen innerhalb der Sprachwissenschaft (vgl. hierzu den aufschlussreichen Text von Qi/Su 2017) sowie der Didaktik und Methodik des Deutschen als Fremdsprache forschen und lehren. Insgesamt kann man aber weiter von einer Schieflage zu Ungunsten v. a. der Linguistik sprechen, die an einigen Standorten vergleichsweise groß ausgebildet ist (wie z. B. an der Tongji-Universität), aber an einigen anderen Universitäten kaum bzw. gar nicht stattfindet. Die oft mit sehr guten Promotionen aus Deutschland zurückkehrenden jüngeren KollegInnen müssen in Richtung Wiedereingliederung in die chinesische Germanistik sehr mobil sein, da mitunter nicht unmittelbar Stellen frei sind, auf denen sie forschen und lehren können. Eine Organisation, die sich explizit um RückkehrerInnen aller Fachrichtungen kümmert, ist z. B. die SORSA (Shanghai Overseas Returned Scholars Association).[2] Bei KollegInnen, die nach erfolgreicher Promotion in den deutschsprachigen Ländern nach China zurückkehren, steht oft die Frage im Raum, wie sie mit Blick auf die Karriereplanung weiter verfahren sollen. Einerseits wird eine grundständige Promotion mit möglichst gut platzierter Publikation der Dissertation in China bisweilen mit einer Habilitation als äquivalent betrachtet, andererseits bringt die Postdoc-Phase vielleicht auch gerade wegen eines bis dahin sehr erfolgreichen Karriereweges Probleme mit sich. Es erschiene für jüngere KollegInnen besonders strategisch günstig, die Publikation einer zweiten deutschsprachigen Monographie anzustreben. Bisher tun dies zu wenige der betreffenden Personen; dies mag vielfältige Gründe haben und v. a. auf die hohe Lehrbelastung zurückzuführen sein, die erduldet werden muss. Ein solches zweites Publikationsvorhaben kann potenziell am besten gelingen, wenn geeignete Förderanträge längerfristige Forschungsaufenthalte im deutschsprachigen Raum ermöglichen, die sich idealerweise an die Promotionsphase anschließen. Oft ist es allerdings so, dass diverse Stipendien schon während der Arbeit an der Dissertation zum Einsatz kommen und adäquate Mittel für die Postdoc-Monographie nicht eingeworben werden, teils auch, weil u. U. das Heimweh zu groß ist oder chinesische Universitäten mit ersten Anstellungen locken. Entsprechend gibt es sehr wenige Beispiele für einen erfolgreichen so beschrittenen Weg: Die Dekanin der Deutschen Fakultät der Tongji-Universität, Jin Zhao, kann in diesem Kontext als Vertreterin der kleinen Gruppe von KollegInnen angeführt werden, die zwei allein autorierte in Deutschland publizierte Monographien vorweisen können (Zhao 2002, 2008). Diese Karriereplanung kann eine Vorbildfunktion erfüllen, damit die internationale Sichtbarkeit chinesischer KollegInnen in der Zukunft gesichert werden kann.

Abschließend möchte ich mich noch zu der immer wieder in den Raum gestellten These äußern, die deutschsprachige Sinologie und die chinesische Germanistik sollten enger zusammenarbeiten, um sich gegenseitig zu befruchten. Ich kann nicht für die deutschsprachige Sinologie Position beziehen und möchte dies auch nicht tun. Aus der chinesischen Germanistensicht heraus versuche ich abzuwägen, ob dies sinnvoll sein könnte: Im Bereich des Kulturvergleichs und der universitären Lehre in China[3] scheint mir eine solche Kollaboration durchaus angebracht, während im Sinne der modernen Binnendifferenzierung in Literaturwissenschaft und Linguistik im Bereich der Forschung vieles dagegen spricht. Die germanistische Literaturwissenschaft in China ist schon traditionell das größere der beiden Hauptgebiete. Berücksichtigt man die bereits oben gegebenen Hinweise zur Weiterqualifikation jüngerer KollegInnen, so finden sich m. E. zahlreiche potenzielle zukünftig erfolgreiche WissenschaftlerInnen aus dem Reich der Mitte, die einmal die derzeit etablierten Ordinarien ablösen können und werden. Hierzu braucht es Resilienz bei der Forcierung eigener Forschungsvorhaben, weniger Zusammenarbeit mit Sinologien/Sinologen aus dem deutschsprachigen Raum. Im Bereich der Linguistik erscheint der Gedanke ebenso widersinnig, hier müsste nach der Promotion (gleich ob in Deutschland oder China) eine stärkere Anbindung an im deutschsprachigen Raum vorherrschende Forschungstrends ermöglicht oder zumindest angestrebt werden, um eine nachhaltige Sichtbarkeit zu gewährleisten. Der eng mit der Wirtschaft verbundene Aufwärtstrend der chinesischen Germanistik wird sich zwangsläufig mit der Zeit verlangsamen. Bis dahin sollte sich das Fach weit genug v. a. in der Forschung emanzipiert haben, um dauerhaft seine Existenz zu rechtfertigen. Dazu kommt die Hoffnung auf ebenso stabile und freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland (sowie den anderen deutschsprachigen Ländern) und China, dessen immer einflussreichere Rolle langsam auch im Westen mehr in den (massenmedialen) Blick kommt, wie etwa das Titelbild des SPIEGEL (46/2017) mit der in gelben Lettern auf rotem Grund gedruckten Aufforderung xǐng lái! (Aufwachen!) vor Augen führte.

Über den Autor / die Autorin

Prof. Dr. Michael SZURAWITZKI

Dr. phil. habil., M. A. Promotion 2005, Habilitation 2011. Vertretungsprofessuren in Germanistischer Linguistik in Joensuu, Siegen, Duisburg-Essen, LMU München. 2014–2017 Ordentliche Professur (befristet) für Germanistische Linguistik an der Tongji-Universität Shanghai. 2017–18 W2-Professor (stv.) für Linguistik des Deutschen, Universität Hamburg. Seit 10/2018 W2-Professor (stv.), Germanistik/Linguistik, Universität Duisburg-Essen. Webseite: www.szurawitzki.de. Forschungsinteressen u. a. Fach- und Wissenschaftssprache Deutsch, Medienlinguistik, Kontrastive und Interkulturelle Linguistik.

Literatur

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Online erschienen: 2019-03-16
Erschienen im Druck: 2019-03-13

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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