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Götter als Seelen? Ein Beitrag zum Verständnis von Numenios, Fr. 30 des Places

  • Benedikt Krämer EMAIL logo
Published/Copyright: August 1, 2022
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Abstract

The present paper deals with a syntactic ambiguity in Numenius’ Fr. 30, 9 and proposes a new reading. According to most scholars, in this fragment Numenius tries to identify Egyptian gods and human souls descending into generation. Instead, I argue that, since theology and psychology are different topics in Fr. 3, Numenius is rather talking about the interrelation of gods and souls in the process of metempsychosis.

Im Zuge seiner allegorischen Ausdeutung der von Homer beschriebenen ithakesischen Nymphengrotte (Od. 13, 102–112) macht Porphyrios an mehreren Stellen der Schrift De antro nympharum Gebrauch von Vorarbeiten der Mittelplatoniker Numenios und Kronios.[1] Numenios wird unter anderem in der Diskussion um die Frage herangezogen, warum Homer die Grotte als Heiligtum für eine bestimmte Art von Nymphen – nämlich Najadennymphen – konzipiere (De antro 10 S. 124, 153–126, 167 Dorandi = Numenios, Fr. 30).[2] Nach Porphyrios’ Auskunft hat sich Numenios dafür ausgesprochen, Najadennymphen als Entsprechung für in die materielle Welt absteigende Seelen zu verstehen. Die erklärenden, argumentativ äußerst gedrängten Zusätze für diese Deutung, die Porphyrios referiert, erwecken auf den ersten Blick allerdings den Eindruck einer recht kursorisch zusammengetragenen Anthologie aus diversen religiös-philosophischen Traditionen des Mittelmeerraums.[3] Als besonders heikel erscheint der Versuch, die genannte Interpretation mithilfe eines Spezifikums der ägyptischen Ikonographie zu fundieren. Dem Urteil Karin Alts zufolge verschreibt Numenios sich einer “absurde<n> Mißdeutung”, wenn er in diesem Zusammenhang in Fr. 30, 6–10 ägyptische Gottheiten, zuvörderst den Sonnengott Re, zu Entsprechungen für menschliche Seelen erklärt.[4] Dieses nach wie vor dominierende Verständnis der entsprechenden Passage[5] lässt den gedanklichen Duktus von Numenios’ Überlegungen trotz verschiedenen Erklärungsversuchen in der Tat noch immer ungereimt erscheinen. Es lädt daher zu einer neuerlichen Betrachtung der Passage ein, die womöglich zu einer günstigeren Einschätzung des Argumentationsganges führen kann.

Vorab sei der Kontext von Numenios, Fr. 30 in der Porphyriosschrift De antro skizziert: Porphyrios fragt zu Beginn seiner Untersuchung in einem ersten Schritt, ob die homerische Nymphengrotte ein realer Ort oder eine poetische Fiktion sei. Er gelangt im Anschluss an Kronios zu der Ansicht, dass Homer mithilfe seiner Beschreibung der Grotte “etwas auf allegorische Weise sagen und verrätselt andeuten” wollte (ἀλληγορεῖν τι καὶ αἰνίττεσθαι).[6] Um die allegorische Bedeutung der Höhle zu erschließen, referiert Porphyrios dann im Vorfeld des Fragments die reiche Tradition der Höhlensymbolik. Das “ewig fließende Wasser” (=die instabile Materie) im Inneren der Grotte (Od. 13, 109) wertet er als Indiz dafür, dass die Nymphengrotte als Symbol für den sinnlich wahrnehmbaren Kosmos fungiere (De antro 5–9). Die Struktur der Grotte und das Grotteninterieur wiederum dienen nach Porphyrios’ Verständnis dazu, das innerweltliche Metempsychosegeschehen zu verbildlichen. Mit dem Rekurs auf Numenios leitet Porphyrios in De antro 10 daraufhin die ausführliche Allegorese der in Homers Höhlenbeschreibung erwähnten Details ein – beginnend mit den als Seelen verstandenen Najadennymphen.

