Rezensierte Publikation:
Michael Wildt, Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918–1945. 2022 C. H. Beck München, 978-3-406-77660-1, € 32,–
Mit diesem Buch möchte Michael Wildt die etablierten Konventionen darüber, wie eine deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schreiben sei, beiseiteschieben. Er will nicht eine Geschichte im Kollektivsingular erzählen, „sondern Geschichten, die Dissonanzen sichtbar machen sollen“ (S. 16). In postmoderner Manier nimmt der Verfasser damit Abschied von den „großen Erzählungen“ (S. 15) und will stattdessen „ungewohnte, ungewöhnliche Perspektiven“ eröffnen (S. 17). Dies geschieht in zwölf Kapiteln, die nicht in chronologischer Form eine durchgehende Geschichte erzählen, sondern ein bestimmtes Jahr und das damit verbundene Thema schlaglichtartig beleuchten. Ein besonderes Anliegen von Wildt ist es, den zeitgenössischen Erwartungshorizont der Akteure in den „Mittelpunkt“ zu stellen und damit zugleich „Handlungsmöglichkeiten“ sichtbar zu machen (S. 12). Dafür hat er die Tagebücher ausgewählter Zeitgenossen ausgewertet. Mit ihren Notaten wiederkehrend zitierte Zeitzeugen sind die Hamburger Bürgersfrau Luise Solmitz, der katholische Gastwirt Matthias Joseph Mehs aus Wittlich, der jüdische Lehrer Willy Cohn aus Breslau und der Romanist Victor Klemperer.
Bei der Lektüre wird rasch deutlich, dass der Verfasser gerade das zweite Ziel nur punktuell einlösen kann. Das erste Kapitel liefert eine narrative Darstellung der Vorgeschichte der deutschen Kapitulation und der Anfänge der Revolution in Berlin. Tagebuchauszüge vor allem von Käthe Kollwitz und Harry Graf Kessler liefern zusammen mit anderen Zitaten atmosphärisch dichte Eindrücke des Geschehens vor Ort (S. 44 f., 55 f.). Aber sie erhellen nur ganz vereinzelt Wahrnehmungen (S. 35 f.) und bieten keinerlei Aufschluss über die gerade am Beispiel der Revolution in der Forschung intensiv diskutierten Handlungsspielräume und -alternativen. Im zweiten Kapitel über die Radikalisierung der Revolution in München und Budapest und den Versailler Vertrag stammen die atmosphärischen Eindrücke dann vor allem aus der – rückblickenden und literarisch stilisierten – Schrift „Wir sind Gefangene“ von Oskar Maria Graf (S. 74, 76, 84 f.). Im dritten Kapitel über Hyperinflation, Ruhrbesetzung und Putschversuche 1923 finden sich verschiedene Tagebuchnotizen über das rapide Steigen der Preise (S. 130–133), aber keine Erläuterung der Funktionsstörung des Geldmediums. Für die Analyse der politischen Folgen der Hyperinflation verlässt sich der Verfasser auf die rückblickenden Reflexionen von Sebastian Haffner aus dem Jahr 1939, der mechanistisch eine Kausalkette zum Aufstieg des Nationalsozialismus konstruierte (S. 142 f.). Damit werden kontingente Faktoren und Handlungsmöglichkeiten jedoch gerade aus der Analyse ausgeschlossen, nicht offengehalten. Die Kapitel 8, 10 und 11, in denen die Kriegsvorbereitung 1936 bzw. die NS-Vernichtungspolitik außerhalb der Reichsgrenzen im Mittelpunkt stehen, kommen praktisch ohne Tagebuchauszüge aus, da die genannten Zeitzeugen nicht vor Ort waren.
Wirklich weiterführend und analytisch erhellend ist die Benutzung der Tagebücher somit nur an zwei Punkten. Am Beispiel der Notizen und Reflexionen von Luise Solmitz werden die rassistischen Hassphantasien, Erlösungshoffnungen und politischen Perzeptionsmuster des nationalprotestantischen Lagers anschaulich (S. 103, 128, 140, 182 u. ö.). Im Kapitel zur NS-Machtergreifung 1933 steht Wittlich im Zentrum. Am Beispiel dieser Kleinstadt und der Tagebücher von Joseph Mehs werden die Dissonanzen zwischen katholischem Milieu und der von der NSDAP betriebenen Gleichschaltung deutlich, aber auch die eingeforderten Gesten der Anerkennung und symbolischen Teilhabe, mit denen die Nationalsozialisten mit einiger Verzögerung auch in der katholischen Provinz das äußerlich glatte Funktionieren der ideologisch überhöhten Volksgemeinschaft sicherstellten (S. 261–301).