Bereits die erste Überlegung, die Numenios zur Begründung der Identifikation von Najadennymphen und Seelen anführt, bereitet erhebliche Deutungsschwierigkeiten: Eine nicht näher bestimmte Gruppe von Theologen und/oder Philosophen habe die Ansicht vertreten, in die Welt des Werdens herabgestiegene Seelen säßen “am gottbehauchten Wasser” (Fr. 30, 4: τῷ ὕδατι … θεοπνόῳ ὄντι).[7] “Deshalb” habe der Prophet (d.h. Moses [Gen 1, 2]) gesagt, Gottes Geist/Hauch schwebe über dem Wasser (Fr. 30, 6: ἐμφέρεσθαι ἐπάνω τοῦ ὕδατος θεοῦ πνεῦμα). Der Leser stößt hier sogleich auf mindestens drei Probleme: (a) Über welches Wasser spricht Numenios bzw. in welchem Sinn spricht er über Wasser? (b) Welches Sinnverhältnis und welche inhaltliche Bedeutung kommen dem prädikativen Ausdruck θεοπνόῳ ὄντι zu? (c) Wie genau eignet sich Numenios das leicht modifizierte Genesiszitat aus der Septuaginta an (ursprünglich: πνεῦμα θεοῦ ἐπεφέρετο ἐπάνω τοῦ ὕδατος)?

Angesichts der Kürze des Fragments lassen sich nicht alle diese Fragen mit letzter Sicherheit klären. Aber der Reihe nach zu den einzelnen Problemen und ihren Erklärungsmöglichkeiten: Wasser bzw. Feuchtigkeit im eigentlichen Sinne spielen im zweiten Teil des Fragments (Fr. 30, 10–17) eine wichtige Rolle (dazu unten). Wasser ist allerdings sowohl in der platonischen Tradition im Allgemeinen als auch bei Numenios (Fr. 33, 8–9) und in der unmittelbaren Umgebung in Porphyrios’ Schrift (De antro 10 S. 124, 147–151 Dorandi) im Speziellen ein beliebtes Symbol für die instabile Materie bzw. den ‘Fluss’ des Werdens in der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Gerade im Rahmen der einleitenden, sehr stark theologisch orientierten Diskussion (Fr. 30, 4.6: θεοπνόῳ … θεοῦ πνεῦμα) bietet es sich an, ein metaphorisches Verständnis von Wasser in Erwägung zu ziehen. Nach Numenios’ Vorstellung kommt es dem zweiten bzw. dritten Gott zu, der “fließenden” Materie eine gewisse Stabilität zu verleihen (Fr. 11, 13–16: συμφερόμενος δὲ τῇ ὕλῃ δυάδι οὔσῃ ἑνοῖ μὲν αὐτήν, σχίζεται δὲ ὑπ’ αὐτῆς, ἐπιθυμητικὸν ἦθος ἐχούσης καὶ ῥεούσης). Diese partielle Stabilität ermöglicht es den Seelen, innerhalb der materiellen Welt ebenfalls einen stabilen Sitz zu finden (Fr. 30, 3–4: προσιζάνειν). Die Seelen nehmen einen bestimmten materiellen Platz ein bzw. können sich überhaupt nur dort befinden, weil die Materie gottbehaucht ist. Der begründende Ausdruck θεοπνόῳ ὄντι bedeutet demnach eine basale Strukturiertheit der Materie und hängt mit der nachfolgenden Überlegung, in deren Zentrum das Genesiszitat steht, gedanklich eng zusammen.

Das Genesiszitat wiederum steht sowohl mit Numenios’ erstem Beleg als auch mit den darauffolgenden Ausführungen in Verbindung. Es erklärt bzw. bekräftigt, dass das zu Beginn genannte Wasser gottbehaucht (θεοπνόῳ) ist, weil ein göttlicher Hauch (πνεῦμα) über ihm schwebt. Numenios selbst verwendet den Terminus πνεῦμα nur hier. Daher ist es schwer zu sagen, ob er unter πνεῦμα θεοῦ eine Wirkung Gottes (welches Gottes?) versteht, oder ob die Formulierung als Periphrase für “Gott” verstanden werden darf. Die beanspruchte Erklärung (Fr. 30, 5: διὰ τοῦτο) für das Adjektiv θεοπνόῳ wird jedenfalls nur dann geleistet, wenn Numenios sich mit der Formulierung πνεῦμα θεοῦ auf ein wirkliches göttliches Prinzip bzw. dessen Wirkkraft bezieht.[8] Als weltgestaltendes Prinzip würde es sich bei diesem Gott im numenianischen System, wie schon gehört, um den demiurgischen (zweiten) Intellekt handeln. Anders als der Gott der Genesiserzählung darf Numenios’ Gott bei seiner stabilisierenden Tätigkeit aber nicht nur über dem Wasser schweben, sondern muss in das Wasser/die Materie hineinwirken, was wiederum das gegenüber der Genesiserzählung modifizierte Präfix in Numenios’ bemerkenswerter Formulierung “über dem Wasser im Wasser schweben” (ἐμφέρεσθαι ἐπάνω τοῦ ὕδατος) erklärt.[9] Diese Erklärung stimmt gut mit dem Numeniosfragment 50 zusammen, gemäß dem enkosmische Götter (κατευθύνοντες τὴν γένεσιν θεοί) der Substanz nach gegenüber der Materie transzendent bleiben (οὔτε τὴν οὐσίαν … συμμεμιγμένην), während ihre Wirkkräfte sich mit der Materie vermischen (τὰς δὲ δυνάμεις καὶ τὰς ἐνεργείας ἀναμεμιγμένας).

Die nachstehend thematisierten ägyptischen Gottheiten werden in Fr. 30 sodann mittels der koordinierenden Konjunktion τε und der begründenden Junktur διὰ τοῦτο funktional auf eine Ebene mit dem πνεῦμα θεοῦ der Genesiserzählung gestellt (Fr. 30, 5–7: … διὰ τοῦτο … τούς τε Αἰγυπτίους διὰ τοῦτο). Numenios thematisiert im Zuge des nächsten gedanklichen Schrittes nun den Umstand, dass Gottheiten in der ägyptischen Ikonographie auf Barken dargestellt werden. Dieses Spezifikum soll auf irgendeine Weise mit dem Abstieg der Seelen in Verbindung stehen. Im Zentrum der Deutung steht in diesem Zusammenhang die nachfolgende Passage:[10]

τούς τε

6

Αἰγυπτίους διὰ τοῦτο τοὺς δαίμονας ἅπαντας οὐχ ἱστά-

ναι ἐπὶ στερεοῦ, ἀλλὰ πάντας ἐπὶ πλοίου, καὶ τὸν Ἥλιον

καὶ ἁπλῶς πάντας· οὕστινας εἰδέναι χρὴ τὰς ψυχὰς

ἐπιποτωμένας τῷ ὑγρῷ τὰς εἰς γένεσιν κατιούσας·

10

Die Verständnisschwierigkeiten, die sich in den verschiedenen Übersetzungen der Passage spiegeln, resultieren aus mehreren syntaktischen Ambiguitäten. Probleme bereitet in dem zitierten Passus, den Porphyrios in der oratio obliqua wiedergibt, einerseits die Frage nach dem Bezugswort von οὕστινας, andererseits die Frage nach der syntaktischen Fortführung des Satzes im Anschluss an das verallgemeinernde Relativpronomen. Bisher sind in erster Linie zwei Deutungsmöglichkeiten des Relativsatzes ausführlicher diskutiert worden: (a) die Ägypter wissen, dass die in die sinnlich wahrnehmbare Welt herabsteigenden Seelen über dem Wasser schweben; (b) die ägyptischen Gottheiten sind/repräsentieren die in die sinnlich wahrnehmbare Welt herabsteigenden Seelen, die über dem Wasser schweben. Diese stark differierenden Verständnismöglichkeiten spiegeln die inhaltlich-syntaktischen Ambiguitäten bzw. die Deutungsprobleme des Relativsatzes eindrucksvoll wider.