Gerade weil der „Wille zum Fragment“ (S. 16) die Struktur des Bandes prägt, kommt der Auswahl der Themen besondere Bedeutung für dessen Ertrag zu. Hier bleibt der Eindruck zwiespältig. Ein Kapitel wie „1926 – Josephine Baker und People of Color in Deutschland“ (S. 187–217) scheint dem postkolonialen Zeitgeist geschuldet, bietet aber keine vertiefenden Einblicke in die deutsche Geschichte der Weimarer Zeit. Die vom Verfasser ausgeflaggte Begründung, anhand der Auftritte der international bekannten Tänzerin in Deutschland von 1926 bis 1928 das „komplexe Verhältnis weißer Europäer gegenüber Afrikanerinnen“ darzustellen (S. 189), kann nicht überzeugen, denn Josephine Baker stammt aus St. Louis in den USA. Das folgende Kapitel widmet sich der Angestelltenkultur und der „Neuen Frau“ der Zwanziger Jahre und springt von dort – eher unvermittelt – zu einer sehr holzschnittartig-knappen Schilderung der Ursachen des Aufstiegs der NSDAP zur nach Wählern stärksten deutschen Partei. Das Kapitel „Außenpolitik als Gesellschaftsausflug“ (S. 153–184) bietet eine faszinierende dichte Beschreibung der diplomatischen Interaktionen während der Konferenz von Locarno 1925, welche die europäische Friedenspolitik neu justierte. Doch was eine solche „Alltagsgeschichte der Diplomatie“ (S. 153) zum Verständnis der deutschen Außenpolitik jener Jahre beiträgt, bleibt unklar.
Klaren Fokus und analytischen Mehrwert bieten hingegen jene drei Kapitel, in denen Wildt die Verknüpfung von antijüdischer Politik und außenpolitischer Expansion an den drei Scharnierpunkten 1938, 1941 und 1943 beschreibt. Für das „Schicksalsjahr“ 1938 argumentiert Wildt, dass die außerordentliche Brutalität des Novemberpogroms im Zusammenhang der deutschen Außenpolitik zu verstehen ist, die gerade in diesem Jahr wichtige Schritte zur Vorbereitung eines europäischen Krieges unternahm. Die im Pogrom sichtbar werdenden Emotionen und Obsessionen seien als Versuch einer Schuldumkehr zu verstehen, welche die Verantwortung für den drohenden Krieg von den NS-Machthabern auf die unschuldige jüdische Minderheit abwälzte (S. 371). Im Kapitel über den Vernichtungskrieg 1941 zeigt der Verfasser, an die wichtige Studie von Christoph Mick anknüpfend, am Beispiel Lembergs auf, wie die deutsche Besatzungspolitik ethnische Spannungen in der multiethnischen Stadt freisetzte, die sich Ende Juni 1941 in einem Pogrom an der jüdischen Bevölkerung entluden (S. 399–405). Das Kapitel über den Holocaust (S. 425–466) bietet die zur Zeit vielleicht beste knappe Darstellung der Dynamik und des Vollzuges des deutschen Massenmords an den europäischen Juden, wobei neben den Erwartungen und Zielen der Täter und der Perzeption der deutschen Bevölkerung auch die Stimmen der Opfer angemessen zur Geltung kommen.
Doch die inhaltlich ergiebige Fokussierung der Darstellung auf die Dynamik der Verfolgung und Vernichtung der Juden in Deutschland und im besetzten Europa hat auch einen Preis. Von den insgesamt sechs der NS-Herrschaft gewidmeten Kapiteln befasst sich nur eines substanziell mit der Dynamik des nationalsozialistischen Projekts der Volksgemeinschaft, soweit diese nicht durch die Exklusion der Juden gezeigt wurde, nämlich das Kapitel zu Wittlich 1933. Warum aber die Deutschen mehrheitlich die seit 1933 betriebene Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft unterstützten; warum der seit 1939 gegen alle äußeren Widerstände als ein „deutscher Krieg“ (Nicholas Stargardt) geführte Waffengang bis in das Frühjahr 1945 hinein auf die Unterstützung der meisten Deutschen zählen konnte; mit welchen Mitteln und mit welchen Ergebnissen die NS-Führung Umbauten an den Strukturen, Institutionen und Funktionsbereichen der deutschen Gesellschaft vornahm – auf alle diese Fragen gibt das Buch von Michael Wildt keine Antwort.