Variante a) hat Serra (1993) 1154–1156 ausführlich verteidigt:[11] Das Pronomen οὕστινας bezöge sich demzufolge auf τοὺς Αἰγυπτίους. οὕστινας würde sodann als Subjektsakkusativ des von χρή regierten Akkusativ mit Infinitiv (εἰδέναι) fungieren, der in diesem Fall ein Akkusativobjekt mit prädikativem Partizip bei sich führt (τὰς ψυχὰς ἐπιποτωμένας). Gemäß dieser Deutung würde Numenios also anhand eines beliebten Motivs der ägyptischen Ikonographie folgern, dass die Ägypter die Vorstellung von über dem Wasser schwebenden Seelen kennen. Bedenklich (wenngleich nicht völlig ausgeschlossen) erscheint die Annahme eines weiten Hyperbatons von οὕστινας zu Αἰγυπτίους gegenüber dem möglichen Bezug auf das unmittelbar voranstehende Pronomen πάντας. Als gravierender Nachteil erweist sich sodann allerdings der Verlust eines gedanklichen Konnexes des Relativsatzes zum Vorsatz. Denn inwiefern könnte aus der religiösen Praktik der Ägypter, ihre Götter auf Barken darzustellen, erschlossen werden, dass sie um die über dem Wasser schwebenden Seelen wissen? Man wäre gezwungen, Numenios hier einen unvermittelten Sprung und eine ungelenke Übertragung einer bildlichen Komponente aus dem theologischen/religiös-ikonographischen in den psychologischen Bereich zu unterstellen.[12]

Variante (b) geht dagegen davon aus, dass οὕστινας auf πάντας, also die ägyptischen Gottheiten, zu beziehen sei. Im Relativsatz regiert χρή den unpersönlich gebrauchten Infinitiv εἰδέναι (“man muss wissen, dass”), an den sich sodann (elliptisch) ein kopulatives Partizip (ὄντας) mit dem Prädikatsnomen τὰς ψυχάς anschließt.

Gegen dieses etablierte Verständnis des Satzes sprechen folgende Erwägungen: Wie Numenios ausdrücklich sagt, handelt es sich bei den auf Barken dargestellten Entitäten um Gottheiten (δαίμονες). Es ist gänzlich unklar, wie unter dieser Prämisse die Identifikation der Gottheiten mit ins Werden herabsteigenden Seelen funktionieren kann, zumal Numenios in Abbreviatur eine Interpretatio Graeca vornimmt und den der Sache nach gemeinten ägyptischen Sonnengott Re mit Helios gleichsetzt.[13] Er rechnet also offenbar in diesem Punkt mit einer weitreichenden Übereinstimmung der ägyptischen und griechischen Göttervorstellungen.[14] Dass Numenios gerade den vornehmsten und der Idee des Guten “äußerst ähnlichen” Himmelsgott (Plat. Resp. VI 506e, 508a) als menschliche Seele verstanden haben könnte, ist vor dem vorauszusetzenden platonischen Hintergrund schwer zu glauben.[15]

Hinzu kommt, dass die von Numenios verwendete Schifffahrts-/Steuermannmetapher in platonischer Tradition eine durch den Weltaltermythos des Politikos (268d–274e; bes. 272e) geprägte theologische Metapher ist. Ein Blick auf Numenios, Fr. 18 zeigt, dass auch Numenios die Metapher in sein Bildinventar aufgenommen hat:[16] Der Mittelplatoniker bringt dort im gedanklichen Anschluss an den Politikos einen entsprechenden Vergleich zur Anwendung auf den Demiurgen. In Fr. 18 wird (anders als bei Platon) auch das Schiff (ναῦς) des göttlichen Steuermanns erwähnt, das, wie Baltes sicherlich mit Recht vermutet, hier die Distanz und Souveränität des Demiurgen gegenüber der Materie verbildlicht, die ihm bei seiner ordnungsstiftenden Funktion innerhalb der sinnlichen Welt zukommt.[17]

Weitere Bedenken gegen die Identifizierung von Göttern und Seelen bereitet in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Seelen in unmittelbarem Anschluss an Fr. 30, 6–10 mehrfach feucht/durchnässt (Fr. 30, 11: ὑγρῇσι, 14: [διερούς],[18] 15: διύγρους) genannt werden. Numenios rechnet in ganz platonischem Sinn damit, dass menschliche Seelen im Gegensatz zu den göttlichen Gestirnen vergleichsweise große Schwierigkeiten haben, ihre Souveränität gegenüber der Materie zu bewahren.[19] Dass der auf einer Barke positionierte Sonnengott in diesem Sinne durchnässt werden soll, passt schlecht ins Bild. Es liegt vielmehr nahe, dass Numenios das πλοῖον/ναῦς-Element als funktionales Analogon innerhalb seiner eigenen und der ägyptischen Verbildlichungen versteht. Denn Fr. 30 enthält wie gesehen neben dem verbindenden Bildelement auch den Gedanken der Ordnungsfunktion des Göttlichen.

Die thematische Verbindung von ordnungsstiftender göttlicher Kraft und dem Abstieg der Seele in die materielle Welt ist, wie man zusammenfassend feststellen kann, für den ersten Teil von Fr. 30 (1–10) zentral. In diesem Teil ließ sich im Zusammenhang mit den einleitenden Überlegungen ein vor dem platonischen Hintergrund des Numenios nicht ungewöhnlicher metaphorischer Gebrauch des Begriffsfeldes “Wasser” konstatieren. Der zweite Teil (Fr. 30, 10–17) ist dagegen durch eine funktionale Verschiebung des semantischen Feldes “Wasser”/“Feuchtigkeit” gekennzeichnet. Numenios behandelt in Fr. 30 nämlich, anders als es Porphyrios’ einleitende Bemerkung suggerieren könnte, nicht nur den Abstieg der Seele in die Welt des Werdens ohne weitere Qualifizierungen (Fr. 30, 2–3: εἰς γένεσιν κατιούσας). Es geht ihm auch um die bevorzugte ontologische Affinität der Seele zu Wasser bzw. Feuchtem, die in Numenios’ Psychologie aber auch bei Porphyrios sowohl für die Beseelung von Embryonen als auch für die Verbindung der inkorporierten Seele mit dem Körper eine wichtige Rolle spielt.[20] Man wird also eine Engführung der in platonischer Tradition beliebten Wassermetaphorik (=der fließenden Materie), die für den Gedanken der Gestaltung der Materie durch den Demiurgen einschlägig ist, und einer von jeglicher Metaphorizität freien argumentativen Relevanz des aktualen Wassers konstatieren dürfen. Diese gedankliche Doppelung hat auch in den Interpretationen der Passage zu gewissen Divergenzen geführt.[21] Gerade aufgrund ihrer Neigung zum aktualen feuchten Element sind aber die herabsteigenden Seelen als Najaden und nicht als Oreaden oder dergleichen zu denken, wie aus Porphyrios an das Fragment anschließenden Erklärungen noch wesentlich deutlicher hervorgeht.[22]