Der Gesamteindruck bleibt damit zwiespältig. Das liegt nicht nur an der logischen Inkonsistenz des postmodernen Ansatzes, da der Abschied von der „großen Erzählung“ selbst eine „große Erzählung“ ist. Es liegt vor allem daran, dass Michael Wildt seinen eigenen Anspruch, durch die Benutzung von Tagebüchern den offenen Erwartungshorizont der Zeitgenossen zu betonen und damit die Kontingenz des historischen Prozesses deutlich zu machen, vom Material her und der Sache nach nur punktuell einlösen kann. Und es liegt an den Selektionskriterien des Verfassers, der die Dynamik der NS-Volksgemeinschaft von 1933 bis 1945 nur sehr ausschnitthaft und verkürzt behandelt. Das breite Lesepublikum, an das sich der flüssig geschriebene Band in erster Linie richtet, wird ihn trotz dieser Probleme mit Gewinn lesen. Aus Sicht der Fachwissenschaft ist zu betonen, dass die großen Fragen, welche die deutsche Geschichte und der Aufstieg des Nationalsozialismus seit 1919/20 stellen, weiterhin „große“ Antworten verlangen, die stärker systematisch angelegt sind, als es Michael Wildt in diesem Buch intendiert.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.
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- Jussi Backman / Antonio Cimino, Biopolitics and Ancient Thought. Oxford, Oxford University Press 2022
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- Robin Waterfield, The Making of a King. Antigonus Gonatas of Macedon and the Greeks. Oxford, Oxford University Press 2021
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- Paolo Cimadomo / Dario Nappo (Eds.), A Global Crisis? The Mediterranean World between the 3rd and the 5th Century CE. (Forma Aperta – Ricerche di storia, culture, religioni, vol. 3.) Rom, L’Erma di Bretschneider 2022
- David Alan Parnell, Belisarius & Antonina. Love and War in the Age of Justinian. Oxford, Oxford University Press 2023
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- Thomas Ertl / Thomas Frank / Samuel Nussbaum (Eds.), Busy Tenants. Peasant Land Markets in Central Europe (15th to 16th Century). (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beih. 253.) Stuttgart, Steiner 2021
- Andreea Badea / Bruno Boute / Birgit Emich (Eds.), Pathways through Early Modern Christianities. Köln, Böhlau 2023
- Ted McCormick, Human Empire. Mobility and Demographic Thought in the British Atlantic World, 1500–1800. (Ideas in Context.) Cambridge, Cambridge University Press 2022
- Arne Bugge Amundsen / Hallgeir Elstad / Tarald Rasmussen, Norwegian Epitaphs 1550–1700. Contexts and Interpretations. (Kunst und Konfession in der Frühen Neuzeit, Vol. 7.) Regensburg, Schnell & Steiner 2023
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- Simona Boscani Leoni / Sarah Baumgartner / Meike Knittel (Eds.), Connecting Territories. Exploring People and Nature, 1700–1850. Leiden, Brill 2022
- Bärbel Holtz / Wolfgang Neugebauer / Monika Wienfort (Hrsg.), Der preußische Hof und die Monarchien in Europa. Akteure, Modelle, Wahrnehmungen (1786–1918). Paderborn, Schöningh 2023
- Axel Koerner / Paulo M. Kuhl (Eds.), Italian Opera in Global and Transnational Perspective. Reimagining Italianità in the Long Nineteenth Century. Cambridge, Cambridge University Press 2022
- Leslie Butler, Consistent Democracy. The „Woman Question“ and Self-Government in Nineteenth-Century America. Oxford, Oxford University Press 2023
- Robert Shea Terrell, A Nation Fermented. Beer, Bavaria, and the Making of Modern Germany. Oxford, Oxford University Press 2023
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- Eva Zimmermann, Baden-Baden, Sommerhauptstadt Europas. Eine deutsch-französische Beziehungsgeschichte, 1840–1870. Heidelberg, Heidelberg University Publishing 2024