Die bisherigen Vorüberlegungen führen auf eine dritte Möglichkeit hin, den Satz Fr. 30, 6–10 zu verstehen:[23] Als inhaltlicher Bezug von οὕστινας fungiert πάντας – so wie es auch die Satzstellung nahelegt. Die Konstruktion innerhalb des Relativsatzes ist ein Akkusativ mit Infinitiv und persönlich gebrauchtem Infinitiv εἰδέναι. Subjektsakkusativ sind die Götter (οὕστινας), Akkusativobjekt zu εἰδέναι mit partizipialer Erweiterung die Seelen (τὰς ψυχάς)[24] – siehe unten für eine vollständige Übersetzung des Fragments, dass die basierend auf diesen syntaktischen Erwägungen.[25] Fr. 30, 6–10 besagt demnach, dass Helios und alle anderen auf Barken dargestellten Gottheiten Kenntnis der auf dem Wasser schwebenden Seelen haben (müssen). Die Bezeichnung δαίμων ist insofern passend gewählt, als Helios als Gestirngott ein kosmischer Gott, also nach Numenios kein Gott im ausgezeichneten Sinn ist. Es verwundert ebenfalls nicht, dass den kosmischen Gottheiten nach Numenios’ Ansicht ein Wissen um die innerkosmischen Prozesse und eine strukturierende Funktion zukommen. Die beiden Aspekte können den Planetengöttern in mittelplatonischer Tradition mit vollem Recht zugeschrieben werden.[26]

Eine abschließende Überlegung zugunsten der vorgeschlagenen Übersetzung lässt sich mit Blick auf die thematisch an Fr. 30 angrenzenden Numeniosfragmente anstellen: Dass die ägyptische Ikonographie das Symbol der Barke insbesondere mit dem Sonnengott Re verbindet, dürfte für Numenios ein willkommener Hinweis auf die Übereinstimmung mit der eigenen Deutung gewesen sein, in der gerade Helios eine wichtige Rolle spielt. Bekanntlich verfassten bereits Numenios und Kronios allegorische Schriften zur Deutung der homerischen Nymphengrotte. Die beiden Mittelplatoniker verstanden die Nymphengrotte ebenso wie nach ihnen Porphyrios als “Bild und Symbol des Kosmos” (Fr. 31, 1: εἰκόνα καὶ σύμβολον … τοῦ κόσμου).[27] Eine nachdrückliche Bedeutung kommt im Rahmen ihrer Allegorese der Verbindung des sinnlichen mit dem intelligiblen Kosmos und den wechselseitigen Durchgangsmöglichkeiten innerhalb der komplexen Metempsychoseprozesse zu.[28] Homer scheint das Thema – setzt man die Identifikation der Nymphengrotte mit dem sinnlichen Kosmos voraus – in verrätselter Form durch die Erwähnung von zwei Höhlenöffnungen zur Sprache zu bringen (Od. 13, 109–112). Diese beiden Öffnungen identifiziert Numenios nach dem exegetischen Prinzip Homerus ex Homero mit den andernorts erwähnten (Od. 24, 12) “Toren der Sonne” (Fr. 31, 1–6; Fr. 32, 1–2: Ἡλίου πύλας). Numenios’ Deutung zufolge entsprechen die Höhlenöffnungen dem nördlichen und südlichen Wendekreis der Sonne und den Wendepunkten der Sonne in den Tierkreiszeichen Krebs und Steinbock. Sie fungieren als Ausgangs-bzw. Zielpunkt der ab-und aufsteigenden Seelen. Kein Planetengott wird im Rahmen von Numenios’ astrologischen Ausführungen (soweit dies die Fragmente erkennen lassen) so oft genannt wie Helios. Mit einigem Recht greift Numenios daher in Fr. 30 aus argumentationslogischen Gründen Helios als prominentesten Vertreter der Planetengötter auf, die in das Metempsychosegeschehen involviert sind, und daher die Seelen kennen.

Im Ergebnis hat die vorliegende Betrachtung – so ist zu hoffen – in zweifacher Hinsicht zu einem verbesserten Verständnis von Fr. 30 beigetragen. Sie bietet erstens eine möglichst unprätentiöse Lösung für die syntaktischen Ambiguitäten von Fr. 30, 6–10 an, die keine syntaktisch oder semantisch problembehafteten Zusatzannahmen machen muss. Sie trägt auf diese Weise zweitens zu einem deutlicheren Bild der Funktion des Rekurses auf die ägyptischen Gottheiten in Fr. 30 und somit auch zu einer Erhellung der Argumentationsstruktur des Fragments bei. Eine stärkere Differenzierung wurde im Rahmen der Argumentation zudem hinsichtlich (a) der Engführung des metaphorischen und eigentlichen Gebrauchs der Wasservorstellung sowie (b) der thematischen Verbindung des Seelenabstiegs mit der strukturstiftenden Funktion göttlicher Akteure erreicht. Von dem Vorwurf einer absurden Missdeutung ist Numenios freizusprechen.

Folgender Übersetzungsvorschlag ergibt sich aus den Überlegungen:

Νύμφας δὲ ναΐδας λέγομεν καὶ τὰς τῶν ὑδάτων προεστώ-

σας δυνάμεις ἰδίως, ἔλεγον δὲ καὶ τὰς εἰς γένεσιν κατ-

ιούσας ψυχὰς κοινῶς ἁπάσας. ἡγοῦντο γὰρ προσιζά-

νειν τῷ ὕδατι τὰς ψυχὰς θεοπνόῳ ὄντι, ὥς φησιν ὁ Νου-

μήνιος, διὰ τοῦτο λέγων καὶ τὸν προφήτην εἰρηκέναι

5

ἐμφέρεσθαι ἐπάνω τοῦ ὕδατος θεοῦ πνεῦμα· τούς τε

Αἰγυπτίους διὰ τοῦτο τοὺς δαίμονας ἅπαντας οὐχ ἱστά-

ναι ἐπὶ στερεοῦ, ἀλλὰ πάντας ἐπὶ πλοίου, καὶ τὸν Ἥλιον

καὶ ἁπλῶς πάντας, οὕστινας εἰδέναι χρὴ τὰς ψυχὰς

ἐπιποτωμένας τῷ ὑγρῷ τὰς εἰς γένεσιν κατιούσας· ὅθεν

10

καὶ Ἡράκλειτον ψυχῇσι φάναι τέρψιν μὴ θάνατον ὑγρῇσι

γενέσθαι, τέρψιν δ’ εἶναι αὐταῖς τὴν εἰς γένεσιν πτῶσιν,

καὶ ἀλλαχοῦ δὲ φάναι ζῆν ἡμᾶς τὸν ἐκείνων θάνατον

καὶ ζῆν ἐκείνας τὸν ἡμέτερον θάνατον· παρὸ καὶ διεροὺς

τοὺς ἐν γενέσει ὄντας καλεῖν τὸν ποιητὴν τοὺς διύγρους

15

τὰς ψυχὰς ἔχοντας. αἷμά τε γὰρ ταύταις καὶ ὁ δίυγρος

γόνος φίλος, ταῖς δὲ τῶν φυτῶν τροφὴ τὸ ὕδωρ.

Najadennymphen nennen wir speziell auch die über das Wasser herrschenden Kräfte; so nannte man aber auch allgemein alle Seelen, die ins Werden absteigen. Denn man glaubte, dass die Seelen am Wasser säßen, weil es gottbehaucht ist, wie (5) Numenios sagt, und er meint, dass der Prophet deswegen gesagt habe, der Geist Gottes schwebe über dem Wasser, und dass die Ägypter deswegen alle Gottheiten nicht auf festes Land, sondern auf ein Boot stellen, sowohl Helios als auch überhaupt alle Gottheiten, die wissen müssen, dass die Seelen, die in die Welt des Werdens hinabsteigen, (10) auf dem Wasser schweben. Daher sage Heraklit, für die Seelen bedeute es Vergnügen, nicht Tod, feucht zu werden. Das Vergnügen aber sei für sie der Sturz ins Werden; andernorts sage er, dass wir ihren Tod lebten und sie unseren Tod. Daher nenne der Dichter (15) die in der Welt des Werdens befindlichen Menschen auch feucht, da sie nasse Seelen haben; denn Blut ist ihnen lieb und der nasse Samen, die Pflanzenseelen aber haben Wasser als Nahrung.


Corresponding author: Benedikt Krämer, Institut für Klassische Philologie, Universität Münster, Münster, Germany, E-mail:

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Online erschienen: 2022-08-01
Erschienen im Druck: 2022-08-26

© 2022 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston

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