- Christina B. Carroll, The Politics of Imperial Memory in France, 1850–1900. Ithaca, NY, Cornell University Press 2022
- Owen Davies, Troubled by Faith. Insanity and the Supernatural in the Age of the Asylum. Oxford, Oxford University Press 2023
- William H. Chafe, Lifting the Chains. The Black Freedom Struggle since Reconstruction. Oxford, Oxford University Press 2023
- Ke-Chin Hsia, Victims’ State. War and Welfare in Austria, 1868–1925. Oxford, Oxford University Press 2022
- Ulrich Lappenküper / Wolfram Pyta (Hrsg.), Entscheidungskulturen in der Bismarck-Ära. (Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe, Bd. 32.) Leiden, Brill 2024
- Beate Althammer (Ed.), Citizenship, Migration and Social Rights. Historical Experiences from the 1870s to the 1970s. London, Routledge 2023
- Jürgen Kilian, Des Kaisers Gouverneure. Sozialprofil, Deutungsmuster und Praktiken einer kolonialen Positionselite, 1885–1914. (Global- und Kolonialgeschichte, Bd. 21.) Bielefeld, Transcript 2024
- Ernst Wolfgang Becker / Frank Bösch (Hrsg.), Partizipation per Post. Bürgerbriefe an Politiker in Diktatur und Demokratie. (Zeithistorische Impulse, Bd. 16.) Stuttgart, Steiner 2024
- Charles S. Maier, The Project-State and Its Rivals. A New History of the Twentieth and Twenty-First Centuries. London , Harvard University Press (London) 2023
- Christopher Dillon / Kim Wünschmann (Eds.), Living the German Revolution, 1918–19. Expectations, Experiences, Responses. (Studies of the German Historical Institute, London.) Oxford, Oxford University Press 2023
- Michael Wildt, Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918–1945. München, C. H. Beck 2022
- Laura Kelly, Contraception and Modern Ireland. A Social History, c. 1922–92. Cambridge, Cambridge University Press 2023
- Hans-Lukas Kieser, Nahostfriede ohne Demokratie. Der Vertrag von Lausanne und die Geburt der Türkei 1923. Zürich, Chronos 2023
- Martina Bitunjac, Verwicklung. Beteiligung. Unrecht. Frauen und die Ustaša-Bewegung. Berlin, Duncker & Humblot 2023
- Frank Nonnenmacher (Hrsg.), Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main, Campus 2024
- Jörg Osterloh / Jan Erik Schulte / Sybille Steinbacher (Hrsg.), „Euthanasie“-Verbrechen im besetzten Europa. Zur Dimension des nationalsozialistischen Massenmords. Göttingen, Wallstein 2022
- Richard Overy (Ed.), The Oxford History of World War II. Oxford, Oxford University Press 2023
- Aaron Donaghy, The Second Cold War. Carter, Reagan, and the Politics of Foreign Policy. (Cambridge Studies in US Foreign Relations.) Cambridge, Cambridge University Press 2023
- Monika Wienfort, Katholizismus im Kalten Krieg. Vertriebene in Königstein 1945–1996. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe C, Bd. 4.) Leiden, Brill 2023
- Stephanie Zloch, Das Wissen der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Bildung in Deutschland 1945–2000. (Moderne europäische Geschichte, Bd. 22.) Göttingen, Wallstein 2023
- Magnus Brechtken (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium. Göttingen, Wallstein 2021
- Xiaoping Fang, China and the Cholera Pandemic. Restructuring Society under Mao. Pittsburgh, PA, University of Pittsburgh Press 2021
- Martin Thomas / Gareth Curless (Eds.), The Oxford Handbook of Late Colonial Insurgencies and Counter-Insurgencies. (Oxford Handbooks.) Oxford, Oxford University Press 2023
- David Kynaston, A Northern Wind. Britain 1962–65. New York, Bloomsbury Academic 2023
- Galen Jackson, A Lost Peace. Great Power Politics and the Arab-Israeli Dispute, 1967–1979. (Cornell Studies in Security Affairs.) Ithaca, NY, Cornell University Press 2023
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